Die Arbeiter:innenklasse war im 20. Jahrhundert unbestritten das zentrale Subjekt jeder sozialistischen Umgestaltung des Kapitalismus. Die Fragmentierung dieser Klasse durch die Globalisierung, die neoliberale Umgestaltung der Gesellschaft und die damit verbundene Individualisierung der Lohnabhängigen stellen die Linke im 21. Jahrhundert vor neue strategische Herausforderungen. Wer ist die Arbeiter:innenklasse heute und welche Rolle kommt ihr bei der Neudefinierung eines sozialistischen Projektes zu? (Red.)
von Kim Moody; aus newpol.org
Die Arbeiter:innenklasse des 21. Jahrhunderts ist eine Klasse in der Entstehung, wie man es in einer Welt erwarten würde, in der der Kapitalismus erst vor kurzem universal geworden ist.[1] Die treibenden Kräfte hinter dieser Dynamik waren die ungleichmäßige Globalisierung des Kapitalismus mit dem gleichzeitigen Aufstieg der multinationalen Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg; die sinkende Profitrate seit den späten 1960er Jahren, die regelmässig wiederkehrende Krisen produzierte; die marktwirtschaftliche «Öffnung» der ehemaligen bürokratischen «kommunistischen» Volkswirtschaften für den Kapitalismus; und in jüngerer Zeit die Vertiefung der globalen Wertschöpfungsketten [die Forschung zu den Global Value Chains oder GVC geht der Frage nach, welche Zwischenstationen die meist im Globalen Süden produzierten Waren auf ihrem Weg in den Globalen Norden durchlaufen. Konkret wird gefragt, wie Waren durch die jeweiligen Herstellungsstufen (z.B. Rohstofferzeugung, Entkörnung, Spinnerei, Weberei, Veredelung, Konfektionierung, Handel) an verschiedenen Orten Wert hinzugefügt wird, und wie die multinationalen Konzerne des Nordens durch die Kontrolle dieser Arbeitswertketten den Globalen Süden ausbeuten; Anm. d. Red.].
Wachstum der lohnabhängigen Erwerbsbevölkerung
Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wuchs die Zahl der Erwerbstätigen weltweit von 2000 bis 2019 um 25%. Die Zahl der Lohnabhängigen stieg in diesen ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts von 2,6 Milliarden auf 3,3 Milliarden an, ebenfalls um 25%. Etwa zwei Drittel, oder etwas mehr als 2 Milliarden, davon können zur Arbeiter:innenklasse gezählt werden (die restlichen 1,3 Milliarden Lohnabhängigen sind angestellte Fachkräfte oder Manager verschiedener Art, Kleinunternehmer:innen und so weiter).
Diese Arbeiter:innen sind jedoch nicht nur Lohnempfänger:innen. Viele arbeiten „auf eigene Rechnung“ oder gelten als Selbstständige und sind in Wirklichkeit durch die nationalen und globalen Wertschöpfungs- oder Lieferketten, die das kapitalistische Wachstum seit einiger Zeit kennzeichnen, in die Beziehung zwischen Kapital und Arbeit eingebunden. «Selbstständige» werden von Unternehmen oft einfach als solche eingestuft, um Steuern, Sozialleistungen und Haftung dieser Arbeiter:innen zu umgehen. Zudem sind Frauen sehr viel häufiger informell beschäftigt als Männer.
Wertschöpfungsketten
Die konzerndominierten Lieferketten verbinden nicht nur die Volkswirtschaften des Globalen Südens mit den multinationalen Konzernen im Norden [unter Lieferketten versteht man die Bewegung des physischen Produkts in der Welt, während Wertschöpfungsketten den Wertzuwachs an jedem Produktionsknotenpunkt bezeichnen; Anm. d. Red]. Sie reorganisieren zudem lokale Ökonomien und Belegschaften, um sie an den Bedürfnissen der Unternehmen auszurichten. Selbst wenn die Mehrheit der Arbeiter:innen in einem Land nicht direkt mit der Wertschöpfungskette eines Unternehmens verbunden ist, werden das Niveau der Informalität, die Löhne, das Arbeitstempo und das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern für die meisten Arbeiter:innen durch die Dynamik und das Tempo der multinationalen Unternehmen bestimmt.
In Indien zum Beispiel hat das Wachstum der kapitalistischen Produktion den informellen Sektor vergrössert, weil es billiger ist, Rohstoffe von ehemals kleinen Warenproduzent:innen zu beziehen und mit Heimarbeiter:innen zu handeln, wo die Frauen sowohl (schlecht) bezahlte Arbeit als auch die unbezahlte Arbeit der Reproduktion bieten, was wiederum die Kosten für jede:n Arbeiter:in reduziert. Weit davon entfernt, «vorkapitalistisch» zu sein, ist solche informelle Beschäftigung gerade ein Produkt des sich universalisierenden Kapitalismus.
Neuzusammensetzung der globalen Arbeiter:innenklasse
Bei der Betrachtung der Neuzusammensetzung der Arbeiter:innenklasse in den entwickelten Ländern wird häufig auf den Anstieg des Dienstleistungssektors und den Rückgang der Warenproduktion verwiesen und angenommen, dass dies auf eine Verringerung der Arbeiter:innenklasse hinausläuft. Tatsächlich ist die Trennung der beiden Sektoren weitgehend eine Verschleierung dessen, wie Wert von der globalen Arbeiter:innenklasse im heutigen Kapitalismus geschaffen wird. Auch die Dienstleistungsproduktion wird zunehmend von riesigen Konzernen dominiert und ist in die globalen Wertschöpfungsketten involviert, wobei ihr Anteil am wertschöpfenden Handel von 31% im Jahr 1980 auf 43% im Jahr 2009 gestiegen ist. Es ist wichtig zu bedenken, dass die Erbringung von Dienstleistungen für die Warenproduktion unabdingbar ist und umgekehrt. Es gibt keine Dienstleistungen, die ohne «Dinge» erbracht werden, und es gibt keine Güter, die ohne den Input von «Dienstleistungen» produziert werden. Die Arbeit, die in beidem steckt, ist dazu da, Mehrwert zu produzieren bzw. zu zirkulieren. Der Gebrauchswert der damit produzierten Waren ist sekundär. Während die weltweite Beschäftigung im Dienstleistungssektor in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts um 61% gewachsen ist, ist die globale Industriearbeiter:innenklasse um 40% gewachsen.
Entgegen der Vorstellung einer „postindustriellen“ Wirtschaft, stieg also die Zahl der industriellen Arbeitskräfte (verarbeitendes Gewerbe, Baugewerbe und Bergbau) zwischen 2000 und 2019 von 536 Millionen auf 755 Millionen. Darin nicht enthalten sind Arbeiter:innen in den Bereichen Transport, Kommunikation und Versorgung, die ebenfalls für die Produktion von Gütern unerlässlich sind und 2019 weitere 226 Millionen Lohnabhängige ausmachten. Insgesamt machte dieser industrielle „Kern“ 41 % der weltweiten nicht-landwirtschaftlichen Arbeitskräfte im Jahr 2019 aus.
Die Geographie der Ungleichheit
Das Wachstum der globalen Produktion und damit auch der Arbeitskräfte ist jedoch nicht gleichmässig über die Welt verteilt. Während die Industrieländer immer noch den grössten Anteil an der Wertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes produzieren, haben die Entwicklungsländer ihren Anteil von 18% im Jahr 1990 auf rund 40% im Jahr 2019 gesteigert. Im selben Zeitraum aber ist der Anteil der Industrieländer von 79% auf 55% gesunken ist. Allein der Anteil Chinas ist von etwa 5% der weltweiten Wertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes im Jahr 2000 auf 20% im Jahr 2018 gewachsen.
Gleichzeitig haben Vertreibungen und Enteignungen eine wachsende internationale Migrationsbevölkerung hervorgebracht. Die Zahl der Menschen, die ausserhalb ihres Herkunftslandes leben, ist von 173’588’441 im Jahr 2000 auf 271’642’105 im Jahr 2019 gestiegen, ein Anstieg um 57%. Etwa 111 Millionen Menschen werden von der Internationalen Organisation für Migration als Arbeitsmigrant:innen eingestuft, die 2018 689 Milliarden US-Dollar an Rücküberweisungen nach Hause schickten.
Das Kapital als Ganzes hat geografische Veränderungen, technologische Fortschritte, die Reorganisation der Produktion und der Arbeitsprozesse und sogar systemische Krisen (wie 2007/08) gut überstanden. Der Anteil des Arbeitseinkommens am BIP ist seit Mitte der 1970er Jahre gesunken. Infolgedessen hat sich der Kapitalanteil erhöht [die Profite und Vermögen der Kapitalist:innen sind gestiegen; Anm. d. Red.]. So ist beispielsweise der Anteil der reichsten 10% am Volkseinkommen in allen großen Volkswirtschaften gestiegen, während derjenige der ärmsten 50% gesunken ist.
Armut ist nach wie vor ein zentrales Kennzeichen der Arbeiter:innenklasse in den Entwicklungsländern. Ihre angebliche Reduzierung bis 2019 ist weitgehend durch die Manipulation der Armutsdefinition erreicht worden [und schliesslich hat die Coronapandemie diese Entwicklung wieder umgekehrt; Anm. d. Red.].
Ein Grossteil dieser zunehmenden Ungleichheit war auf den relativen Niedergang der Gewerkschaften, Stagnation der Löhne, den anhaltenden Produktivitätsanstieg im verarbeitenden Gewerbe auf der ganzen Welt und die zunehmende Eingliederung von formellen und informellen Niedriglohnarbeiter:innen in die Wertschöpfungsketten zurückzuführen. Diese Trends haben überall zu höheren Ausbeutungsraten beigetragen.
Technologie und Kontrolle der Arbeit
Für Hunderte Millionen von Arbeiter:innen auf der ganzen Welt ist Arbeit nach wie vor in erster Linie eine anstrengende körperliche Arbeit, die scheinbar weit entfernt ist vom Hightech-Regime der Automatisierung und des digitalen Managements, das die Arbeit intensiviert hat.
Was sich in der Natur der Arbeit in den letzten zwei Jahrzehnten am meisten verändert hat, ist das Ausmass, die Durchdringung und die Anwendung digitaler Technologien, die die Arbeit von Einzelpersonen und Gruppen überwachen, quantifizieren, standardisieren, modulieren, verfolgen und steuern. Diese gehen über das tayloristische Bestreben hinaus, individuelle und kollektive Arbeit zu quantifizieren, zu fragmentieren, zu standardisieren und damit zu kontrollieren, unabhängig davon, welches Produkt oder welche Dienstleistung sie hervorbringt.
Die Digitalisierung vieler arbeitsbezogener Technologien bedeutet, dass Arbeit in Nanosekunden gemessen und heruntergebrochen werden kann, im Gegensatz zu den Taylorschen Minuten und Sekunden. Es bedeutet auch, dass jeder Aspekt der Arbeit quantifiziert wird.
All dies gilt für Dienstleistungen, die sich bereits im 20. Jahrhundert von häuslichen Dienstleistungen und Arbeiten durch lokale Händler:innen oder kleinen Firmen zu Grossunternehmensdienstleistungen gewandelt haben, dann nach dem Prinzip der Kostenoptimierung reorganisiert wurden und nun digital gesteuert werden – von Call-Centern über Hotels bis hin zur Gebäudewartung. Die heutigen digitalen Massnahmen gelten auch für die professionelle Arbeit in Bereichen wie dem Gesundheitswesen und der Bildung. Daten werden von Arbeiter:innen gesammelt und dann gegen sie verwendet. So werden etwa Lehrpersonen an den Noten der Schüler:innen (angeblich das Produkt der Lehrer:innen) in standardisierten Tests gemessen, die auf „standardisiertem Wissen“ basieren, und Lehr-Lernprozesse werden auf „teaching to test“ reduziert. Inzwischen können Pfleger:innen im Krankenhaus per GPS geortet und von algorithmischen Clinical Decision Support Systems geleitet werden, welche Standardbehandlungen empfehlen. Oder, in beiden Fällen, können sie durch weniger qualifizierte, weniger teure Arbeiter:innen ersetzt werden, die diese standardisierten Aufgaben ausführen.
Da es sich dabei meist um weibliche Arbeitskräfte handelt, die «emotionale Arbeit» verrichten, wird der emotionale Inhalt der Arbeit als ein uneingestandenes Gratisgeschenk für das Kapital betrachtet – der unbezahlte Aspekt der sozialen Reproduktionsarbeit, die am Arbeitsplatz im Lohnverhältnis und nicht zu Hause verrichtet wird [soziale Tätigkeiten werden insbesondere von Frauen als Selbstverständlichkeit des weiblichen Wesens, nicht als eigentliche Arbeit wahrgenommen; Anm. d. Red.].
Amazon ist das meistzitierte Beispiel für digital gesteuerte Arbeiter:innen. Eine aktuelle Studie über ein Amazon-Verteilzentrum in Kalifornien beschreibt den Kontext, in dem die Beschäftigten arbeiten. Jason Struna und Ellen Reese schreiben in ‘Automation and the Surveillance-Driven Warehouse in Inland Southern California’: «Um das brutale Ballett zu choreografieren, das folgt, sobald ein:e Verbraucher:in auf ‚Bestellung aufgeben‘ bei Amazon Prime klickt, nutzt das Unternehmen seine algorithmischen und technischen Fähigkeiten innerhalb seines massiven Netzwerks aus Kommunikations- und Digitaltechnik, Lagereinrichtungen und Maschinen, während es seine Belegschaft synchron mit der schwankenden Verbrauchernachfrage numerisch auf und ab schwingen lässt.»
In identischen Einrichtungen auf der ganzen Welt wird die Arbeit von Scannern und Laptops geleitet, die die Zeit erfassen und die Arbeiter:innen zum entsprechenden Produkt führen. Den Arbeiter:innen werden pro Schicht 30 Minuten „Off-Task“-Zeit zugestanden, also Zeit in der sie nicht in Bewegung sind. Zusätzlich werden sie von Robotern angetrieben, die ebenfalls Produkte herausgreifen.
Arbeit und die Kontrolle der Korridore des Kapitals
Die Technologie, die Beschäftigungsmuster und die Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalströme, die die kapitalistische Produktion charakterisieren und die Arbeitswelt prägen, beruhen ihrerseits auf einer zunehmend umfangreichen internationalen materiellen Infrastruktur. Diese Korridore des Kapitals bestehen in erster Linie aus Strassen, Eisenbahnen, Wasserstrassen, Häfen, Pipelines, Flughäfen und traditionellen Lagerhäusern. Mittlerweile umfassen sie aber auch riesige urbane Logistik-Cluster von Anlagen und Arbeitskräften, kilometerlange Glasfaserkabel, Datenzentren und Lagerhäusern, die für Bewegung statt für Lagerung umkonfiguriert wurden.
Marx betrachtete das Transport- und Kommunikationswesen als Teil des Gesamtprozesses der Wertproduktion. Die zig Millionen Arbeiter:innen auf der ganzen Welt, die in diesen Lagerstätten des konstanten Kapitals und in den Lastwagen, Zügen, Schiffen, Flugzeugen, Kabelstationen und Rechenzentren arbeiten, und welche die Waren, Daten und Finanzen mittels dieser Infrastruktur bewegen, sind also ebenso Produktionsarbeiter:innen wie jene in den Fabriken oder an den Orten der Dienstleistungserbringung. Sie lassen die Kreisläufe des Kapitals funktionieren und sorgen für einen Grossteil der Geschwindigkeit, mit der sich diese Kreisläufe drehen. Über und durch diese Transport- und Kommunikationswege bewegen sich diese Kreisläufe des Kapitals mit der bekannten Marx’schen Formel G-W-G‘ [Hiermit ist gemeint, dass Waren zunächst eingekauft werden (Geld in Waren verwandelt), um dann teurer wieder verkauft (Waren wieder in Geld verwandelt) werden; Anm. d. Red.], die sequenziell und gleichzeitig Millionen Mal am Tag wiederholt wird. Die Geschwindigkeit, mit der dies geschieht, beeinflusst den potenziellen Profit. Und natürlich sind – angetrieben durch den globalen Wettbewerb – Geschwindigkeit und «Just-in-time»-Lieferung zu Hauptmerkmalen der heutigen Produktion und Logistik geworden.
Eine Ära der Rebellion: Klasse oder Multitude?
All diese Entwicklungen geschahen in einer Zeit wirtschaftlicher Turbulenzen und wiederkehrender Krisen, einer Klimakrise, die nicht mehr ignoriert werden kann, und zuletzt der COVID-19-Pandemie. Jedes dieser Ereignisse hat in dem einen oder anderen Masse zu einem dramatischen Anstieg von sozialem Aktivismus, Streiks und Massenmobilisierung gegen den Status quo beigetragen. Fast überall waren diese Mobilisierungen das Ergebnis wirtschaftlicher Veränderungen, Verwerfungen und Notlagen, die manchmal durch Kriege noch verschärft wurden. Aber sie waren insofern politisch, als sie sich meist gegen die Regierungen und die neoliberale Politik und die damit einhergehende Korruption richteten, die der Mehrheit der Menschen auf der ganzen Welt Leid zufügen.
Laut einer Analyse der «zivilen Unruhen» im Jahr 2019 durch das Risikobewertungsunternehmen Versisk Maplecroft gab es allein im Jahr 2019 in 47 Ländern, also in fast einem Viertel aller Nationen, grössere zivile Unruhen. Zu diesen «zivilen Unruhen» kamen im Jahr 2020 neue, sehr sichtbare Massenmobilisierungen und fortdauernde Demonstrationen in Belarus, Thailand, im Osten Russlands; Massenstreiks in Indonesien sowie der Aufschwung der Black Lives Matter-Bewegung in den USA und weiteren Teilen der Welt hinzu.
David McNally hat «die Rückkehr des Massenstreiks» sehr detailliert analysiert (siehe Spectre, Vol. 1, Issue 1, Spring 2020). Mit Blick auf die Massenstreiks seit der Rezession 2008 schreibt er im Jahr 2020: «In dem Jahrzehnt seit der Grossen Rezession von 2008/09 haben wir eine Reihe enormer Generalstreiks erlebt (Guadeloupe und Martinique, Indien, Brasilien, Südafrika, Kolumbien, Chile, Algerien, Sudan, Südkorea, Frankreich und viele mehr) sowie Streikwellen, die zum Sturz von Staatschefs beigetragen haben (Tunesien, Ägypten, Puerto Rico, Sudan, Libanon, Algerien, Irak).»
Darüber hinaus gab es weltweit Massenstreiks verschiedener Grössenordnungen, die oft mit Fragen der sozialen Reproduktion verbunden waren, darunter die Lehrer:innenstreiks 2018-2019 in den Vereinigten Staaten. Wie McNally betont, wurde der Massenstreik auch von der feministischen Bewegung übernommen, insbesondere in den Internationalen Frauenstreiks, die seit 2017 stattfanden. Einige Massenstreiks fanden inmitten breiterer Mobilisierungen auf Strassen und Plätzen in der ganzen Welt statt, wie etwa in Hongkong, Chile, Thailand, der Ukraine, dem Libanon und dem Irak.
Auch ein Grossteil der Massenbasis des Arabischen Frühlings ab 2011 kam sowohl aus der organisierten Arbeiter:innenklasse als auch aus Segmenten der informellen Arbeiter:innenschaft, von denen viele, wie wir oben gesehen haben, zu einem bestimmten Zeitpunkt in die globalen Wertschöpfungsketten des multinationalen Kapitals hineingezogen wurden, die auf den Ölfeldern, an den Pipelines, am Suezkanal und in den vielen Häfen des Nahen Ostens und Nordafrikas arbeiten. Gopal argumentiert, dass gerade ihre Prekarität und informelle Beschäftigung bedeutet, dass sie wenig Macht hatten. Dennoch haben sich diese Arbeiter:innen in vielen Entwicklungsländern in ihren Nachbarschaften und über nationale Gewerkschaften, informelle Arbeiter:innenverbände, Wanderarbeiter:innenorganisationen und Kooperativen sowie in den Betrieben organisiert, um die Strassen und Plätze zu stürmen, wie es Arbeiter:innen seit Generationen getan haben.
Das scheinbar klassengemischte Erscheinungsbild vieler Massenstreiks und Demonstrationen war auch ein Ergebnis der «Proletarisierung» von gebildeten Menschen wie Lehrpersonen und Pfleger:innen, deren Jobs durch die oben beschriebenen Prozesse standardisiert und einem strengeren Management unterworfen wurden, sowie des Abstiegs vieler gebildeten «Millennials» in Arbeiter:innenjobs. Hier scheinen die Klassenlinien zu verschwimmen, aber das soziale Schicksal der Mehrheit dieser und der nächsten Generation ist eindeutig die Arbeiter:innenklasse.
Klar scheint zu sein, dass die Massenbasis der meisten Rebellionen des letzten Jahrzehnts aus der Arbeiter:innenklasse stammte, und dass sie in erheblichem Masse die traditionelle Waffe des Massenstreiks einsetzten, unabhängig davon, ob Studierende eine auslösende Rolle spielten oder nicht, und davon, ob Berufstätige aus der Mittelschicht und Politiker:innen Führungsrollen übernahmen.
Doch nirgendwo strebten die Streiks oder Massenmobilisierungen nach politischer Macht für die Arbeiter:innen selbst oder nach einem Programm, das sich dem Sozialismus näherte. Nirgendwo hat sich die Arbeiter:innenklasse für diese Ziele mobilisiert.
Grund zur Hoffnung bieten diese Bewegungen aber trotzdem, wie McNally schreibt: «Die neuen Streikbewegungen sind Vorboten einer Periode der Neuzusammensetzung militanter Widerstandskulturen der Arbeiter:innenklasse; der Nährboden, aus dem sozialistische Politik wachsen kann». Ob diese Neuzusammensetzung dazu beitragen wird, einen allgemeinen Aufschwung der Arbeiter:innenklasse hervorzubringen, ist unmöglich vorherzusagen. Aber wie ein Vertreter der United Electrical Workers, Mark Meinster, in US-amerikanischen Labor Notes (No. 500, November 2020), schreibt: «Aufstände der Arbeiter:innenklasse finden oft im Kontext tiefgreifender sozialer Veränderungen in der gesamten Gesellschaft statt, wie z. B. abrupte und weit verbreitete wirtschaftliche Verwerfungen, ein tiefgreifender Legitimitätsverlust der herrschenden Eliten oder abnorme politische Instabilität.» Das beschreibt in etwa die Situation, mit der die Arbeiter:innenklasse heute weltweit konfrontiert ist.
Die vorliegende Übersetzung erfolgte durch die Redaktion und basiert zu einem Grossteil auf dem gekürzten Artikel aus der französischen Onlinezeitschrift Contretemps (Ausnahme ist v.a. das letzte Unterkapitel). Eine deutsche Übersetzung in Originallänge inkl. Zitationen findet sich auf maulwuerfe.ch.
[1] Gleichzeitig erinnerte uns Marx selbst vor langer Zeit daran, als er über die Entwicklung der Klassen in England sprach, wo sie «am klassischsten entwickelt» waren, dass «diese Klassengliederung selbst hier nicht in reiner Form hervor[tritt]». Nichtsdestotrotz bilden die Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen den Kern der Arbeiter:innenklasse, die früher als eine männliche Domäne galt, heute aber fast zur Hälfte aus Frauen besteht.