Es ist Staatskrise in Großbritannien – und in der EU. Und die antikapitalistische Linke außerhalb von Labour stellt fest, dass sie kein Projekt hat, um einen linken Ausweg aus dieser Krise aufzuzeigen. Auch nach dem Sieg des Brexit findet sie nicht zu der politischen Initiative, die jetzt nötig wäre. Sie ist darauf zurückgeworfen, zur Bekämpfung des grassierenden Rassismus im Land aufzurufen. Und innerhalb der Labour Party hat sie alle Hände voll zu tun, den schleichenden Putsch der Parteirechten gegen den Parteivorsitzenden Corbyn abzuwehren.
von Angela Klein; aus SoZ
Warum ist das so?
Weil dieser Brexit von einem Grundton des Nationalismus und der Ausländerfeindlichkeit getragen wird, aus dem die Linke keinen Honig saugen kann. Der vermeintliche «Volksaufstand» namens Brexit lässt sich eben nicht einfach in einen Ansturm auf Westminster ummünzen, um ein antikapitalistisches Programm durchzusetzen. Vielmehr zeigt sich, dass die Linke von zwei Seiten in die Zange genommen wird: von der Seite des Finanzkapitals, verkörpert durch die City of London, die das kapitalistische Projekt EU mit Zähnen und Klauen verteidigt, und von der Seite der bürgerlichen Nationalisten, die gedenken, Großbritannien auf der Woge einer tiefen Gesellschaftskrise und einer weit verbreiteten Unzufriedenheit mit «dem System» wieder auf die alten Gleise britischer Weltherrschaft zu stellen, als Großbritannien noch die Weltmeere sowie weite Teil Asiens und Afrikas beherrschte. Daran möchten sie heute wieder anknüpfen. Denn ist es nicht so, dass der Wirtschaftsraum EU sich auf dem absteigenden Ast befindet, während in Asien seit Jahrzehnten die Konjunktur brummt und die Weltpolitik ihren Schwerpunkt mehr und mehr vom Atlantik zum Pazifik verlagert? Da ist die EU doch nur ein Klotz am Bein. Beide Projekte aber funktionieren nicht – das ist der Hintergrund für die Staatskrise.
Die nackte Wahrheit ist: Es handelt sich bei diesem Referendum nicht um einen «Klassenkonflikt», wie Katja Kipping in der jungenWelt (27.6.) meint. Die Hauptkontroversen verliefen und verlaufen nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen zwei bürgerlichen Projekten, die beide versuchen, jeweils einen Teil der lohnabhängigen Bevölkerung hinter sich zu scharen und zu instrumentalisieren. Das ist die erste Grunderkenntnis, von der wir ausgehen müssen.
Eine unabhängige Stimme hat die lohnabhängige Bevölkerung in dieser Auseinandersetzung nicht zu Gehör bringen können, Versuche in dieser Richtung sind marginal geblieben. Und die antikapitalistische Linke ist weit davon entfernt, die Lohnabhängigen hinter eigenen Lösungsvorstellungen zu sammeln und zu einen, schon deshalb, weil sie diese Lösungen nicht hat. Damit ist sie Teil des Problems und (noch) nicht Teil der Lösung.
Was wurde mit dem Brexit gewonnen?
Was mit dem Abstimmungsergebnis anzufangen ist, darum wird es jetzt viel Streit geben. Beide Kontrahenten haben kein Interesse daran, den Austritt zu überstürzen – die einen, weil sie ihn möglichst wieder kassieren wollen, die anderen, weil sie weder einen Plan noch Einigkeit darüber haben, wie weit die Abnebelung Großbritanniens von der EU gehen soll. Diese Situation der ordnungspolitischen Ungewissheit kann sich lange hinziehen: Für den endgültigen Vollzug des Austritts aus der EU sehen die EU-Verträge ab Antragstellung zwei Jahre vor.
Wie dieser innerbürgerliche Kampf ausgehen wird, hängt davon ab, wie die Bürgerlichen ihre politische Führungskrise lösen. Vieles spricht dafür, dass Großbritannien im EU-Binnenmarkt bleiben will. Dann aber ist vom Standpunkt der Lohnabhängigen nichts gewonnen, denn dann muss Großbritannien auch das ganze Regelwerk des Binnenmarkts übernehmen, sprich: all die Regularien der EU-Handelspolitik, die den Lohnabhängigen, Fischern, kleinen Landwirten und anderen, auf den heimischen Markt orientierten Kleinunternehmen das Leben schwer machen. Die Alternative wäre ein reines Freihandelsabkommen mit der EU, das mit Sicherheit begleitet wäre von einem Freihandelsabkommen Großbritanniens mit den USA. Dass auch dieses nur die Interessen der Großkonzerne bedienen würde, davon zeugen alle Erfahrungen, die bislang mit Freihandelsabkommen gemacht wurden.
Die zweite Grunderkenntnis, die sich daraus ableitet, lautet also: Der Weg, sich aus den Zwängen der EU zu befreien und das Zusammenleben der Völker in Europa auf eine neue Grundlage zu stellen («Europa neu zu begründen»), führt über die Durchsetzung linker, antikapitalistischer Regierungen im Nationalstaat, nicht umgekehrt. Linke vermögen in und gegenüber der EU nur durchzusetzen, was sie innenpolitisch in die Waagschale werfen können.
Vorrang für die soziale Frage
Die Interpretation eines gesellschaftlichen Ereignisses ist für die weitere politische Auseinandersetzung so wichtig wie das Ereignis selbst. Die Interpretation des britischen Votums bleibt hochkontrovers. Für die Linke, die britische wie die europäische, kommt es dabei darauf an, dass sie in dem angedeuteten Zweifrontenkrieg beiden Seiten eine klare Abfuhr erteilt und den sozialen Belangen Vorrang vor staatspolitischen Erwägungen einräumt.
Aus linker Sicht war bereits die Fragestellung für dieses Referendum falsch: «Soll das Vereinigte Königreich Mitglied der EU bleiben?» »Oder die EU verlassen?» Aus Sicht der sozialen (und ökologischen und feministischen) Emanzipation ist der kapitalistische Nationalstaat keine Alternative zum kapitalistischen EU-Projekt (und umgekehrt). Vielmehr ist die Überwindung des kapitalistischen Nationalstaats eine Voraussetzung für die Überwindung des kapitalistischen EU-Projekts. In einem Referendum über die EU kann aus linker Sicht die Frage also nicht lauten: Rausgehen oder drinbleiben? Sondern sie müsste etwa so lauten: «Europa braucht eine solidarische Sozial- und Wirtschaftsordnung. In diesem Sinne müssen die bestehenden EU-Verträge gekündigt und neue ausgehandelt werden. Bist du dafür oder dagegen?»
Der «Rassismus des kleinen Mannes»
Von einem solchen Standpunkt ist die britische wie die europäische Linke jedoch weit entfernt. Sie bewegt sich nach wie vor entlang der falschen Alternativen, die ihr die bürgerlichen Kontrahenten vorgeben: Die einen feiern den Brexit als ersten Schritt in eine antikapitalistische Richtung, die anderen verweisen auf die rassistische Welle, die mit dem Brexit losgetreten wurde, um am kapitalistischen EU-Projekt kleben zu bleiben (siehe dazu etwa die Presseerklärung der IG Metall, die auf die globale Wertschöpfungkette und die Digitalisierung positiv Bezug nimmt und sie als Sachzwang für globalisierte politische Institutionen wie die EU auffasst).
Ein zentraler Punkt in dieser Auseinandersetzung ist der Umgang mit dem «Rassismus des kleinen Mannes», wie ich es verkürzt nennen möchte. Für die sog. Unterschichten, das Proletariat, die vom Prozess der kapitalistischen Globalisierung Abgehängten gibt es viele gute Gründe, die EU loswerden zu wollen. Ist sie doch nichts anderes als ein mächtiges institutionelles Gefüge, um De-Industrialisierung, Produktionsverlagerungen, Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge, Lohn- und Sozialdumping (und die damit einhergehende Verarmung und zunehmende soziale Ungleichheit) rechtlich abzusichern und voranzutreiben. Die EU ist sozusagen der institutionelle Ausdruck der kapitalistischen Globalisierung auf dem europäischen Kontinent.
Also weg damit. So weit, so gut. Die Fischer haben jeden Grund, gegen die EU-Fischereiordnung aufzubegehren. Die Armengürtel in den Industriewüsten Nordenglands haben jeden Grund dagegen aufzubegehren, dass Unternehmen lieber osteuropäische Arbeiter ins Land holen, die für einen Bruchteil des britischen Lohns arbeiten, als die Arbeit so umzuverteilen, dass alle davon leben können.
Das alles sind genuin linke Themen, soziale Themen, die dringend einer Lösung bedürfen. Doch konnte und kann der Brexit eine Lösung dafür sein? Er wäre es, wenn diese Prozesse von einer geheimen Macht in Brüssel, einem Europa, das nirgendwo sonst existiert als hinter den den Glasfassaden der EU-Kommission, der britischen Bevölkerung übergestülpt worden wäre. Es war aber eine britische Regierung namens Margret Thatcher, die die ersten großen Schneisen in den wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegskapitalismus geschlagen hat. Jede nachfolgende Regierung ist diesen Weg weitergegangen, und auch die Hauptbefürworter des Brexit wollen es nicht anders. Sie opponieren nicht gegen die kapitalistische Globalisierung, sondern gegen das dürftige soziale Regelwerk, mit dem die EU diese begleitet. Selbst dieses bisschen Regulierung wollen sie demontieren.
Der vielzitierte «polnische Arbeiter» ist dabei nur der Prellbock, der für alle Verwerfungen, die die kapitalistische Globalisierung mit sich bringt, herhalten muss. Die bürgerlich-nationalistischen Kräfte vertiefen die bestehende Lohnkonkurrenz zu einer rassistischen, politischen Spaltung der Lohnabhängigen. Und die Gewerkschaften setzen dem in ihrer Mehrheit nichts entgegen, denn in ihren täglichen Praxis orientieren sie auf Standortpolitik, auf die Protektion «britischer Arbeitsplätze», auf die Verteidigung der Besitzstände der Besserverdienenden unter den lohnabhängigen Schichten. Der Erfolg des Brexit und der Aufschwung der extremen Rechten in Europa haben auch viel damit zu tun, dass die vorherrschende Gewerkschaftspolitik daran scheitert, ihre jetzigen und einstigen Mitglieder sozial zu schützen. Und Labour hat an vorderster Front beim Abbau des Sozialstaats mitgewirkt.
Der Arbeiter, der sich von der polnischen Lohnkonkurrenz bedroht fühlt, hat also gute Gründe, gegen die EU zu sein. Aber er gibt die falsche Antwort, wenn er deswegen auf seinem polnischen Kollegen herumtrampelt, statt auf der City of London, die ihm das alles eingebrockt hat. Und mit einer falschen Antwort kann man keine richtige Politik machen.
Das ist die dritte Grundwahrheit. Eigentlich müsste sie zum ABC jedes antikapitalistischen Linken gehören. Doch dem ist nicht so. In ihrem Wahn, im Brexit einen «Volksaufstand» sehen zu wollen, den sie umstandslos auf die eigene Habenseite verbuchen kann, gefällt es großen Teilen der antikapitalistischen Linken, die falsche Antwort schlicht zu übersehen.
Auf Deutschland übertragen ist das so, als hätte sie die hohen Wahlerfolge der AfD in Arbeiterhochburgen bei den letzten Landtagswahlen als Zeichen des Fortschritts im Kampf gegen «das System» gefeiert. Das hat sie damals tunlichst unterlassen und die Erfolge der AfD richtigerweise als Kampfansage an die organisierte Arbeiterbewegung und Angriff auf demokratische Rechte gedeutet. Warum nicht auch jetzt? Beidesmal lag dem Wählerverhalten eine ähnliche «Antisystemhaltung» zugrunde. Beidesmal schlägt die extreme Rechte politisches Kapital aus einer tiefen Gesellschaftskrise, nicht die Linke. Freilich haben viele Linke es auch schon nach den Landtagswahlen in Deutschland versäumt, sich der unangenehmen Wahrheit über den Einfluss rechtsextremen Gedankenguts in der Arbeiterschaft zu stellen. Lieber mobilisieren sie gegen «den Rassismus an sich».
Der Erfolg des Brexit ist nicht nur ein Hinweis auf eine politisch fehlgeleitete Reaktion auf den globalisierten Kapitalismus, er ist auch eine massive Bedrohung für die demokratischen und Menschenrechte, für die Gewerkschaftsrechte und für alle linken Ansätze, die auf eine Entmachtung der großen Kapitalbesitzer hinauslaufen. Er verschiebt das gesellschaftliche und politische Kräfteverhältnisse in Großbritannien – und wer weiß, auch in anderen EU-Länder? – massiv nach rechts.
Eine neue europäische Sozialordnung
Die Linke wird auch keinen Blumentopf gewinnen, wenn sie jetzt am institutionellen Gefüge der EU ein wenig herumdoktert, um es demokratischer zu machen, ihren Grundcharakter als Verein zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals aber nicht antastet. Das geht an den Sorgen derer, die für den Brexit gestimmt haben (und auch vieler derer, die für den Verbleib in der EU gestimmt haben) vorbei.
Was es braucht, ist eine linke Antwort auf die Globalisierung der Wertschöpfungsketten – die hat ja nicht nur mit dem Kapitalismus, sondern auch mit einer neuen Stufe des technologischen Fortschritts und der Produktivkraftentwicklung zu tun.
Das heißt, dass die Frage der Arbeitszeitverkürzung und der Arbeitsumverteilung wieder auf den Tisch muss.
Und dass die Linke eine Vorstellung von einer europäischen Sozialordnung und einer ökologisch und sozial verträglichen Wirtschaftsordnung entwickeln – und organisieren – muss, die eine Angleichung der Lebensverhältnisse in Europa nach oben erlaubt. In diesem Zusammenhang wird man auch darüber diskutieren müssen, wie Personenfreizügigkeit gestaltet werden kann – eine alles andere als einfache Frage.
Erfreulicherweise wächst auf der antikapitalistischen Linken mit der europäischen Krise auch die Bereitschaft und die Einsicht in die Notwendigkeit, diese Diskusison verstärkt aufzunehmen. […]