Der Zyklus progressiver Regierungen in Lateinamerika ist endgültig zu Ende. Nicht nur externe Faktoren wie imperialistische Einmischung sind für das Scheitern dieser Projekte verantwortlich. Für die Glaubwürdigkeit antikapitalistischer Alternativen ist deshalb die kritische Auseinandersetzung mit den Fehlern dieser Regierungen unerlässlich.
von Luca Caplero (BFS Basel) und Theo Vanzetti (BFS Zürich)
Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends schauten viele Linke mit grosser Bewunderung nach Lateinamerika. Die dunklen Zeiten der neoliberalen Gegenreformen schienen endlich zu enden. Nach und nach kamen – getragen durch soziale Bewegungen – progressive Regierungen an die Macht. Angefangen mit Venezuela, wo 1998 ein linker ehemaliger Militärangehöriger – Hugo Chávez – die Präsidentschaftswahlen gewann, breitete sich diese Welle weiter aus. 2003 übernahm in Brasilien der ehemalige Gewerkschaftler Lula da Silva mit seiner Arbeiterpartei (PT) den Präsidentenposten, 2006 gewann Evo Morales in Bolivien die Wahlen und ein Jahr später schloss der Ecuadorianer Rafael Correa diese erstaunliche Serie ab. Beobachter*innen begannen von einem „progressiven Zyklus“ zu sprechen, von dem man sich ein definitives Ende der neoliberalen Hegemonie in der Region versprach.Tatsächlich vertraten diese Regierungen trotz bedeutender Unterschiede alle eine fortschrittliche Sozialpolitik: Die Armut wurde reduziert, die Bildungs- und Gesundheitssektoren verbessert und die Sozialversicherungssysteme ausgebaut. Mit neuen Verfassungen sollten Staat und Gesellschaften demokratisiert und deren kulturelle und ethnische Vielfalt anerkannt werden. Auch international strahlte dieser Umschwung aus und mit neuen Projekten der regionalen Integration sollte den imperialistischen Einflüssen in der Region die Stirn geboten werden.
Allerdings ist dieser progressive Impuls schon seit einiger Zeit zum Erliegen gekommen. Mittlerweile befinden sich alle diese Regierungen in einer tiefen Krise oder sind, wie im Falle Brasiliens, 2016 von einer rechten Regierung abgelöst worden. Im Oktober gewann in Brasilien mit Bolsonaro gar ein Faschist die Präsidentschaftswahlen. Auch in Venezuela ist die Lage ausgesprochen akut: Eine astronomische Inflationsrate hat zu massiver Verarmung sowie Mangel- und Unterernährung geführt. Überlebenswichtige Medikamente fehlen fast gänzlich und man schätzt, dass mehr als 2 Millionen Menschen das Land bereits verlassen haben. Weckte der sogenannte „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Venezuela zunächst bei Millionen Menschen grosse Hoffnungen auf ein würdiges Leben, wird damit vielerorts nur noch Lebensmittelknappheit, Korruption, Umweltverschmutzung, Repression und Unsicherheit assoziiert.
In Nicaragua hat sich eine angeblich linke Regierung in eine autoritäre Diktatur verwandelt. Mit massiven Protesten gegen Rentenkürzungen konfrontiert, griff Präsident Daniel Ortega, heute wie in den 1980er-Jahren während der sandinistischen Revolution Chef der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront FSLN, zu massiver Repression. Unterdessen hat die Regierung die Reform zwar zurückgezogen, doch die Protestbewegung fordert jetzt Ortegas Rücktritt. Die Reaktion der Regierung und Schlägertrupps der FSLN waren das Gewalttätigste, was sich Ortega seit seiner Wiederwahl 2006 geleistet hat. Bis heute gab es je nach Quelle zwischen 300 und 400 Tote und linke Oppositionelle werden systematisch mundtot gemacht.
Doch immer noch äussern sich Linke, auch in der Schweiz, solidarisch zu diesen Regierungen. Für die Glaubwürdigkeit linker Alternativen zum Kapitalismus ist es deshalb von grosser Bedeutung, die lateinamerikanische Erfahrungen kritisch zu diskutieren und deren Fehler und blinden Flecken kompromisslos offenzulegen.
Die Abhängigkeit von Rohstoffexporten wurde zu wenig hinterfragt
Der anfängliche sozialpolitische Erfolg dieser Regierungen ist das Produkt einer spezifischen wirtschaftlichen Konjunktur. Aussergewöhnlich hohe Rohstoffpreise schufen hohe Staatseinnahmen, die teilweise an bedürftige Lohnabhängige ausgeschüttet wurden. Aber lange währte dieser Rohstoffboom nicht. Nach der Wirtschaftskrise von 2008 stürtzten auch die internationalen Rohstoffpreise in die Tiefe und das einzige wirtschaftspolitische Fundament des lateinamerikanischen Progressismus zerbröckelte.
Ein zentraler Mangel dieser Projekte, auf den viele linke Kritiker*innen von Beginn an hinwiesen, wurde nun gnadenlos aufgedeckt. Denn die wirtschaftliche Transformation dieser Gesellschaften wurde sträflich vernachlässigt. Schlimmer noch: Die Abhängigkeit vom Rohstoffexport nahm unter den progressiven Regierungen gar noch zu. In Venezuela stammen mittlerweile 98% der Exporteinnahmen aus dem Verkauf von Erdöl, während in Brasilien unter der Arbeiterpartei eine bedeutende Deindustrialisierung stattfand. Evo Morales’ bolivianische Regierung treibt den Ausbau der Produktion von Gebrauchsgütern in Bolivien emsig voran. Dies bedeutet zwar insofern gegenüber anderen Staaten einen Fortschritt, als dass die inländische Produktion angekurbelt wird. Das Wirtschaftssystem als solches, welches die nationale Bourgeoisie unterstützt und die Emanzipation der Lohnabhängigen unterdrückt, bleibt aber unangetastet. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass Morales dabei vom „Andenkapitalismus” spricht, sollte klar sein, wie wenig dies mit Sozialismus zu tun hat.
Bei der Abhängigkeit vom Rohstoffexport geht es um viel mehr als nur um die Frage der wirtschaftlichen Einnahmequellen. Vielmehr wird die gesamte Gesellschaft durch dieses Wirtschaftsmodell geprägt. Die Machtkonzentration durch Rohstoff- oder Agrokonzerne stärkt die bestehende Klassenstruktur oder führt, wie im Falle Venezuelas, zur Entstehung einer neuen herrschenden Klasse, die vom Rohstoffexport profitiert. Korruption und Misswirtschaft sind fast unvermeidbar. Ausserdem fördert die Ausschüttung der Exporteinnahmen an die Lohnabhängigen eine von oben diktierte klientelistische Sozialpolitik.
Vor allem aber führt dieses Wirtschaftsmodell zu gravierenden ökologischen Problemen und heizt den Klimawandel weiter an. Durch den Boom der Agroindustrie leiden Millionen unter einer nicht nachhaltigen Landwirtschaft und der massiven Nutzung von gesundheitsschädlichen Pestiziden; das Erschliessen neuer Erdölquellen führt zur Enteignung von Kleinbäuer*innen und zur Abholzung von Regenwäldern. Ein jüngeres Beispiel dieser umweltzerstörerischen Politik ist der Entscheid der venezolanischen Regierung, 12% der Fläche des Landes in eine Sonderzone für den Abbau von Mineralien umzuwandeln (der sogenannte „Arco Minero de Orinoco“). Um ausländische Investoren anzulocken, gilt in dieser Zone die venezolanische Rechtsordnung nur bedingt: Die politischen und gewerkschaftlichen Rechte sind auf ein Minimum reduziert und die Umweltschutzgesetze werden ausgehebelt.
Die Wirtschaftspolitik in Nicaragua hat erst recht nichts mit Sozialismus zu tun. Ortegas Regierung bietet keine Alternative zum IWF, sondern kooperiert mit ihm. Zwar hat sich das BIP zwischen 2007 und 2017 verdoppelt. Doch dies geschah auf Kosten der Ärmsten, weshalb die Klassengegensätze massiv zugenommen haben. Während die Zahl der Personen mit einem Vermögen von 30 Millionen USD oder mehr kontinuierlich steigt, waren 2017 80 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung informell beschäftigt. Das entspricht einem Anstieg von 20 Prozentpunkten im Vergleich zu 2009. Die Steigerung des BIP wurde durch Massnahmen wie die Einführung von Freihandelszonen erreicht, in denen arbeitsintensive Güter wie Tabak produziert werden. Die Regierung wirbt gegenüber ausländischen Investor*innen stolz mit dem tiefsten Mindestlohn der Region.
Die Welt verändern, indem der Staat übernommen wird?
Der Wahlsieg der progressiven Parteien in Lateinamerika beruhte auf massiven sozialen Bewegungen. In den 1990er Jahren entstanden überall vielfältige Widerstandsbewegungen gegen die neoliberale Politik und für soziale und kulturelle Rechte. In Bolivien bekämpften soziale Bewegungen erfolgreich die Privatisierung der Wasser- und Gasversorgung; die Arbeiter*innen- und Landlosenbewegung in Brasilien war ein entscheidender Faktor für Lula da Silvas Wahlsieg; und in Venezuela scheiterte 2002 ein von den USA orchestrierter Putsch aufgrund eines massiven Widerstands aus der Bevölkerung, der zur Radikalisierung des Regierungsprogramms führte.
Trotz dieser sozialen Basis zielten diese Regierungen nie auf eine radikale politische Transformation. Anstatt die staatlichen Institutionen umzugestalten und zu demokratisieren, nisteten sich die neuen progressiven Parteien im bestehenden Staatsapparat ein. Politische Stabilität war die oberste Priorität, weshalb Regierungen wie die brasilianische von Beginn an einen Pakt mit der herrschenden Klasse anstrebten. Die Basis dieser Regierung – die sozialen Bewegungen von Arbeiter*innen, Bäuer*innen, Landlosen oder Indigenen – wurden häufig in die Staats- und Parteiapparate integriert, verloren an Bedeutung oder distanzierten sich, wie im Falle von einigen Indigenen-Organisationen in Ecuador oder Bolivien, von der Regierungspolitik.
Venezuela, wo die Regierung der Vereinigten Sozialistischen Partei PSUV das radikalste Projekt verfolgte, verdeutlicht diesen Prozess besonders gut. Nach Chávez’ Machtübernahme und dem gescheiterten Putsch wurde der Repressionsapparat nicht etwa demokratisiert, sondern vielmehr noch stärker in die innersten Machtzirkel integriert. So besetzen mittlerweile viele Militärs zahlreiche Schlüsselpositionen in Staat und zentralen Wirtschaftssektoren. Mit dem Aufbau sogenannter „Kommunen“ – Nachbarschaftskomitees von Bürger*innen, welche politische Projekte umsetzen und kontrollieren sollten – stellte sich die Regierung zwar begrifflich in eine radikale sozialistische Tradition, deren Funktion war aber nie eine grundlegende Umgestaltung des Staates. Anstelle dessen wurden diese Kommunen in vielen Fällen zu Anhängseln von Staat und Regierungspartei.
Autoritarismus als Antwort auf eine instabile sozialpolitische Lage
All diese Aspekte sollen selbstverständlich nicht vergessen machen, dass rechte und imperialistische Kräfte stets auf eine Destabilisierung der progressiven Regierungen hinarbeiteten. Diesem Umstand zum Trotz muss anerkannt werden, dass diese progressiven Regierungen angesichts der Angriffe von rechts und der instabilen Wirtschaftslage keineswegs einen Kurswechsel vornahmen und ihr linkes Projekt zu radikalisieren versuchten. Stattdessen wurde der Machterhalt zur obersten Priorität. In einer Zeit der wirtschaftlichen Krise, dem Schwinden der sozialen Basis und dem Erstarken der Rechten blieb Autoritarismus somit häufig das letzte Mittel.
Dabei verschärften sich antidemokratische Tendenzen, die schon länger zu beobachten waren. So krankten viele progressive Regierungen von Beginn weg an einem Führerkult, der demokratische Diskussionen in den Parteien erstickte. In Zeiten der Krise und Instabilität nahm diese Entwicklung neue Dimensionen an und Kritiker*innen und soziale Bewegungen, welche die Politik von links infrage stellten, wurden übergangen. Weiter wurde der Widerstand von Indigenen, Bäuer*innen und Umwelt- schützer*innen diffamiert und im Namen des wirtschaftlichen Fortschritts zerschlagen. In Brasilien griff die Nachfolgerin von Lula da Silva, Dilma Rousseff, zur Repression, als 2013 Millionen von Menschen für eine Stärkung des öffentlichen Verkehrs auf die Strasse gingen.
In Venezuela sind die autoritären Tendenzen der „linken“ Regierung besonders fortgeschritten. Seit dem Wahlsieg der Oppositionspartei in den Parlamentswahlen von 2015 findet ein erbitterter Machtkampf zwischen Opposition und Regierung statt. Dabei missachtet die Regierungspartei konsequent die Verfassung, die sie selbst verabschiedet hat, und beschneidet demokratische Grundrechte. Opfer dieser autoritären Politik sind nicht nur Rechte. Auch linke Kritiker*innen werden konsequent zum Schweigen gebracht und als Agent*innen des Imperialismus verunglimpft. Ähnliches gilt auch für Nicaragua, wo sich Ortega und seine Vizepräsidentin und Ehefrau Rosario Murillo schon längst von den einstigen Idealen der Sandinistischen Revolution verabschiedet haben und mit allen Mitteln ihre Macht verteidigen.
Alte Muster
Das Scheitern der progressiven Projekte in Lateinamerika ist offensichtlich. Was zunächst von vielen als erfrischende und radikale Erneuerung des sozialistischen Projekts gepriesen wurde, nahm Züge an, die verglichen mit dem „Realsozialismus“ des 20. Jahrhunderts gar nicht so neu sind. Auch der sogenannte „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ wird häufig nur noch mit Einparteienherrschaft, Autoritarismus, Missachtung der Menschenrechte, Misswirtschaft, Korruption und Umweltzerstörung verbunden. Gleichzeitig verfallen auch europäische Linke in altbekannte Muster und unterstützen bedingungslos Regierungen, nur weil sie angeblich „antiimperialistische“ Politik betreiben.
Nur ein Sozialismus, der für Menschenrechte, Demokratie, Pluralismus und eine radikale gesellschaftliche Umgestaltung steht, kann eine glaubwürdige Alternative zum aktuellen Gesellschaftssystem bieten.
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