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Skandalöse Angstmacherei um angebliche „Kostensteigerung“ im Gesundheitswesen

Es ist wieder soweit: Die Kampagne, die einen Tsunami der Gesundheitskosten ankündigt – welcher die Schweizer Wirtschaft und die Haushaltsbudgets ruiniere – ist erneut in vollem Gange. Einerseits verbreitet die Sonntagspresse der Tamedia-Gruppe (SonntagsZeitung und Le Matin Dimanche) die Thesen des Gesundheitsökonomen Stefan Felder, der schlichtweg für eine Rationierung der medizinischen Leistungen plädiert, denn: „Es kann nicht ewig so weitergehen mit der Kostensteigerung.“ (Matin Dimanche, 29.1.2017). Andererseits kündigt das Beratungsunternehmen Ernst & Young (EY) an: Bis 2030 werden sich die Krankenkassenprämien mehr als verdoppeln und damit für weite Teile der Bevölkerung nicht mehr tragbar sein.“ (Medienmitteilung vom 31. Januar 2017). Die – vorgeschlagene bzw. verpasste – Schlussfolgerung ist, dass man Opfer bringen müsse und dass es in Zukunft nicht mehr möglich sei zu akzeptieren, dass all jene Leistungen rückerstattet werden, die heute mittels Grundversicherung für alle zugänglich sind. Die Kampagne entspricht einer Angstmache mit Kalkül.

von Benoit Blanc (BFS/MPS); aus alencontre.org

Diese Kampagne baut auf einer korrumpierten Gedankenführung auf. Man kann sie wie folgt zusammenfassen: Die Erhöhung der Krankenkassenbeiträge, die für viele Menschen untragbar ist (was stimmt), sei einzig und allein ein Spiegel der Erhöhung der Gesundheitskosten (was falsch ist). Darum gäbe es für tragbare Krankenkassenbeiträge keine andere Möglichkeit, als die Senkung der Gesundheitskosten zu akzeptieren, entweder durch eine Begrenzung des Zugangs zu medizinischen Leistungen (verschiedene Formen der Rationierung) oder durch die Erhöhung der Produktivität der Leistungserbringer*innen (Schliessung von Spitälern, Industrialisierung der medizinischen Leistungen usw.). Dieser Scheinbeweis ist einer der wesentlichen Hebel, die von denjenigen in Bewegung gesetzt werden, die einerseits die Gesundheit vermehrt zu einem Markt werden lassen möchten und andererseits die sozialen Rechte in Bezug auf den Zugang zu medizinischen Leistungen abbauen möchten – wobei das letztere Ziel genau wie der Abbau der Renten Teil jener grossangelegten Kampagne ist, die darauf abzielt, die „Sozialausgaben“ zu reduzieren, um die Senkung der Steuern auf Kapital und hohe Einkommen zu fördern.

Ein pharmatierter Professor

Stefan Felder ist der neue Medienstern der Gesundheitswirtschaft in der Schweiz. Er ist seit 2011 Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Basel. Genauer gesagt hat er die „Interpharma Stiftungsprofessur“ inne. Im Klartext: einen Lehrstuhl, der von der Interpharma finanziert wird – der Lobby der grossen Pharmagruppen der Rheinmetropole. Stefan Felder wurde für diesen Posten auf Initiative von Silvio Borner nominiert (BaZ, 16.10.2010). Der Ökonom Silvio Borner erlebte seine Glanzstunde in den 1990er Jahren, als eine der Speerspitzen der Liberalisierung und Deregulierung in der Schweiz und einer der Inspiratoren der zwei „Weissbücher“, die diese siegreiche soziale und politische Offensive der helvetischen Bürgerlichen strukturiert haben. Der Direktor der Interpharma, Thomas Cueni, sass ohne Stimmrecht im Komitee, das Felder auswählte.

Stefan Felder ist aber selbstverständlich – so Cueni – „unabhängig“ und er ist – so Felder – „nur der Wahrheit verpflichtet“ (BaZ, 16.10.2010). Ein Beispiel: Am 1. Februar 2017 veröffentlicht die Neue Zürcher Zeitung einen Gastkommentar von Stefan Felder, in dem er das Vorhaben des Zürcher Regierungsrates anprangerte – welches sehr wahrscheinlich von der rechten Mehrheit im Kantonsrat versenkt wird –, eine progressive Steuer auf die privaten, extrem lukrativen Spitalaufenthalte einzuheben – als Teil des Sparpaketes, das den öffentlichen kantonalen Diensten auferlegt wird (die anderen Massnahmen führen zu Leistungseinschränkungen und verschlechtern die Bedingungen des Personals). Für Felder entspricht diese „Hirslandensteuer“ – die so genannt wird, weil die Klinken dieser Gruppe am meisten zum Steueraufkommen beitragen würden – einer „Monopol-Strategie“, die darauf abziele, den Wettbewerbsvorteil der öffentlichen Spitäler zulasten der Privatkliniken zu stärken. In der Tat hat im September 2016 die Organisation Privatkliniken Schweiz (PKS) eine „Studie der Universität Basel“ veröffentlicht, die „das potenzielle Schadensausmass der fehlenden Governance [sic] der Kantone im Bereich der Spitalfinanzierung [zeigt] und als Konsequenz fordert, dass die Spitalleistungsaufträge „künftig zwingend im Wettbewerbsverfahren auszuschreiben [sind], mit Beteiligungsmöglichkeiten für eine unbeschränkte Zahl von Wettbewerbern. Im Klartext: dass die Privatkliniken uneingeschränkt zugreifen können. Nun hatte die Projektleitung des Gutachtens aber der „unabhängige“ Stefan Felder inne und es wurde nicht zuletzt von Hirslanden finanziert. Es besteht kein Zweifel: Was in Sachen Gesundheit der Feder von Stefan Felder entspringt, ist Gold wert.

Kostensteigerung: Grössen-Malerei

116 Milliarden Franken: So hoch schätzt Ernst&Young (EY) die Gesundheitskosten im Jahr 2030. Dies soll die fortlaufende „Kostensteigerung“ im Gesundheitswesen illustrieren. Und Angst machen. Besteht denn aber wirklich Anlass zur Sorge? Um diese Frage zu beantworten, muss diese Zahl richtig eingeordnet werden. Genau das unterlässt EY. Hier seien darum einige Anhaltspunkte angeführt:

  1. Die neueste offizielle Schätzung der Gesundheitsausgaben der Schweiz durch das Bundesamt für Statistik (BFS) beläuft sich auf 71 Milliarden Franken im Jahr 2014, was 11,1 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP) entspricht. Im Jahr 1995 beliefen sich die Gesundheitsausgaben auf etwa 36 Milliarden Franken – die Hälfte weniger. Die Schweiz scheint diese erste Kostensteigerung überlebt zu haben. Hierfür ist folgender Grund von elementarer Bedeutung: Im selben Zeitraum ist der auf Ebene der Gesamtgesellschaft produzierte Reichtum – der durch das BIP veranschaulicht wird – ebenfalls stark angestiegen, wenn auch weniger rasch als die Gesundheitskosten, die im Jahr 1995 8,8 % des BIP ausmachten. Wenn man die Steigerung im Gesundheitsbereich also in Verbindung zur Entwicklung des globalen Reichtums setzt so verwandelt sie sich in ein langsames Wachstum.
  2. Dieses langsame Wachstum findet sich in allen Ländern wieder, die einen mit der Schweiz vergleichbaren wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsstand aufweisen. Im Jahr 2014 wiesen insbesondere Schweden (11,2 %), Frankreich (11,1 %), Deutschland (11,0 %) oder die Niederlande (10,9 %) ein ähnliches Verhältnis der Gesundheitsausgaben im Vergleich zum BIP auf. Diese konvergierende Entwicklung reflektiert ganz einfach die Kapazität der „reichen Länder“, einen grösseren Teil ihrer Ressourcen den Gesundheitssystemen zu widmen (ohne hier die Effizienz oder die Relevanz oder die von diesen Systemen angebotenen Leistungen zu diskutieren) – genauso wie andere Leistungen für die Bevölkerung (Bildung, Betreuungsangebote für Kleinkinder usw.). Sie stellt kein Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung dar, im Gegenteil: Der Gesundheitssektor ist heute einer der Hauptmotoren des Wachstums, sowohl in Bezug auf die Anzahl der Arbeitsplätze als auch in Bezug auf Innovation. Kurz: Diese Entwicklung von Gesundheitsleistungen ist keine Bedrohung für den Reichtum einer Gesellschaft, sondern illustriert diesen Reichtum und trägt zu ihm bei.

Es gibt zwei Ausnahmen in Bezug auf diese Entwicklung in den „entwickelten“ Ländern. Einerseits haben Länder wie Spanien, Portugal, Irland und Griechenland ihre Gesundheitsausgaben aufgrund der Auswirkungen der Schuldenkrise und der ihnen auferlegten brutalen Sparprogramme massiv heruntergefahren. Sie haben zweifellos die Kostensteigerung im Gesundheitswesen zum Stillstand gebracht. Auf der anderen Seite stehen die USA, in denen sich die Gesundheitsausgaben im Jahr 2014 auf 16,6 % des BIP beliefen (16,9 % im Jahr 2015), deutlich mehr als überall sonst. Die Gesundheitsausgaben in den USA liegen seit nunmehr 20 Jahren über der Höhe der Ausgaben der reichsten europäischen Länder im Jahr 2014. Das US-Gesundheitssystem – wo der Privatsektor das Sagen hat, wie Felder und andere Herolde des Marktes es gerne in der Schweiz sähen – ist mit Sicherheit eine Ungeheuerlichkeit mit auf der einen Seite über 40 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung, die enorme Schwierigkeiten haben, Zugang zu Leistungen zu bekommen, wenn sie diese brauchen, und auf der anderen Seite den Versicherungsgesellschaften, multinationalen Pharmaunternehmen und anderen Spitalketten, die sich ungeniert an diesem enormen Geldhahn bedienen. Dieser überdimensionierte Teil des BIP, der für das Gesundheitswesen ausgegeben wird, hat das Wirtschaftswachstum in den USA aber nicht gebremst, sie werden im Gegenteil regelmässig als „beispielhaft“ zitiert.

  1. Die 116 Milliarden im Jahr 2030 von EY, für deren Erarbeitung „vielfältige Datenquellen ausgewertet“ wurden – man muss sein Geschwätz ja gut verkaufen – entsprechen recht genau den öffentlichen Zahlen, die 2007 (!) vom Bundesamt für Statistik (BFS) in einer Studie unter der Leitung von Claude Jeanrenaud von der Universität Neuenburg veröffentlicht wurden. In dieser Studie wurden die Gesundheitsausgaben im Jahr 2030 auf 111 Milliarden Franken geschätzt (BFS 2007, Déterminants et évolution des coûts du système de santé en Suisse. Revue de la littérature et projections à l’horizon 2030 – Ausschlaggebende Faktoren und Entwicklung der Kosten des Gesundheitssystems der Schweiz. Literaturanalyse und Prognosen für 2030). Es wurde damals geschätzt, dass dieser Betrag 15,4 % des BIP ausmache. Da das BIP seither nach oben revidiert wurde, müsste dieser Prozentsatz nun niedriger sein. Im Jahr 2008 hat das eidgenössische Finanzdepartement seinerseits Prognosen für die Entwicklung der Gesundheitsausgaben veröffentlicht und kam auf 15,5 % des BIP im Jahr 2050 (Eidgenössisches Finanzdepartement 2008, Entwicklungsszenarien für das Gesundheitswesen, Auszug aus dem Legislaturfinanzplan 2009-2011 vom 23. Januar 2008).

Wenn man diese Prognosen für bare Münze nimmt, so bleiben die Gesundheitsausgaben in der Schweiz in den nächsten Jahrzehnten also deutlich unter dem Niveau der Ausgaben, die seit fast 10 Jahren in den USA getätigt werden (15 % und mehr des BIP), ohne dass dieses Land deswegen ins Chaos versunken wäre [Stefan Felder zögert seinerseits nicht, das Gespenst der Gesundheitsausgaben an die Wand zu malen, die „irgendwann 20 %“ des BIP erreichen werden (NZZ, 14.12.2016). Warum Hemmungen haben, wenn man Professor ist?]. Aus den aufgeblasenen 116 Milliarden von EY ist also völlig die Luft raus.

Die Gaunerei mit den Krankenkassenprämien

Auch wenn die Entwicklung der Gesundheitsausgaben aus allgemeiner wirtschaftlicher Sicht kein besonderes Problem darstellt, so ist gleichzeitig klar, dass die Krankenkassenprämien und die darüber hinausgehenden Gesundheitsausgaben der Haushalte zu einer untragbaren Last für einen steigenden Teil der Bevölkerung geworden sind. Wie lässt sich dieses Paradox erklären? Durch die Art der Finanzierung des Gesundheitswesens. Die Kostenaufteilung im Gesundheitswesen in der Schweiz ist durch einen doppelten sozialen Skandal gekennzeichnet.

  1. Erstens wird ein enormer Teil der Gesundheitsausgaben direkt durch die Haushalte finanziert. Diese sogenannten „Out-of-Pocket“-Zahlungen umfassen insbesondere die Leistungen oder Medikamente, die nicht von der Krankenversicherung übernommen werden, die Francisen (zwischen 300 und 2500 Franken pro Jahr) und die Selbstbehalte im Rahmen der Krankenversicherung (10 %, bis zu 700 Franken pro Jahr), Zahnbehandlungen und nicht zuletzt die nicht rückvergüteten Ausgaben für Aufenthalte in Pflegeheimen oder für Haushaltshilfen. Im Jahr 2014 wurde fast ein Viertel der Gesundheitsausgaben (24,5 %) direkt von den Haushalten finanziert. Zum Vergleich: In Deutschland beträgt dieser Anteil 13 % und in Frankreich 7 % (EU-Durchschnitt: 15 %). Je höher aber der „Out-of-Pocket“-Anteil, desto schwerer lastet er im Verhältnis auf Menschen mit geringem Einkommen.
  2. Zweitens erfolgt die Finanzierung der obligatorischen Grundversicherung, die ein gutes Drittel der Gesundheitsausgaben abdeckt (36,5 % im Jahr 2014) durch Pro-Kopf-Prämien, d. h. einkommensunabhängige Prämien. Egal ob jemand monatlich 4000 Fr. oder 40.000 Fr. verdient, beide Personen zahlen dieselbe Prämie von z. B. 400 Fr. pro Monat. Diese Prämie lastet also 10-mal so schwer auf dem Budget der Verkäuferin als auf jenem des Managers von EY. Dieses Pro-Kopf-Prämiensystem bewirkt auch, dass die Arbeitgeber*innen keinen Rappen „Arbeitgeber“-Beitrag zur Krankenversicherung beitragen. Der „Arbeitgeber*innenbeitrag“, der nichts anderes ist als ein indirekter Lohn, ist ein integraler Teil der Finanzierung aller Sozialversicherungen (AHV, Invaliden-, Unfall, Arbeitslosen- und Mutterschutzversicherung). Sie ist in allen Nachbarländern mit einem Versicherungssystem Teil der Krankenversicherung.
  3. Es ist dieser doppelte Mechanismus – einkommensunabhängige Prämien und fehlender „Arbeitgeber*innen“-Beitrag – der zur heutigen Höhe der Krankenversicherungsprämien geführt hat. Es ist einfach aufzuzeigen [siehe zu diesem Thema den am 12. Oktober 2016 auf sozialismus.ch veröffentlichten Artikel], dass derzeit ein einkommensabhängiger Beitrag (gemäss dem AHV-Modell) in der Höhe von 4 % bei gleichbleibendem öffentlichen Beitrag zur Finanzierung der Krankenversicherung genügen würde. Das heisst, dass eine Familie mit 2 Erwachsenen und 2 Kindern und einem Einkommen von 10.000 Fr. pro Monat für eine Krankenversicherung etwa 400 Fr. pro Monat zahlen müsste, im Gegensatz zu geschätzten 1000 Franken im derzeitigen System. Ein Lohnbeitrag von 6 % (600 Franken pro Monat, um unser Beispiel wieder aufzugreifen) würde genügen, um die Gesamtheit der derzeitigen Ausgaben der Haushalte zu finanzieren (Krankenkassenbeiträge und „Out-of-Pocket“-Zahlungen).

Dass dieser Weg seit so langem versperrt ist, entspricht drei zentralen Zielen der helvetischen Bürgerlichen: 1. Blockierung der Entwicklung der Sozialversicherungen, 2. Bewahrung eines Rahmens, der den privaten Versicherungen im Gesundheitsbereich ermöglicht, ihr Business auszubauen, und schliesslich 3. Schaffung eines Finanzzwangs durch die Erhöhung der Krankenkassenprämien, welcher auf breiten Teilen der Bevölkerung lastet. Durch diesen Finanzzwang wird nämlich die Berücksichtigung von Massnahmen wie der Rationierung aufgezwungen – die sonst keine Chance hätten.

Die eingeschränkte Realität der „Felder-Brillen“

Das Plädoyer von Stefan Felder für eine Rationierung der Leistungen illustriert diese Logik: „Wir werden nicht darum herumkommen [unsere Hervorhebung], den Leistungskatalog der Grundversicherung einzuschränken und einen grösseren Teil in private Zusatzversicherungen zu verschieben“, um der „Kostensteigerung“ die Stirn zu bieten. Lassen wir das falsche Problem der „Steigerung“ beiseite. Es springen nämlich verschiedene sonstige Mittel ins Auge – wenn einem keine „Felder-Brillen“ mit eingeschränkter Realität verpasst wurden. Zum Beispiel:

  1. Eine Finanzierung der Krankenversicherung durch AHV-Beiträge wie oben ausgeführt.
  2. Das Hinterfragen der irrsinnigen Preise, die von der Pharmaindustrie (unter der Führung von Roche) aufgezwungen werden – z. B. im Onkologie-Bereich. Diese Preise werden von Médécins du monde, die diesbezüglich eine Petition lanciert haben, als „schamlos“ angeprangert und auch von zahlreichen Onkolog*innen kritisiert. So bezeichnete sie Franco Cavalli, von 2006-2008 Präsident der UICC (Internationale Vereinigung gegen Krebs) und amtierender Präsident des Wissenschaftsausschusses der European School of Oncology (Europäische Onkologie-Schule) als „unerträglich“ hoch.
  3. Die Schaffung von Arbeitsbedingungen, die die Gesundheit der Angestellten respektieren. Eine im Jahr 2000 vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) veröffentlichte Studie schätzte die in diesem Zeitraum rein aufgrund von Stress anfallenden medizinischen Kosten auf ca. 1,7 Milliarden Franken (Seco 2000, Die Kosten des Stresses in der Schweiz).

Rationierung … bei den Anderen

Das alles aber liegt ausserhalb des Sichtfeldes von Stefan Felder. Ein Professor des Interpharma-Lehrstuhls, der die Preise der Krebsmedikamente von Roche als „schamlos“ qualifiziert? Also bitte, wo denken Sie hin! Wir werden also „nicht darum herumkommen“ die Leistungen zu rationieren.
Um ein bisschen genauer zu verstehen, was dies heisst, sei das Beispiel der Hüftprothesen herangezogen, die Stefan Felder für 85-jährige und ältere Menschen aus der Grundversicherung streichen möchte.

Wer wäre betroffen? Fast die Hälfte (46 %) der im Jahr 2015 verstorbenen Personen waren 85 Jahre alt oder älter. Die Lebenserwartung von 85-jährigen beträgt zusätzliche 6 Jahre für Männer und 7 Jahre für Frauen. Potenziell betrifft die von Felder vorgeschlagene Rationierung also nicht ein paar Ausnahme-Überlebende, die kurz vor dem Tod stehen, sondern einen grossen Teil der Bevölkerung, der heute dieses Alter erreicht und dann noch einige Jahre weiterlebt.
Um welche Summen geht es? Von den etwa 24.000 Hüftprothesen, die jährlich eingesetzt werden, werden etwa ein Achtel (d. h. weniger als 3.000) bei Menschen eingesetzt, die 85 oder älter sind (inklusive des Ersatzes von früher eingesetzten Prothesen; was schlägt übrigens Felder diesbezüglich vor?). Die Durchschnittskosten eines Spitalsaufenthalts für eine Hüftprothese lagen im Jahr 2011 bei etwas weniger als 20.000 Franken (BFS 2013, Die Kosten der stationären Spitalaufenthalte 2011). Der von Felder vorgeschlagene Rückvergütungsstopp betrifft also etwa 60 Millionen Franken. Das entspricht etwa einem Tausendstel der Gesundheitsausgaben und zwei Tausendstel der von der obligatorischen Krankenversicherung abgedeckten Gesundheitskosten. Kann man so der „Kostensteigerung“ Einhalt gebieten? Wie soll man das glauben, es sei denn, man sieht dieses Beispiel nur als einen leicht verdaulichen Appetithappen – in Erwartung der Hauptspeise, die dann den Leistungskatalog der Krankenversicherung zerstört? Oder, was mittelfristig plausibler ist: Das wirkliche Ziel der Rationierung à la Felder ist nicht die Entwicklung der Gesundheitsausgaben, sondern der Ausbau des Betätigungsfeldes der Privatversicherungen und Privatkliniken. Und dann sind „Kostensteigerungen“ kein Thema mehr, weil das bringt Geld…
Die finanziellen Auswirkungen einer solchen Massnahme wären zwar minimal, die Auswirkungen auf die betroffenen Menschen – ihre Gesundheit und Lebensbedingungen – aber brutal. Diejenigen, denen die Prothese verweigert würde, wären mit stechenden Schmerzen und einer massiven Einschränkung der Selbständigkeit konfrontiert, die ihnen das Leben vermiesen würden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das eine verstärkte soziale Isolierung und Beschleunigung der Verschlechterung ihres allgemeinen Gesundheitszustands nach sich zöge. Dies würde zu einer stärkeren Beanspruchung der helfenden Angehörigen und Freund*innen (mit den damit verbundenen Risiken des Ausbrennens Letzterer), häufigeren Arztbesuchen, gesteigerter Inanspruchnahme von spitalexterner Pflege und schliesslich einer früheren Einweisung ins Pflegeheim führen. Was nebenbei zusätzliche Gesundheitsausgaben verursacht, die die „Felderbrillen“ auszublenden scheinen.
Dazu kommt ein Kohärenzproblem: Wenn die Hüftprothesen nach einem Alter von 85 Jahren aus Kosten-Nutzen-Sicht nicht mehr tragbar sind, wie Felder behauptet, warum soll man ihre Bezahlung dann in die Zusatzversicherungen verschieben und nicht ganz allgemein auf sie verzichten? Vielleicht, weil sie in Wirklichkeit für die, die sie zahlen können, nicht völlig unnötig sind – wie z. B. für pensionierte Professoren. Dann aber ist die Rationierung à la Felder nichts Anderes als ein zusätzlicher Spatenstich beim Graben einer der skandalösesten sozialen Ungleichheiten in unseren Gesellschaften – der Ungleichheit im Gesundheitsbereich.
Es sei in Erinnerung gerufen, dass die Lebenserwartung eines 30-jährigen Mannes am unteren Ende der sozialen Leiter (die am Bildungsniveau gemessen wird) 4,6 Jahre unter der Lebenserwartung eines Mannes am oberen Ende der Leiter liegt. Bei Frauen liegt der Unterschied bei 2,3 Jahren. In Bezug auf den Gesundheitszustand sind die sozialen Ungleichheiten noch ausgeprägter. Aber für Professor Felder „werden wir nicht darum herumkommen“: Die Männer, die sich auf der Baustelle, und die Frauen, die sich in den Supermärkten verschleissen, sollen nur mit ihren Hüftschmerzen leben, wenn sie nicht fähig waren, eine Zusatzversicherung zu zahlen.

Heuchelei – ohne Rationierung

Um sich reinzuwaschen, hüllt sich Stefan Felder in die Kleider des Verteidigers der Gleichheit. Auf die Frage, ob es ihn nicht stört, eine Zweiklassenmedizin vorzuschlagen, antwortet er: „Die gibt es heute schon – nur dass sie im Versteckten abläuft. Die Ärzte rationieren bereits. Das widerspricht aber dem Gleichbehandlungsgebot. Wenn wir mit klaren Kriterien festlegen, was bezahlt wird und was nicht, wäre das eine Rationierung, die sehr transparent ist“. Was sind wir blöd, dass wir daran nicht früher gedacht haben: Wenn Stefan Felder nur die Leistungen derjenigen rationieren möchte, die nicht zahlen können, dann nur deswegen, um die „Gleichbehandlung“ wiederherzustellen.
Für diese massive Heuchelei suggeriert Stefan Felder eine trügerische Verbindung zwischen der finanziellen Guillotine und der Tatsache, dass die medizinische Praxis regelmässig Entscheidungen erfordert, ob man zu einem gegebenen Zeitpunkt der Betreuung von Patient*innen eine Behandlung vornimmt oder nicht. Bei derartigen Entscheidungen werden Kriterien wie die Einschätzung der medizinischen Effizienz der Behandlung in der konkreten Situation der betroffenen Patient*innen, der Respekt der Präferenzen der Patient*innen, die Probleme der Priorität in Notfällen und begrenzten Ressourcen und auch der Respekt des Prinzips der Nicht-Diskriminierung berücksichtigt. Solche Überlegungen, die darin münden können, dass im einen Fall auf ein medizinisches Verfahren verzichtet wird und im anderen nicht, sind per Definition von Interpretationsspielräumen, Kontroversen und damit Unterschieden und auch Fehlern gekennzeichnet. Das hat aber nichts mit der finanziellen und diskriminierenden Guillotine von Felder zu tun: Alles, was kein ausreichendes Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweist, wird nicht mehr rückvergütet – ausser jenen, die sich eine Privatversicherung leisten können!
Es besteht kein Zweifel daran, dass „wirtschaftliche Überlegungen“ dazu tendieren, immer mehr Eingang in die medizinische Praxis zu finden. Dies deswegen, weil seit mehreren Jahrzehnten und insbesondere seit dem Inkrafttreten des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) im Jahr 1996 verbündete politische, soziale und wirtschaftliche Kräfte ständig auf die Unterwerfung der Gesundheitssysteme unter Marktmechanismen drängen, um die für sie – Pharmaunternehmen, Privatkliniken und andere Versicherungen – rentablen Aktivitätsbereiche auszuweiten. Gleichzeitig wird der Finanzzwang für alles erhöht, das öffentlich oder sozial finanziert wird: „zu voller“ Leistungskatalog, „zu viele“ öffentliche Spitäler usw. Die Diskurse, mit denen man auf uns einschlägt – auf uns mit „Kostensteigerung“ und „keine andere Lösung“ einhämmert, bis wir ganz benommen sind –, dienen dazu, massiv von Einzelinteressen geleitete politische Massnahmen als unabwendbar zu verkaufen: „Wir werden nicht darum herumkommen“. Professor Felder widmet sich (fast) voll und ganz dieser Mission. Interpharma hat mit ihrem „unabhängigen“ Lehrstuhl eine gute Investition getätigt. (7. Februar 2017)
Übersetzung aus dem Französischen durch RZ.

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2 Kommentare

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