Am Dienstag, 30. Januar 2018 lancierte das Politbüro der Kapitalfraktion der Schweizerischen Volkspartei (SVP) erneut ihren Kampf gegen das Personenfreizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU. Der Vorstoss löst nicht nur bei anderen bürgerlichen Parteien, sondern auch in der Linken beträchtliche Verwirrung aus und provoziert die Gewerkschaften zur Verteidigung eines Abkommens, das für alle Lohnabhängigen unabhängig von ihrer Herkunft massive Verschlechterungen mit sich brachte.
von BFS Zürich
Die fremden- und arbeiter*innenfeindliche SVP
Die SVP-ExponentInnen Magdalena Martullo-Blocher, Thomas Aeschi, Jean-François Rime und Jean-Daniel Faucherre – allesamt UnternehmerInnen oder Wirtschaftsberater mit beträchtlichen Vermögen – meinten an einer Pressekonferenz am 30. Januar 2018, dass die Gewerkschaften die Gewinnerinnen des Personenfreizügigkeitsabkommen und den damit verbundenen flankierenden Massnahmen seien. Die hiesigen Löhne würden dadurch zu stark geschützt und der liberale Arbeitsmarkt sei aufgrund der kartellhaften Politik der Gewerkschaften in Gefahr. Insbesondere die Gesamtarbeitsverträge (GAV) würden der wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz im Wege stehen.
Da die 2014 angenommene «Masseneinwanderungsinitiative» nicht nach den Wünschen der SVP umgesetzt wurde, lancierte sie im Januar 2018 die «Begrenzungsinitiative», welche eine noch rigidere Steuerung der Zuwanderung verlangt, als sie eh schon existiert. Falls sich bei Annahme der Initiative die Schweiz und die EU nicht auf die Umsetzung der Gesetzesvorlage einigen können, müsste das Personenfreizügigkeitsabkommen in der Folge gekündigt werden. Damit könnte die SVP zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Erstens könnte sie sich einmal mehr als heimatliche Anti-EU-Partei in Szene setzen. Zweitens würden die ihr lästigen flankierenden Massnahmen hinfällig werden.
Interessanterweise findet sich SVP mit ihrem Vorhaben, die flankierenden Massnahmen abzuschaffen, auf einer Linie mit der EU und der Schweizer Verhandlungsdelegation, welche in den kommenden Monaten zusammen über die Erneuerung der bilateralen Verträge verhandeln.
In den vergangenen Jahren rechtfertigte die SVP ihre fremdenfeindlichen Initiativen jeweils auch mit dem angeblichen Schutz der Schweizer Lohnabhängigen vor der ausländischen Konkurrenz und versuchte damit (meist erfolgreich) die Lohnabhängigen zu spalten. Dieses Mal legt die SVP die Karten gleich zu Beginn der Kampagne offen auf den Tisch. Sie greift die Arbeiter*innen argumentativ direkt an und macht deutlich, welche Interessen sie wirklich vertritt: nämlich diejenigen eines Teils der Schweizer Bourgeoisie.
Der neuerliche Vorstoss der SVP ist somit fremden- und arbeiter*innenfeindlich zugleich. Die Frage bleibt, ob die Linke nun als Reaktion darauf die Personenfreizügigkeit und die damit verbundenen flankierenden Massnahmen bedingungslos zu verteidigen hat?
Wir haben einen anderen Vorschlag.
Wirkungslose flankierende Massnahmen
Das Abkommen über den „Freien Personenverkehr“ ist ein Grundpfeiler der Europäischen Union. In den bilateralen Verträgen zwischen der Schweiz und den Mitgliedsstaaten der EU wurde die Personenfreizügigkeit ebenfalls ratifiziert und ist seit 2002 in Kraft. Das Abkommen gewährt den Staatsangehörigen der EU und der Schweiz das Recht innerhalb der EU ihren Arbeitsplatz bzw. Aufenthaltsort frei zu wählen.
Das tönt zwar schön, ist in der Realität aber mit gravierenden Problemen verbunden. Denn entgegen der Behauptung sowohl der Gewerkschaften, als auch der SVP vermögen die flankierenden Massnahmen die hiesigen Arbeitsbedingungen und Löhne nicht zu schützen. Deshalb führte die Einführung der Personenfreizügigkeit zu einer massiven Zunahme von Lohn- und Sozialdumping. Für die Schweizer Unternehmer*innen gleicht das Abkommen seither einem Freipass, die europäischen und schweizerischen Lohnabhängigen in Konkurrenz zueinander zu setzen und die Arbeitskosten auf dem Buckel der Lohnabhängigen zu senken.
Fünf Forderungen für einen wirklichen Arbeiter*innenschutz
Als die Personenfreizügigkeit 2005 auf die neuen EU-Mitgliedstaaten ausgedehnt werden sollte, ergriff die Bewegung für den Sozialismus (BFS/MPS) das Referendum dagegen, weil wir die flankierenden Massnahmen als völlig ungenügend und unwirksam betrachtet haben. Die Gewerkschaften und die SP unterstützten hingegen das Personenfreizügigkeitsabkommen.
Wir waren deshalb ziemlich isoliert, als wir das linke Referendum lancierten. Ins Zentrum unserer Argumentation stellten wir fünf elementare Forderungen: Erstens: 800 Arbeitsinspektor*innen, die unangemeldet die Betriebe kontrollieren und Zugang zu allen Unterlagen haben sollten (Inspektor*innen mit klaren Rechten und Schutzmechanismen, also mit deutlich mehr Befugnissen als sie jetzt haben). Zweitens: Obligatorische Meldung der Löhne und Qualifikation der eingestellten Arbeiter*innen an die zuständigen Stellen. Drittens: Zwingende Normalarbeitsverträge mit Mindestlöhnen und verbindlichen Arbeitszeiten für Sektoren ohne Gesamtarbeitsvertrag. Viertens: Eine GAV-Allgemeinverbindlichkeitserklärung (GAV-Bestimmungen erhalten Gesetzeskraft) muss auch dann möglich sein, wenn sie nur von Seite der gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen beantragt wird. Und fünftens: Wirksamer Kündigungsschutz für Personalvertretungen und Gewerkschaftsaktivist*innen sowie generell für alle Lohnabhängigen.
Heute sind diese Forderungen keineswegs überholt, sie sind sogar noch dringender geworden.
Keine Personenfreizügigkeit ohne Gewerkschaftsrechte
Selbstverständlich setzen wir uns für die Bewegungsfreiheit aller Menschen ein und das nicht nur in Europa. Allerdings muss diese Freiheit von tatsächlich greifenden Massnahmen zum Schutz der Arbeitsbedingungen und Löhne begleitet werden. Dies ist mit den aktuellen flankierenden Massnahmen nicht der Fall.
Die Schweizerische Volkspartei (SVP) ergriff 2005 ebenfalls das Referendum, allerdings aus fremdenfeindlichen Gründen. Dies trug uns Aktivist*innen der BFS den Vorwurf der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie ein, mit der SVP einen Pakt zu schliessen und selbst fremdenfeindlich zu sein. Die Entwicklung auf den Schweizer Arbeitsplätzen – die krasse Zunahme von Lohndumping, regelmässige Fälle von sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen, unkontrollierbares Subunternehmertum etc. – straft diesen Vorwurf Lügen und beweist, dass unsere Befürchtungen gerechtfertigt waren. Mittlerweile haben ein Teil der Gewerkschaften und sogar einige SP-Exponent*innen eingesehen, dass sich das Lohndumping seit der Einführung der Personenfreizügigkeit von einer Randerscheinung zu einem veritablen Problem entwickelt hat, welches nicht zuletzt dafür verantwortlich ist, dass viele Lohnabhängige in der Schweiz berechtigte Ängste um ihren Lohn und ihren Arbeitsplatz hegen und folglich empfänglicher wurden für die rassistischen Scheinlösungen der SVP (Masseneinwanderungsinitiative u.a.) und deren Hetze gegen die Migrant*innen.
Die falsche Reaktion der Gewerkschaften
Auf den aktuellen Vorstoss der SVP reagierte der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) hingegen mit dem gleichen Reflex wie schon 2005. Der SGB verteidigt die positiven Auswirkungen der Personenfreizügigkeit für die Unternehmer*innen und den Schweizer Arbeitsmarkt («Mit den Bilateralen Verträgen haben Exportfirmen einen besseren Zugang zum wichtigen Absatzmarkt EU.») und huldigt – fernab jeglicher Realität – die flankierenden Massnahmen als das wirksamste Schutzschild für die Arbeiter*innen gegen Ausbeutung und Lohndumping.
Die Gewerkschaften haben insofern Recht, als dass das Personenfreizügigkeitsabkommen für einen Grossteil der Schweizer Unternehmer*innen quasi eine Überlebensnotwendigkeit im internationalen Konkurrenzkampf darstellt. Aufgrund der Schwierigkeit, ihre Profite mittels angemessener Steigerung der Arbeitsproduktivität zu erhöhen, bleibt den Schweizer Unternehmer*innen – abgesehen von all den Möglichkeiten, die Kapitalkosten zu verringern (Steuerhinterziehung und dergleichen) – oftmals nur noch der Weg, die absolute Zahl an geleisteten Arbeitsstunden zu erhöhen. Neben einer allgemeinen Erhöhung der Arbeitszeit (wie insbesondere nach dem «Frankenschock» 2015 geschehen), der Integration von mehr Frauen in den Arbeitsmarkt und der Anhebung des Rentenalters für Männer und Frauen, ist die Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften eine Notwendigkeit, um wirtschaftliches Wachstum – sprich die Steigerung ihrer Profite – zu gewährleisten.
Quelle: Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement
Die Reaktion der Gewerkschaften ist auch aus einem anderen Grund nicht erstaunlich. So wurde die Unterstützung der Gewerkschaften zum Personenfreizügigkeitsabkommen von den Unternehmer*innen erkauft, indem sie ihren Zuspruch zur Ausweitung der Gesamtarbeitsverträge garantierten. Die Gesamtarbeitsverträge tragen einen beträchtlichen Teil zur Finanzierung der Gewerkschaften bei. Indem die Gewerkschaften einen Teil der paritätisch von Arbeiter*innen und – in geringerem Ausmass – von Unternehmer*innen einbezahlten Berufsbeiträgen verwalten, finanzieren sie sich selbst. Aufgrund dieser finanziellen Abhängigkeit sind die Gewerkschaften auf Gedeih und Verderb auf die GAV angewiesen. Und dadurch erklärt sich auch der Gehorsam der Gewerkschaften gegenüber den Unternehmerverbänden in der Frage der Personenfreizügigkeit.
Für einen gewerkschaftlichen Neustart
Nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch andere Teile der Linken reagieren auf den Vorstoss der SVP mit einer pauschalen Verteidigung des Status quo. Die WOZ meint in ihrer Ausgabe vom 1. Februar 2018, dass «die flankierenden Massnahmen mit ihren Lohnkontrollen […] so weit wie möglich [verhindern], dass in der Schweiz Niedriglohnjobs wie beispielsweise in Deutschland entstehen.» Mit Verlaub, wahrscheinlich würde man sogar den WOZ-Journalisten statistisch gesehen dem hiesigen Niedriglohnsektor zuordnen. Aber auf jeden Fall ist es eigenartig zu behaupten, in der Schweiz würde die Entstehung eines Niedriglohnsektors verhindert. Abgesehen davon, dass jede und jeder weiss, dass Menschen in der Schweiz zu Niedriglöhnen arbeiten, ist der Unterschied hierzulande, dass einige Niedriglohnbranchen mit dem Segen der Gewerkschaften und dem Siegel des Gesamtarbeitsvertrages offiziell beglaubigt wurden. Und in der Logik der Gewerkschaften kann eine Branche, in der es einen GAV gibt, keine Niedriglohnbranche sein.
Um die Realität wieder vom Kopf auf die Füsse zu stellen, hier zwei Beispiele: im GAV der Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie (MEM) sind Mindestlöhne zwischen 3300 und 4150 Franken festgelegt; im L-GAV des Gastgewerbes gelten Mindestlöhne ab 3400 Franken. Diese Mindestlöhne sind offiziell Niedriglöhne, was die Gewerkschaften ja mit ihrer Mindestlohninitiative 2014, mit der sie einen gesetzlichen Mindestlohn von 4000 Franken forderten, indirekt auch zugaben.
Die neu entflammte Diskussion um die Personenfreizügigkeit wäre die Gelegenheit für die Gewerkschaften und die Linke, um den Unternehmer*innen grössere Zugeständnisse in Bezug auf die hiesigen Arbeitsbedingungen und Arbeiter*innenrechte abzuringen und damit wieder einmal in die Offensive gehen zu können. Der massive Ausbau der flankierenden Massnahmen, sprich der Ausbau der sozialen und gewerkschaftlichen Rechte für alle Lohnabhängigen unabhängig von ihrer Herkunft, ist angesichts der zunehmenden Verarmungstendenzen, den alltäglichen Fällen von Lohndumping, den fremdenfeindlichen Kampagnen der SVP und der beängstigenden Rechtsentwicklung in der Schweiz und den anderen europäischen Ländern dringender denn je. Und der Kampf für den Ausbau dieser Rechte könnte nicht zuletzt auch zu einem Startpunkt zur Wiederbelebung der hiesigen Gewerkschaften werden.
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