Die COP26 (26. UN-Klimakonferenz) offenbarte einmal mehr, dass die Regierungen die fossile Wirtschaft stützen. Sie treiben zusammen mit den Konzernen die Erderhitzung weiter voran. Die Klimabewegung steht vor der Herausforderung zu überlegen, wie sie einen industriellen Um- und Rückbau durchsetzen kann. Christian Zeller argumentiert, dass sich die Klimabewegung auf die fossilen Industrien, die Automobil- und Luftfahrtkonzerne sowie den Finanzsektor konzentrieren soll. Dabei sind breite Bündnisse nötig.
von Christian Zeller; aus antikap
Der kürzlich publizierte Entwurf des IPCC (Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen oder einfach Weltklimarat der UN) zu den physischen Veränderungen des Erdsystems dokumentiert trocken und scharf die ablaufenden Brüche im Erdsystem.[1] Ungeachtet der wiederholten Warnungen aus der Wissenschaft und dem zunehmenden Druck durch die Klimabewegung wächst der fossile Sektor weiter. Unterstützt durch die meisten Regierungen und finanziert durch Banken, Versicherungen, Pensions- und Anlagefonds planen die Kohle-, Erdöl- und Gaskonzerne eine Expansion. Das dokumentieren die jüngsten Berichte des UN-Umweltprogramms, der OPEC und der Internationalen Energieagentur.[2] Die Regierungen und Konzerne steuern die Welt auf einen Erhitzungspfad, der die globale Durchschnittstemperatur bereits gegen Ende dieses Jahrhunderts um mindestens 3°C gegenüber der vorindustriellen Zeit erhöhen wird. Bereits in wenigen Jahren werden Millionen von Menschen ihre Lebensgrundlage verlieren. Die Klimabewegung steht in dieser schwierigen Situation vor wichtigen strategischen Debatten und Entscheidungen. Wie lässt sich das gesellschaftliche Kräfteverhältnis verändern? Wer sind die Ansprech- und Bündnispartner:innen?
Die Aktualität einer ökosozialistischen Umwälzung
Das Ziel, die Klimaerwärmung auf 1,5° C gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen, erfordert einen historisch einmaligen Um- und Rückbau grosser Teile des gesamten produktiven Apparats unserer Gesellschaften. Das ist nur möglich, wenn wir mit dem kapitalistischen Zwang zur Akkumulation von immer mehr Kapital und der Maximierung des Profits brechen. Diesen Bruch müssen wir auch in den Alltagsforderungen ausdrücken, allerdings auf eine verständliche Weise. Bevor ich einige strategische Überlegungen zur Diskussion stelle, erkläre ich kurz, was ich unter ökosozialistischer Umwälzung der Gesellschaft verstehe. Wir brauchen eine Gesellschaft, die weniger und anders produziert, weniger transportiert, mehr Sorge für die Menschen und die Natur trägt, den gesamten Reichtum teilt und gemeinsam entscheidet.[3]
«Ein Wandel der Lebensformen bedingt eine radikale Umwandlung der Produktionsformen und der Arbeitsweisen. In diesem Sinne ist ein ökologischer Umbau der Produktion, des Transports, der technologischen Entwicklung und des gesamten Alltags einschliesslich der Reproduktion zu erkämpfen, um einen tragfähigen gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur einzuleiten.»[4]
Das erfordert, dass sich die Ausgebeuteten und Unterdrückten in einem Prozess der Selbstermächtigung der wirtschaftlichen und politischen Macht der bürgerlichen Klasse erfolgreich entgegenstellen und diese beenden. Ökosozialist:innen wollen die kapitalistische Produktionsweise überwinden.
Ökosozialistisches Dringlichkeitsprogramm
Ein ökosozialistisches Dringlichkeitsprogramm nimmt die Gebrauchswerte und die Organisation des gesellschaftlichen Stoffwechsels gleichermassen zum Ausgangspunkt. Dabei ist es unerlässlich, den naturwissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen über die Erderwärmung konsequent zu folgen. Es wäre fahrlässig, diese Perspektive zu relativieren, weil sie gegenwärtig politisch als zu wenig praktikabel erscheint. Es ist unvernünftig, nur das zu verlangen, was im politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ideologischen Kontext der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft möglich ist. Das würde die Realität verzerren und wäre somit gänzlich unrealistisch. Zugleich müssen wir das Kräfteverhältnis anerkennen, aber nicht um uns anzupassen, sondern um Angriffspunkte zu identifizieren, es substanziell zu verändern.
Ein vernünftiger «gesellschaftlicher Stoffwechsel mit der Natur» (Karl Marx) setzt voraus, die gesamte Produktion und Reproduktion von Anfang bis Ende nach ökologischen Kriterien zu organisieren.[5] Zerstörungsindustrien wie die Rüstungsindustrie sind komplett zurückzubauen. Der motorisierte Individualverkehr ist weitgehend auf den öffentlichen Verkehr und den nicht-motorisierten Verkehr zu verlagern. Die Autoindustrie ist weitgehend zurückzubauen und die weiterhin benötigten Produktionslinien sind zu einer öffentlich kontrollierten Mobilitäts- und Eisenbahnindustrie zu verschmelzen. Die Verkehrsleistung muss mit einer entsprechenden Raum- und Stadtplanung für eine Stadt der kurzen Wege deutlich vermindert werden. Der Güterverkehr stieg durch die Zerlegung der Wertschöpfungsketten so stark an, dass die Eisenbahnen gar nicht mehr in der Lage wären, diesen zu bewältigen. Darum ist der Güterverkehr durch Planung der Produktionsorte zu reduzieren. Diese Umbauschritte erfordern zugleich die demokratische Aneignung der Raum- und Stadtplanung und die gesellschaftliche Aneignung des Bodens. Die gesamte Nahrungsmittelproduktion ist komplett ökologisch umzubauen und die Agrarindustrie zu entmachten. Die fleischverarbeitende Industrie ist massiv zurückzubauen. Die gesamte Energieumwandlung und -versorgung ist auf erneuerbare Energieträger umzustellen und zugleich der Energieverbrauch massiv zu senken. Das allerdings erfordert die demokratische gesellschaftliche Aneignung des gesamten Energiesystems.
Handlungsstrategie hin zur ökosozialistischen Transformation
Breite Teile der Bevölkerung sind davon zu überzeugen, die fossilen Konzerne einschliesslich der Autokonzerne und der Finanzkonzerne auf demokratische Weise gesellschaftlich anzueignen. Nur auf dieser Grundlage ist es möglich, diese Konzerne kontrolliert und entsprechend den gesellschaftlichen Anliegen herunterzufahren und komplett umzubauen.
Doch diese Perspektive gilt es zuzuspitzen. In den deutschsprachigen Ländern erkenne ich drei strategische Achsen.
- Erstens gilt es die fossilen Konzerne in den Fokus zu nehmen. Es ist zu überlegen, wie breitenwirksame, transnationale Kampagnen für die Enteignung dieser Konzerne und deren demokratische gesellschaftliche Aneignung geführt werden können. Die Vergesellschaftung ist Voraussetzung für einen Rückbau des fossilen Sektors, so dass dieser nicht zu Massenentlassungen und Verarmungsprozessen führt.
- Zweitens setzt eine umfassende ökologische Mobilitätswende, die eine weitgehende Verbannung des motorisierten Individualverkehrs aus urbanen Ballungsräumen einschliesst, voraus, dass die Automobilkonzerne und grosse Zulieferunternehmen gesellschaftlich angeeignet, zerschlagen und mit der Eisenbahnindustrie zu einer öffentlich und durch die Beschäftigten kontrollierten Mobilitätsindustrie verschmolzen werden. Es gilt zu überlegen, wie sich diese Perspektive mit einer gesellschaftlich breit verstandenen Kampagne zuspitzen lässt.
- Die dritte Achse zielt auf die gesellschaftliche Aneignung des Finanzsektors. Alle Umbaumassnahmen erfordern umfassende Investitionen. Der Finanzsektor ist vollumfänglich in den Dienst dieses Umbaus zu stellen. Alle gesellschaftlich nicht notwendigen Bereichedes enorm aufgeblähten Finanzsektors müssen unter öffentlicher Kontrolle heruntergefahren werden. Ein zentraler Angriffspunkt sind die kapitalgedeckten Altersvorsorgesysteme. Diese sind in umlagefinanzierte Pensionskassen umzuwandeln, die für alle Menschen ein würdiges Leben nach ihrer Berufstätigkeit ermöglichen.
Kontrolle durch die Beschäftigten und die Konsument:innen
Die Klimabewegung vermochte bislang durch Demonstrationen und Blockaden die Notwendigkeit einer radikalen politischen Wende ins Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten zu tragen. Doch konkrete Erfolge kann sie bislang nicht vorweisen.
Erst wenn sich Millionen von Lohnabhängigen und ihre Gewerkschaften als aktiver Teil der Klimabewegung verstehen und bereit sind, sich in «ihren» Unternehmen und Betrieben für einen ökologischen Umbau der Produktion einzusetzen, wird sich das Kräfteverhältnis substanziell verändern. Entscheidend ist, wie es gelingen kann, die grosse Mehrheit der Lohnabhängigen für radikale sozial-ökologische Strukturreformen zu gewinnen. Im Zuge konkreter Kämpfe können die Menschen in Bewegungen und Betrieben gemeinsam lernen und die nötigen Erfahrungen sammeln, die es ihnen erlauben, die Machtfrage auch gesamtgesellschaftlich wirkungsmächtig auf die Tagesordnung der politischen Auseinandersetzungen zu bringen.
Mit Streiks stellen die Beschäftigten eines Unternehmens ansatzweise die Machtfrage über die Kontrolle der Produktion und der Abläufe in Unternehmen. Durch ihren Ausstand signalisieren sie, dass sie die Anordnungen der Unternehmensleitung nicht befolgen und sich zu einer Gegenmacht formieren. Besonders wenn die Streikenden ihre Aktion weitertreiben und ihre Produktionsstätte oder Bürokomplexe besetzen oder sogar vom passiven zum aktiven Streik übergehen und die Arbeit unter eigener Regie wiederaufnehmen, stellen sie die Macht des Kapitals in Frage. Schliessen sich die Beschäftigten vieler Betriebe in einer Region oder eines Landes für einen Generalstreik zusammen, demonstrieren sie ihre kollektive Vetomacht gegenüber der wirtschaftlichen Macht des Kapitals. Das zeigen die Erfahrungen aus vielen Generalstreiks. Gelänge es in mehreren Ländern, möglichst unbefristete Generalstreiks für einen ökologischen industriellen Umbau durchzuführen, würde das die politischen Kräfteverhältnisse substanziell verändern. Einer derartigen Manifestation von Gegenmacht müsste jede Regierung Rechnung tragen.
Demokratische, auf die Selbsttätigkeit der Lohnabhängigen gestützte Organisierungsprozesse bieten den einzelnen Lohnabhängigen die Möglichkeit, die lang erlebte eigene Passivität und Unterordnung unter verschiedene «Autoritäten», seien das staatliche Behörden, das Unternehmensmanagement oder die Gewerkschaftsbürokratie, zu überwinden, also selbst aktiv und zum Subjekt zu werden. Die Selbstermächtigung ist Beginn und Voraussetzung der Selbstemanzipation.
[1] IPCC (2021): Climate Change 2021: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change: Cambridge University Press, 3948 S.
[2] 2 UNEP (2021): The Production Gap. Governments’ planned fossil fuel production remains dangerously out of sync with Paris Agreement limits, October 2021, United Nations Environment Programme (UNEP), Stockholm Environment Institute: Nairobi, Stockholm, 94 S. http://productiongap.org/2021report. OPEC (2021): 2021 World Oil Outlook 2045, September 28, 2021, Organization of the Petroleum Exporting Countries, OPEC Secretariat: Wien, 320 S. IEA (2021): Net Zero by 2050 A Roadmap for the Global Energy Sector, May 2021, International Energy Agency: Paris, 222 S. https://www.iea.org/reports/net-zero-by-2050 Zugriff: August 15, 2021.
[3] Tanuro, Daniel (2020): Trop tard pour être pessimistes! La catastrophe grandissante et les moyens de l’arrêter. Paris: La Découverte, S. 249ff ; Löwy, Michael (2016): Ökosozialismus: Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe. Hamburg: Laika Verlag, S. 28ff.
[4] Zeller, Christian (2020): Revolution für das Klima. Warum wir eine ökosozialistische Alternative brauchen. München: Oekom Verlag, S. 73.
[5] Zeller 2020: Kapitel 4-8.