In Diskussionen über unsere Altersvorsoge wird von allen Seiten das Argument ins Feld geführt, dass unsere Vorsorgesysteme in der jetzigen Form aufgrund des demografischen Wandels bzw. der «Alterung der Gesellschaft» nicht mehr finanzierbar seien. Deshalb müssten die Rentenansprüche der Lohnabhängigen gekürzt und das Renteneintrittsalter erhöht werden. Auch in der aktuellen Debatte über die unsoziale Reform «Altersvorsorge2020», über die am 24. September 2017 in der Schweiz abgestimmt wird, blasen sowohl die selbsternannten Renten-«Spezialist*innen» der Versicherungen und Pensionskassen, wie auch Politiker*innen aller Parteien ins gleiche Horn. Dass sie den finanziellen Untergang unserer Altersvorsorge beschwören, kommt aber nicht von ungefähr, sondern verfolgt ganz bestimmte Ziele. Wir veröffentlichen hier einen Kommentar, der am Beispiel Deutschlands den demografischen Rentenmythos entlarvt. (Red.)
von Gerd Bosbach und Daniel Kreutz; aus SoZ
Die Behauptung
«Der demografische Wandel (will heißen: die Zunahme des Bevölkerungsanteils der Älteren mit durchschnittlich längerer Lebenserwartung) untergräbt die Finanzierbarkeit der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung.»
Wenn immer weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter immer mehr Rentner finanzieren müssen, wie dies die amtlichen Vorausberechnungen der Bevölkerungsentwicklung zeigen, werden die Jüngeren von einer ausufernden Beitragsbelastung überfordert. Deshalb gibt es keine Alternative zu Privatisierungen der Altersvorsorge, zu Rentenkürzungen und längerer Lebensarbeitszeit.
Die Widerlegung
Ein Blick zurück zeigt: Im vergangenen Jahrhundert stieg die Lebenserwartung in Deutschland um mehr als 30 Jahre. Der Jugendanteil reduzierte sich von 44 auf 21%. War 1900 noch fast jeder Zweite unter 20 Jahre alt, war es 2000 nur noch jeder Fünfte; der Anteil der über 65-Jährigen verdreifachte sich in der gleichen Zeit.
Die Zahlen klingen katastrophal – doch die Katastrophe blieb aus. Stattdessen gab es im 20.Jahrhundert erhebliche Leistungsverbesserungen bei der gesetzlichen Rente, und zwar bei sinkenden Arbeitszeiten der Beschäftigten und allgemein steigendem Wohlstand. Möglich war dies vor allem durch enorme Fortschritte der Arbeitsproduktivität, deren Früchte nicht einseitig von Kapital- und Vermögensbesitzern angeeignet wurden.
Jenseits aller – enorm unsicheren – demografischen Langfrist-Prognosen gilt: Selbst wenn die Produktivitätssteigerung je Beschäftigten jährlich nur 1% betragen würde, könnte jeder Beschäftigte im Jahre 2060 30% Rentenbeitrag zahlen und gleichzeitig noch sein verbleibendes Realeinkommen um über 40% steigern. Vorauszusetzen wäre «nur», dass die Produktivitätsgewinne auch (verteilungsneutral) den Beschäftigten zugute kommen.
Für die Rentenfinanzen ist weniger das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den Generationen von Bedeutung als vielmehr die Frage, welches Beitragsvolumen aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung der Rentenversicherung zufließt. Noch so viele Junge brächten der Rentenkasse keinen Cent, wenn sie erwerbslos sind oder mit Minijobs «hartzen» müssen. Auch wenn es «den demografischen Wandel» nicht gäbe, die Generationen im erwerbsfähigen Alter also auch künftig weit zahlreicher besetzt wären, gerieten die Rentenkassen bei sinkenden Löhnen, steigender Erwerbslosigkeit und um sich greifender Prekarisierung in die Krise. Über die Erträglichkeit der Beitragsbelastung für erwerbstätige Versicherte entscheidet weniger die Höhe des Beitragssatzes als vielmehr die zeitgleiche Entwicklung der Nettorealeinkommen.
Seit der Wiedervereinigung ist die wirtschaftliche Leistung Deutschlands nach Angaben des Statistischen Bundesamts um gut 30% real gestiegen – und das bei 3,3% weniger Arbeitsstunden und innerhalb von 20 Jahren, bei vergleichsweise mäßiger Produktivitätsentwicklung, trotz Arbeitslosigkeit und trotz der Finanzkrise, die uns im Jahr 2009 ein Minus von 5% beim Bruttoinlandsprodukt bescherte. Wenn diese 30% nicht im Portemonnaie und anteilig auch nicht in der Rentenversicherung angekommen sind, hat das offensichtlich nichts mit Demografie zu tun, sondern mit der Umverteilung zulasten der Lohnabhängigen.
Der Kommentar
In der Sache weitgehend sinnfrei, hat die Demografiediskussion bei der Rente doch zweckdienliche Wirkungen. Einmal in der veröffentlichten Meinung fest verankert, bemäntelt sie höchst erfolgreich, dass in Wahrheit ein primitiver Verteilungskampf des Kapitals gegen Löhne und Sozialversicherungsbeiträge stattfindet. Ein Prozent weniger Rentenbeitrag bedeutet jährlich rund 4,8 Milliarden Euro Extraprofit für die Unternehmer und fast 1,9 Mrd. Euro staatliche Einsparungen beim Bundeszuschuss [zur gesetzlichen Rentenversicherung].
Die Beschäftigten hingegen bezahlen ihr «mehr Netto» mit empfindlichen Rentenlücken. Wenn sie diese – wie politisch gefordert – privat und damit erheblich teurer absichern müssen und so der Finanzindustrie ein voluminöses Geschäftsfeld sponsern, bleibt ihnen auch netto weniger statt mehr. Dass die lohn- und gehaltsabhängige Mehrheitsgesellschaft die Umverteilung der Kosten und Risiken der Alterssicherung zu ihren Lasten hinnimmt, ist wesentlich das Verdienst des demografischen Mythos, der dies als nahezu naturgesetzliche Notwendigkeit erscheinen lässt – gleichsam als Preis dafür, dass «wir alle» halt älter werden.
Pingback:Schweiz: Das Nein zur AV2020 und die Linke ‹ BFS: Sozialismus neu denken – Kapitalismus überwinden!