Eine Gesellschaft, die Menschen ohne Not aus ihren Wohnungen vertreibt oder obdachlos zurücklässt, während Wohnungen leer stehen, bettelt um ihre eigene Abschaffung. In der Linken besteht weitgehende Einigkeit, dass Gentrifizierung ein Problem ist. Bei der Frage, wie es zu diesen Verdrängungsprozessen kommt und wie sie zu bekämpfen wären, gehen die Meinungen jedoch weit auseinander. Ein sinnvoller Zugang ist die Betrachtung der ökonomischen Hintergründe.
von Jakob Spät (BFS Zürich); aus antikap
Wie kommt es zu Gentrifizierung?
In der mindestens seit den 2000ern üblichen und auch in weiten Teilen der Linken vorherrschenden Erzählung läuft Gentrifizierung in etwa so ab: In ein Quartier mit günstigen Mieten und schlechter Infrastruktur ziehen Künstler:innen und Studierende, bauen dort Strukturen auf, eröffnen Cafés und Clubs, die dann wiederum Menschen aus betuchteren Schichten anziehen, die höhere Mieten zahlen können. Diese verlangen dafür dann aber auch bessere Wohnungen, weswegen die bisherigen Bewohner:innen des Quartiers verdrängt werden und ihre Wohnungen gesichtslosen Luxusappartments weichen müssen. Die selbstorganisierten Strukturen können die neuen Mieten nicht mehr zahlen, Clubs werden wegen Lärmklagen geschlossen, das Nachtleben stirbt und das Quartier verwandelt sich in eine Latte-Macchiato-Luxuswüste.
Diese Erzählung krankt jedoch an zwei Dingen: Zum einen ist sie eine unmotivierte Übertragung biologischer Prozesse auf gesellschaftliche Phänomene (Pionierpflanzen besiedeln neues Land und bereiten den Boden für anspruchsvollere Pflanzen, die dann wiederum die Pionierpflanzen verdrängen). Zum anderen findet Gentrifizierung auch dann statt, wenn sich an einem Ort keine entsprechende Ausgehatmosphäre entwickelt. Dass die Verbindung zwischen Szenevierteln und Gentrifizierung in den Köpfen so stark ist, hängt wahrscheinlich vor allem daran, dass sich Künstler:innen und Studierende am ehesten medienwirksam beschweren, wenn ihnen ihr Quartier weggentrifiziert wird. Wer in der Beschreibung der beobachteten Verdrängungsprozesse der Wirklichkeit näherkommen möchte, sollte den Blick auf die ökonomischen Bedingungen richten, vor allem auf die Bildung des Bodenpreises im Kapitalismus und die daraus erwachsenden Dynamiken.
Warum kann man Boden kaufen?
In kapitalistischen Gesellschaften entsteht (Tausch-)Wert bei einem als «Tausch» bezeichneten okkulten Ritus, bei dem sich die beteiligten Personen gegenseitig versichern, dass in die Dinge, die sie einander übereignen, durchschnittliche etwa die gleiche Menge menschlicher Arbeitszeit eingegangen ist. Dabei ist es egal, wer den Tausch vornimmt, was genau getauscht wird, und ob die am Tausch beteiligten selbst die Arbeit geleistet haben, die in die zu tauschenden Waren eingeflossen ist. Nur Dinge, die von Menschen durch Arbeit hergestellt und dann getauscht werden, haben Wert.
Unter diesen Voraussetzungen muss der Verkauf von Land geradezu unsinnig erscheinen: Das spezifische Stück Erdoberfläche, das bei diesem Tausch die Eigentümer:in wechselt, ist nicht durch die Arbeit von Menschen entstanden, sondern bestand schon lange, bevor die ersten Protoamphibien das Meer verliessen. Zwar ist es möglich, Land durch Arbeit umzugestalten und damit Wert an es zu binden, allerdings wird auch lange brachliegendes Land ohne nennenswerte Spuren menschlicher Arbeit gegen Dinge mit Wert getauscht. Im Kapitalismus ist Grundeigentum das ausschliessliche Recht zur Nutzung eines Stücks Erdoberfläche. Dieses Recht wird durch den kapitalistischen Staat garantiert und durchgesetzt und muss nicht, wie in früheren Gesellschaftsformen etwa, durch persönliche Gewaltanwendung oder persönliches Bestellen, Bebauen oder Bewohnen behauptet werden.
Wie bei allen Verhältnissen im Kapitalismus sind die beteiligten Personen beim Grundeigentum lediglich als ihre gesellschaftlichen Funktionen relevant, beispielsweise als Grundeigentümer:in oder Mieter:in, nicht aber als Individuen. Es ist also für Belange egal, wer den Boden kauft, bestellt, verpachtet usw., und ob diese Personen irgendeinen persönlichen Bezug zu diesem Stück Boden haben. Überträgt die Grundeigentümer:in das Nutzungsrecht für ein Stück Boden an eine andere Person, wird eine in der Regel monatlich oder jährlich zu entrichtende Pacht (oder ein Mietzins) fällig. Die Pacht abzüglich der Auslagen der Grundeigentümer:in wird in der Literatur als «Grundrente» bezeichnet. Diese regelmässige Zahlung ist der Punkt, an dem im kollektiven Vorstellungsgebäude des Kapitalismus das Recht in Kapital umschlägt: Wird eine bestimmte Summe Kapital als Darlehen vergeben, geht damit eine üblicherweise jährliche Zinszahlung an die Darlehensgeber:in einher, die von der Menge des verliehenen Kapitals abhängt (ähnlich, aber etwas komplizierter verhält es sich mit allen Formen von Kapitalanlagen).
Der Umkehrschluss aus diesem Verhältnis ist, dass alles, aus dem regelmässige Zahlungen hervorgehen, Kapital sein muss. Die Menge dieses (fiktiven) Kapitals lässt sich durch die Umkehrung der Formel für die Berechnung des Zinses bestimmen: Wenn ein investiertes Kapital von 100 bei einem durchschnittlichen Zinssatz von 5% einen jährlichen Zins von 5 ergibt, dann bedeutet eine jährliche Grundrente von 5 beim gleichen durchschnittlichen Zinssatz, dass der Boden, aus dem diese Miete hervorgegangen ist, einem Kapital von 100 entspricht. Diese Gleichsetzung hat den zunächst rein mathematischen Effekt, dass der Bodenpreis steigt, wenn der durchschnittliche Zinssatz fällt (der gleiche Boden entspricht bei einem Zinssatz von 2,5 % einem Kapital von 200), während er fällt, wenn der durchschnittliche Zinssatz steigt (bei 10% entspricht der gleiche Boden nur noch einem Kapital von 50). Ausserhalb der Mathematik steigen die Bodenpreise regelhaft am Anfang einer Krise, wenn das mobilisierbare Kapital in Immobilien flüchtet, weil die Renditen dort im Vergleich zum Rest der Wirtschaft stabil hoch bleiben.
Wann wird aufgewertet?
Aus steigenden oder fallenden Bodenpreisen allein ergibt sich aber noch kein ökonomischer Zwang zur Vertreibung von Menschen aus ihren Wohnungen durch Aufwertung. An dieser Stelle setzt die rent gap-Theorie an: Sie führt neben der aktuellen Grundrente die potenzielle Grundrente ein, die maximale Rente, die sich mit einem Stück Boden theoretisch erwirtschaften lässt. Ist der Unterschied zwischen aktueller und potenzieller Grundrente hoch genug, werden Wohnungen modernisiert oder abgerissen und durch Neubauten ersetzt, mit denen diese potenzielle Rente erwirtschaftet werden kann. Dabei hängt die potenzielle Grundrente nicht nur von der Bausubstanz und dem Stück Boden selbst ab. Daneben spielen verbesserte Verkehrsanbindung, Modernisierung der Infrastruktur im Quartier, die Aufwertung von anderen Immobilien in der Umgebung – vor allem der Bau prestigeträchtiger Immobilieninseln – und gezielte Vermarktung eine Rolle. Darüber hinaus haben Änderungen in der Bauordnung für das Quartier einen Einfluss: Werden Grundstücke überhaupt erst zu Bauland umgezont oder werden in einem Quartier höhere Bauten erlaubt, ermöglicht auch das, aus dem gleichen Stück Boden mehr Rente zu pressen. Wer die höheren Mieten für die aufgewerteten oder neugebauten Wohnungen nicht zahlen kann, sieht sich auf kurz oder lang dazu gezwungen, in anderen Quartieren oder im Umland nach einer neuen Wohnung zu suchen.
Diese Investitionen in den Immobilienmarkt haben in der Regel eine längere Laufzeit als andere Investitionen – bis der komplette Mehrwert des investierten Kapitals durch monatliche Mietzahlungen realisiert ist, kann es gut ein oder zwei Jahrzehnte dauern. Wenn aber viel Kapital in den Immobilienmarkt fliesst, steigt der Druck, die Zeit bis zur Realisierung des Mehrwerts zu verkürzen. In diesen Fällen wird dazu übergegangen, Immobilien zu kaufen, aufzuwerten und zu einem Preis zu verkaufen, der der potenziellen Grundrente entspricht. Ist dieser Punkt erreicht, ist es egal, ob diese Immobilien tatsächlich noch vermietet werden können. So lange ähnliche Immobilien im Quartier entsprechende Grundrenten erzielen oder zu entsprechenden Preisen verkauft werden, kann eine Immobilie auch leerstehen, es ändert nichts an ihrem angenommenen, und entsprechend in der Bilanz der Immobilienfirmen verbuchten, Preis. Im Gegenteil lohnt sich Leerstand häufig, weil er den Wohnraum im Quartier verknappt und damit die Mieten in die Höhe treibt, was sich wiederum positiv auf den Preis aller dortigen Immobilien auswirkt.
Wie lange geht das gut?
Zwei Dinge können diese Dynamik stoppen und die Immobilienblase zum Platzen bringen: Zum einen kann der durchschnittliche Zinssatz steigen, wodurch die Immobilienpreise sinken. Zum anderen kann die Nachfrage einbrechen. Wenn niemand mehr die Wohn- oder Geschäftsräume zu den durch die Spekulation in die Höhe getriebenen Mieten oder Kaufpreisen haben möchte, bricht auch die Fiktion der hohen Immobilienpreise in sich zusammen. Ohne dass sich am Boden etwas ändert, verpufft ein guter Teil des darin investierten Kapitals.
Ein Crash in der Immobilienwirtschaft hat Folgen auf mehreren Ebenen: Auf der individuellen Ebene verlieren vor allem die kleinen Eigentümer:innen. Da ihre Immobilien schlagartig an Wert verlieren, können sie die darauf liegenden Hypotheken nicht mehr bedienen und müssen ihre Immobilien verkaufen. Zusammen mit den Pleiten von grossen Immobilienunternehmen führt dies auf der Ebene des Immobilienmarkts zu einer Zentralisierung des Grundeigentums in immer weniger Händen – die Immobilienkonzerne, die den Crash überstehen, übernehmen einen Grossteil des Grundeigentums derer, die den Crash nicht überstanden haben.
Auf städtebaulicher Ebene hinterlässt der Crash Betonwüsten voller Prestigeimmobilien, die zu Bauruinen verkommen sind: Erstens, weil ihre Eigentümer:innen nicht mehr das Kapital haben, sie zu erhalten. Zweitens kann es sich niemand leisten, in ihnen zu wohnen. Und drittens möchte bei der schlechten Lage des Immobilienmarkts niemand die Grundstücke kaufen und zusätzlich das Geld in die Hand nehmen, die nun unnützen Bauten zu entfernen, damit darauf Nützlicheres errichtet werden kann. Ausserdem hat diese Kapitalentwertung natürlich auch negative Auswirkungen auf den Rest der Wirtschaft. Mit viel Glück normalisieren sich die Mieten in den betroffenen Quartieren wieder etwas. Sie werden jedoch nicht wieder auf den Stand vor dem Beginn der Gentrifizierung fallen und die Menschen, die dort wohnten, werden nicht zurückkehren. Die sozialen Strukturen sind zerrissen, der Charakter des Quartiers unwiederbringlich verloren.
Der Fluss von Kapital in den Immobilienmarkt, die Blasenbildung durch Aufwertung und Spekulation und der darauffolgende Crash ist kein einmaliges Ereignis. Vielmehr wiederholt sich das gleiche Muster mit leichten Abweichungen und anderen betroffenen Quartieren in regelmässigen Abständen. Wenn die allgemeine Konjunktur schwächelt und der durchschnittliche Zins für Kapitalanlagen sinkt, erscheinen Boden und Immobilien als lohnenswerte Geldanlagen, Kapital beginnt zu fliessen und die Vertreibung von Menschen zur Produktion überbewerteter Betonwüsten beginnt von Neuem.
Die Dialektik der Aufwertung
Da es derzeit so aussieht, als sei die Überwindung des kapitalistischen Systems nicht auf der Tagesordnung, stellt sich die Frage, was gegen Aufwertung unternommen werden kann. Es gibt viele, im Rahmen des bestehenden Falschen durchaus sinnvolle Initiativen, die von solidarischen Zusammenschlüssen durch Mieter:innen gegen ihre gemeinsamen Vermieter:innen über Besetzungen von spekulativem Leerstand bis hin zu politischem Druck für ein besseres Mietrecht reichen.
Es gibt jedoch eine Tendenz von Gruppen, die gegen Gentrifizierung eintreten, die in vielen Fällen durchaus nötigen strukturellen Verbesserung des Wohnraums gänzlich abzulehnen. Selbst die menschenunwürdigsten Löcher, in denen zu viele Menschen auf zu wenig Raum leben, die im Winter kalt und feucht und im Sommer brütend heiss sind, in denen Menschen metaphorisch und wörtlich verschimmeln, Wohnungen, deren Abriss eine städtebauliche Wohltat wäre, werden zum Hort des schönen Lebens romantisiert und gegen notwendige Sanierungen verteidigt.
Zugegeben, die in der Schweiz betroffenen Quartiere sind nicht mit den Elendsvierteln in anderen Teilen der Welt vergleichbar. Dennoch sind auch hier beengte Verhältnisse, schlechte Belüftung, Dunkelheit und Schimmel keine Seltenheit. Daneben ist der Umbau und die energetische Sanierung von Wohnraum in Zeiten der sich beschleunigenden Klimakatastrophe eine unumgängliche Notwendigkeit. Anstatt also dafür einzutreten, dass Menschen weiter in Bruchbuden hausen dürfen, muss das Ziel sein, Menschen zu ermöglichen, in ihrem Quartier, in ihrem sozialen Netzwerk wohnen zu bleiben, und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass ihnen lebenswerter Wohnraum in ausreichender Grösse in einer lebenswerten Umgebung zur Verfügung steht.
Literatur
• Gegenstandpunkt (2014). Das Grundeigentum und der Wohnungsmarkt. https: //de.gegenstandpunkt.com/ artikel/grundeigentum-wohnungsmarkt.
• Holm, Andrej (2010). Wir bleiben alle! Gentrifizierung – Städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung. Münster: unrast.
• Jensen, Inga und Sebastian Schipper (2018). «Jenseits von schwäbischen Spätzlemanufakturen und kiezigen Kneipen – polit-ökonomische Perspektiven auf Gentrifizierung». In: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 48.2, S. 317–324.
• Krätke, Stefan (1995). Stadt, Raum, Ökonomie. Einführung in aktuelle Problemfelder der Stadtökonomie und Wirtschaftsgeographie. Basel: Springer Basel.
• Schipper, Sebastian (2018). «Zur politischen Ökonomie der Gentrifizierung: Warum kommt es zu Verdrängungsprozessen und wie lassen sich diese verhindern?» In: Stadtluft macht reich/arm. Stadtentwicklung, soziale Ungleichheit und Raumgerechtigkeit. Hrsg. von Bernhard Emunds, Claudia Czingon und Michael Wolff. Weimar: Metropolis, S. 33–57.
• Slater, Tom (2017). «Planetary rent gaps». In: Antipode 48.1, S. 114–137
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