Kürzlich wurde bekannt, dass alleine am Montag 16. März 2020, also noch bevor der weitreichende Shutdown des öffentlichen Lebens durch den Schweizer Bundesrat verkündet wurde, im Kanton Zürich über 800 Neuanmeldungen auf den Regionalen Arbeitsvermittlungsstellen (RAV) vorgenommen wurden. Es zeigt sich also bereits jetzt, dass die Kosten der Corona-Krise auf die Lohnabhängigen abgewälzt werden.
von Sarah Friedli (BFS Jugend Zürich) und Matthias Kern (BFS Zürich)
Vor allem Lohnabhängige im Stundenlohn sind von den aktuellen, sehr kurzfristigen Entlassungen betroffen. Gerade im Gastronomie-Bereich sind diese Anstellungsformen die Norm und die aktuelle Schliessung der Restaurants, Bars und Clubs führt offensichtlich dazu, dass die Gastro-Unternehmen ihre Mitarbeitenden in die Arbeitslosigkeit schicken.
Alleine im Kanton Zürich sind die Arbeitslosenzahlen dadurch innerhalb eines Tages um ganze vier Prozent (!) angestiegen. In den nächsten Tagen dürfte sich diese Situation noch gravierend verschärfen. Zu erwarten ist, dass es zu hunderten weiteren Entlassungen kommen wird.
Gewinne werden privatisiert, die Krise sozialisiert
Unternehmen, die während der beispiellosen Aufschwungsphase der letzten 10 Jahre Gewinne eingestrichen und von den prekären Arbeitsbedingungen profitiert haben, haben nun in der Krise keine Skrupel, auch nur einen Tag zu warten ihre Angestellten zu entlassen.
Dass ein solches Vorgehen überhaupt möglich ist, ist eine direkte Folge von den in den letzten Jahren stark gewachsenen befristeten, unsicheren und prekären Arbeitsverhältnissen in vielen Branchen. Und dabei geht es längst nicht nur um grosse Unternehmen. In vielen Wirtschaftsbereichen sind mittlerweile Schein-Selbständigkeiten, Null-Prozent-Anstellungen und temporäre Arbeitsverhältnisse gang und gäbe. Die Krise trifft alle jene, die in solchen Verhältnissen arbeiten, bereits jetzt mit voller Härte. Ihnen fehlen Lohn und Perspektive.
Ausserdem waren es auch nicht nur grosse Unternehmen und internationale Konzerne, die in der schrittweisen Aushöhlung der Arbeiter*innenrechte und der staatlichen Auffangnetze eine wichtige Rolle spielten. Gerade der Schweizerische Gewerbeverband (SGV), der sich rühmt, die KMU zu vertreten, war oftmals am lautesten zu hören, wenn es um Steuersenkungen, um Aushöhlung des Arbeitsschutzes, um Flexibilisierung von Arbeitszeiten und Anstellungsbedingungen ging. Dieselben Leute schreien jetzt nach dem Staat für Finanzspritzen, entlassen gleichzeitig ihre Angestellten und machen deutlich, dass aus ihrer Sicht keine Lohnfortzahlung gewährt werden muss, wenn bspw. Eltern ihre gesunden Kinder zu Hause betreuen müssen oder Angestellte „aus Angst vor Ansteckung“ nicht am Arbeitsplatz erscheinen.
Absurde Situation auf dem RAV
Die Arbeiter*innen werden also gerade massenhaft entlassen. Aber immerhin fängt der Staat in dieser aussergewöhnlichen Krisensituation das auf, oder? Mitnichten. Die Abschiebung der Verantwortung an die Arbeitslosenkassen bedeutet nicht nur eine Vereinzelung der Betroffenen, sondern auch weitere Schikanen und Stress. Eine Betroffene erzählt:
„Als ich gestern die Nachricht von meinem Chef erhalten habe, dass sich unser ganzes Bar-Team beim RAV anmelden soll, weil sie keine Kurzarbeit beantragen, war ich zuerst einmal nur wütend. Zum Teil jahrelang, zum Teil seit einigen Monaten waren wir auf Stundenlohn angestellt, dabei alle ohne schriftlichen Vertrag. Diejenigen, die einen Vertrag wollten, wurden vertröstet. Nun kommt also die Nachricht der Chefs, sie würden keine Kurzarbeit beantragen und zwar ohne jegliche Begründung. Stattdessen würden sie uns „empfehlen“ uns beim RAV zu melden – also eine faktische Kündigung.
Gleichzeitig versicherten sie uns aber, sie würden uns alle gerne nach der Krise weiterbeschäftigen, wir sollen uns daher keine neuen Stellen suchen – eine absolute Frechheit, dass sie sich jetzt einfach absichern wollen, dass sie weiterhin Personal haben, falls es dann wieder läuft. Einen Tag später habe ich dann also beim RAV angerufen und die Situation wurde noch absurder. Beim RAV wurde mir gesagt, ich könne mich telefonisch anmelden. Ob ich dazu einen Vertrag brauche, wusste die Beraterin gerade nicht, es hätten sich eben viele Dinge kurzfristig geändert und im Notfall müsse ich dann halt nochmal kurz mit meinem Chef sprechen. Wenn diese Hürde dann geschafft wäre, wäre meine Anmeldung sowieso erst mal nur eine Absicherung. Damit ich dann Geld beziehen könnte, müsste dann zuerst mein Geltungsanspruch ausgerechnet werden.
Niemand weiss so genau, wie lange das geht, wenn sich momentan pro Tag hunderte Menschen neu auf dem RAV melden. Ich bekomme aber von meinem Chef nur noch die Stunden bezahlt, die eh schon auf dem Arbeitsplan für März eingeteilt sind. Ab April stehe ich dann also ohne Einkommen da. Und das geht vielen Menschen in der Gastronomie so, wo die Arbeitspläne oft sehr kurzfristig gemacht werden. Während das Gespräch mit der Beraterin des RAV weiterging, erklärte sie mir, dass nach einer Anmeldung bei ihnen die Notwendigkeit Bewerbungen zu schreiben natürlich weiterhin bestehe. Es sei zwar gelockert worden. Neu müssten „nur“ noch 5-6 Bewerbungen pro Monat geschrieben werden und es zählten auch Stellen, die auf Stundenlohn oder befristet ausgeschrieben sind.
Fast hätte ich laut herausgelacht: In dem Moment, wo unzählige Betriebe im Gastro und anderen Bereichen ihre Angestellten entlassen und sicher niemanden einstellen, soll ich als Gastroarbeitende Bewerbungen schreiben. Dies könnte eine Parodie auf die Bürokratie sein, wäre es nicht meine bittere Realität. Und es geht hunderten Gastroarbeitenden gerade genau gleich.“
Aufruf
Wir werden in den kommenden Tagen und Wochen weiter über die Situation an den Arbeitsplätzen und die Abwälzung der Krise auf die Lohnabhängigen berichten. Wenn du uns deine Erfahrungen in irgendeiner Form (anonym, schriftlich oder mündlich) mitteilen möchtest, dann nimm Kontakt mit uns auf (info@bfs-zh.ch). Wir möchten dabei helfen, dass die erlebten Erfahrungen nicht individualisiert verarbeitet werden müssen, sondern dass sie einem breiteren Publikum, das möglicherweise Ähnliches durchmacht, zugänglich werden.
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