Die lateinamerikanische Linke ist in zwei Lager gespalten: Das eine hält zu Ortega und dem Frente Sandinista. Diese sieht im Aufstand der nicaraguanischen Bevölkerung seit April 2018 eine von CIA, «Terroristen» und Drogenkartellen orchestrierte Verschwörung. Das andere Lager ist auf der Seite der protestierenden Opposition, in der sich Student*innen, Bäuer*innen, Umweltaktivist*innen, Rentner*innen, aber auch Unternehmer*innen finden. Dementsprechend ist auch die Nicaragua-Solidaritätsbewegung in Europa gespalten.
von Theo Vanzetti (BFS Zürich)
Genauso wie gegenüber Maduros Regierung in Venezuela, gibt es einige Linke, welche Ortega und seine ebenfalls sehr mächtige Gattin und Vizepräsidentin Rosario Murillo beinahe bedingungslos zu unterstützen scheinen. Dabei wird bewusst oder unbewusst verdrängt, wie wenig der heutige Frente Sandinista mit der Sandinistischen Revolution in den 1970er und -80er Jahren zu tun hat. Die Führungscliquen um Ortega und Murillo haben sämtliche demokratischen Mechanismen der Partei ausgehebelt, an der Basis werden keine inhaltlichen Schulungen abgehalten und die Wirtschaftspolitik der FSLN Regierung (seit 2007) ist zutiefst neoliberal. Exponent*innen der Regierung argumentieren, diese Wirtschaftspolitik sei notwendig um Sozialprogramme zu finanzieren. Doch auch wenn es diese geben mag, ist es ein Fakt, dass sich die herrschende Klasse Nicaraguas schamlos bereichert. (vgl. Das Versagen der «progressiven» Regierungen). Und da gehört der Ortega-Clan mit dazu.
Was ich aus erster Hand aus Nicaragua erfahre, ist beängstigend: Junge Leute die an Oppositionsdemos gesehen wurden, werden nachts zu Hause entführt und «verschwinden». Man kann fast niemandem mehr trauen. Es werden Mitglieder der eigenen Familie denunziert. Natürlich schlachten rechte Medien im In- und Ausland jede Gräueltat der Regierung aus und verbreiten auch Fake-News. Doch wenn man wirklich glaubt, sämtliche Berichte in sozialen und konventionellen Medien über Staatsterror, inoffizielle Sicherheitskräfte der Regierung, Folter und Vergewaltigungen im Gefängnis, auf der Strasse liegen gelassene, schwer misshandelte Leichen und so weiter seien das Produkt einer imperialistischen Verschwörung, dann ist man meiner Meinung nach naiv und paranoid.
Es ist beelendend, dass es kaum linke Alternativen zu Ortega und Murillo zu geben scheint. Einige wenige Sandinistinnen von früher, welche den ursprünglichen Idealen treu geblieben sind, kritisieren Ortega offen. Unter den protestierenden Studentinnen, in der Ökobewegung und andernorts finden sich sicher progressive bis antikapitalistische Kräfte. Doch der Frente Sandinista hat seit den 1990er Jahren beinahe sämtliche kritischen Stimmen mundtot gemacht. Unter dem derzeitigen repressiven Regime ist es für eine neue Basisbewegung extrem schwierig, sich zu organisieren. In der Opposition machen sich derzeit Kräfte wie der Unternehmer*innenverband COSEP und die katholische Kirche breit. Beide paktierten bis vor kurzem mit Ortegas Regierung. Es ist wirklich schwierig zu sagen, wie es in Nicaragua weitergehen soll.
Doch eines sollte klar sein: Ortega und Murillo haben kein bisschen Solidarität verdient. Und das nicht erst seit dem Aufstand. Nur ein Beispiel dazu: Um wieder an die Macht zu kommen, paktierte Ortega 2006 mit ultrakonservativen Kreisen und setzte in Nicaragua ein absolutes Abtreibungsverbot durch. Der Frente Sandinista ist so entstellt, dass er – nach einer potentiellen Entmachtung von Ortega und Murillo – kaum reformierbar scheint.
Wir wollen keine campistische Politik nach der Logik ‚Der Feind meiner imperialistischen Feinde ist mein Freund’. Wenn einige europäische Linke in Nicaragua (oder Venezuela) dennoch die derzeitige Speerspitze der sozialistischen Revolution sehen, muss man festhalten, dass es heute anscheinend beschämend wenig braucht, um als revolutionär zu gelten.