Menu Schließen

Wie weiter nach den Streiks auf den Schweizer Baustellen?

Die gewerkschaftliche Mobilisierungskampagne der Bauarbeiter:innen in der Schweiz für die Erneuerung des Landesmantelvertrages (LMV) endete vorerst mit einer Demonstration am 11. November 2022 vor dem Hauptsitz der Bauunternehmer:innen in Zürich. Die Kampagne brachte die Licht- und Schattenseiten der gewerkschaftlichen Strategie und des Zustands in diesem Sektor ans Licht. Diese Ambivalenz ist wesentlich, um die möglichen Entwicklungen der Situation zu verstehen.

von Sofia Ferrari; aus mps-ti.ch

Eine gute Mobilisierung in der Westschweiz und im Tessin…

Zweifellos waren die Mobilisierungen für die Erneuerung des LMV im Tessin und in der Westschweiz wichtig und kämpferisch, wenn auch innerhalb der traditionellen Grenzen [von punktuellen, befristeten Streiks]. Die Demonstrationen der Bauarbeiter:innen im Tessin (ca. 2500 Teilnehmer:innen) und in der Westschweiz (6000-7000 Teilnehmer:innen) waren sehr kämpferisch und so gross, dass die Produktion praktisch zum Erliegen kam. Tatsächlich blieben die Baustellen bis auf wenige Ausnahmen geschlossen.

Die Vorbehalte gegenüber solchen gewerkschaftlichen Mobilisierungen besteht darin, dass sie vereinzelt sind: Sie dienen dazu, kurzzeitig die Muskeln zu zeigen, die dann nicht kontinuierlich trainiert werden können – oder sollen.

Mit anderen Worten: Es wird ein Streiktag ausgerufen, ohne dass der Kampf über diesen hinaus verlängert wird. Nur die Uninformierten, oder diejenigen mit einem sehr kurzlebigen Gedächtnis, haben erst in den letzten Wochen „entdeckt“, dass die Bauarbeiter:innen im Tessin und anderswo wissen, wie man streikt. In den vergangenen Jahren gab es sogar noch zahlreichere und kämpferischere Mobilisierungen. Solche Kampftage werden allerdings nicht als Ausgangspunkt einer längerfristigen Aktivität, sondern als deren Endpunkt verstanden, in der Hoffnung, dass die Bosse am Ende ihre Verhandlungsposition ein wenig ändern werden.

…dafür eine umso schlechtere in der Deutschschweiz

Im Herzen des Baugewerbes (Bern, Zürich, Basel, Aargau, St. Gallen) nahmen insgesamt rund 3000 Bauarbeiter:innen an den Gewerkschaftsdemonstrationen teil. Das sind sehr wenige, wenn man bedenkt, dass diese Region das Herzstück der Bautätigkeit in der Schweiz ist, wo die grosse Mehrheit der Bauarbeiter:innen, die dem LMV angeschlossen sind, lebt und arbeitet.

Deshalb ist die Deutschschweiz politisch entscheidend für den Ausgang des Kampfes. In ihren „Bastionen“ schätzen die Bosse die Kräfteverhältnisse und deren Entwicklung anhand der gewerkschaftlichen Aktionsfähigkeit ein. Aufgrund dieser Lagebeurteilung entscheiden sie, wie weit sie am Verhandlungstisch Zugeständnisse machen müssen.

Unter diesen Bedingungen kann man sagen, dass sich das Kräfteverhältnis in den Augen der Bosse nicht entscheidend verändert hat. Dies ist auch in der Gewerkschaftsbewegung bekannt, insbesondere in der Unia, deren schwache Präsenz an den Arbeitsplätzen in wirtschaftlich entscheidenden Regionen seit mindestens 30 Jahren thematisiert wird – damals hiess die Baugewerkschaft noch GBI. Trotz gegenteiligen Lobreden auf die eigene Kampfkraft wurde dieses Problem – insbesondere unter der langjährigen Leitung von Vasco Pedrina – nie angegangen, geschweige denn gelöst.

Die Baumeister:innen in der Offensive…

Interessant ist die Art und Weise, wie die Bosse ihre Position zu der aktuellen Erneuerung des LMV entwickelt haben. Besonders hervorzuheben sind die Angriffsposition und die Konzentration der Forderungen der Baumeister:innen auf die grundsätzliche Frage der flexiblen Arbeitszeiten.

Nicht dass die geltenden Vorschriften in der überwiegenden Mehrheit der Regionen des Landes keine ausreichende Flexibilität zulassen würden, im Gegenteil. Die schwache Präsenz der Gewerkschaften am Arbeitsplatz und das Fehlen einer Arbeitsinspektion, die diesen Namen verdienen würde, lassen in den meisten Kantonen die Feststellung zu, dass leider in der überwiegenden Mehrheit der Fälle nicht einmal die geltenden Vorschriften eingehalten werden. Die „Skandale“ und „Beschwerden“, die oft auftauchen (man denke an die berühmte Gerüst-Affäre im Fall Argo im Tessin), sind nur die Spitze des Eisbergs.

In Wirklichkeit hatten und haben die „überzogenen“ Vorschläge der Baumeister (die dann in dieser überrissenen Form von den Gewerkschaften abgelehnt werden, wie das Beispiel der 58-Stunden-Woche zeigt) zwei Ziele:

Einerseits sollen die Vorschläge der Gewerkschaft neutralisiert werden, die sich auf denselben Bereich der Arbeitszeit beziehen (insbesondere die Bezahlung der Fahrtzeit von der Abholstelle zur Baustelle), mit dem Ziel, ein Unentschieden zu erreichen, bei dem sowohl die überzogenen Vorschläge der Baumeister:innen als auch die der Gewerkschaften abgelehnt werden.

Zum anderen, und das ist ein noch wichtigeres Ziel, wollen die Bauunternehmen die Lohnforderungen der Gewerkschaften dämpfen. In der Tat wurde die eigentliche Lohnforderung – 260 Franken monatliche Erhöhung für alle, was einer Erhöhung von etwa 4,5% des nationalen Durchschnittslohns entsprechen würde – von den Gewerkschaften nicht deutlich hervorgehoben, nicht einmal bei den jüngsten Mobilisierungen.

Eine starke Lohnerhöhung scheint uns jedoch eine zentrale Forderung zu sein, nicht nur wegen der rasanten Inflation, unter denen die Lohnabhängigen in diesem Land zu leiden haben, sondern auch angesichts des geringen Lohnausgleichs, der in den letzten Jahren in diesem Sektor gewährt wurde, und zwar aus den eingangs genannten Gründen.

…und die Gewerkschaften in Abwehrhaltung

Die Herangehensweise an diese Vertragsverlängerung war auf Seiten der Gewerkschaften rein defensiv. In der Überzeugung, dass sie nicht viel erreichen können, zogen sie es vor, alles auf die Verteidigung des Status quo zu konzentrieren, insbesondere im Hinblick auf die geforderte Flexibilisierung der Arbeitszeit.

Dies wird durch die Tatsache bestätigt, dass die gewerkschaftliche Mobilisierung erst sehr spät einsetzte und sich jetzt wohl bereits erschöpft hat. Es scheint schwer vorstellbar, dass Ende November 2022 eine neue Mobilisierungskampagne in Bezug auf Intensität und Dauer viel weiter gehen könnte als das, was in den letzten Wochen durchgeführt wurde. Doch genau dies müsste sie, wenn sie denn eine Chance auf Erfolg haben soll. Vor allem in den grossen Agglomerationen der Deutschschweiz wäre ein Umdenken in Bezug auf die Mobilisierungsfähigkeit nötig. Dies scheint im Moment jedoch sehr unwahrscheinlich.

Es ist also mit einer langwierigen Verhandlungsphase zu rechnen. Die Bauunternehmen haben kein Interesse an einem schnellen Abschluss, da sie von einem vertraglichen Vakuum nur profitieren können. Sofern es in diesem Jahr noch zu einem Vertragsabschluss kommen wird, dann wird dies nicht ohne Zugeständnisse der Gewerkschaften bezüglich der «Flexibilität» gehen, und im Gegenzug nur unbedeutende Kompromisse bezüglich Lohnerhöhungen beinhalten.

Dies wäre ein wenig glanzvolles Ergebnis in einem Sektor, der in den letzten Jahren expandiert und hohe Profite erzielt hat, und auf den sich nicht einmal die Pandemie übermässig negativ ausgewirkt hat. Und trotzdem würden die Gewerkschaftsführungen das klägliche Resultat der Vertragsverhandlungen als Erfolg anpreisen.


Übersetzung und leichte Änderungen durch die Redaktionen maulwuerfe.ch und sozialismus.ch. Titelbild: Streik der Bauarbeiter:innen im Tessin am 17. Oktober 2022.

Verwandte Artikel

1 Kommentar

  1. Pingback:Waadt: Eindrucksvolle Streikbewegung im öffentlichen Dienst

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert