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Deutschland: Organisieren und Kämpfen bei Amazon (Teil 3)

Christian K. arbeitet seit 10 Jahren als Amazon-Lagerarbeiter in Bad Hersfeld in Hessen. Dort wurde das erste Amazon Lager in Deutschland eröffnet. Er ist in der Gewerkschaft ver.di engagiert als Vertrauensmann, in der Tarifkommission und im Betriebsrat, und aktiv bei Organisieren – Kämpfen – Gewinnen, ein Projekt, das zur Vernetzung von Aktivistinnen und Aktivisten in den Betrieben und Gewerkschaften beitragen möchte, um eine starke Stimme für eine bewegungsorientierte Gewerkschaftspolitik zu schaffen. Christian hat am Anderen Davos 2019 in Zürich über die Arbeitskämpfe bei Amazon gesprochen. Wir veröffentlichen hier seine Intervention.

von Christian K.

Hier geht es zum ersten und zum zweiten Teil.

Kämpfen lohnt sich

Es wird oft erzählt, die Streiks hätten keinen Erfolg gebracht. Das stimmt überhaupt nicht. Wir haben bei einem Einstiegslohn von 8.50 Euro begonnen. Amazon hat dann in den ersten Jahren der Streiks wieder Lohnerhöhungen entdeckt. Mittlerweile liegt der Einstiegslohn bei 11.18 Euro.

Amazon hat versucht, diese Entwicklung zu verhindern, indem interne Fokus-Treffen organisiert wurden, an denen mit der Betriebsleitung über positive und negative Aspekte diskutiert werden kann. Ich habe da einmal das Weihnachtsgeschäft erwähnt, weil es für Amazon so wichtig ist: Da der Gewinn in dieser Zeit steigt, sollten sie uns ein Weihnachtsgeld bezahlen. Zuerst zeigten sie kein Interesse daran. Im selben Jahr haben wir dann mit den Streiks angefangen und auf Jahresende gab es Weihnachtsgeld. Das war ein wichtiger Erfolg.

Wie am Anfang erklärt, waren früher 80 Prozent der Leute befristet angestellt. Das hat sich nun umgekehrt, heute sind nur 20 Prozent befristet. Wir haben gelernt, uns vielmehr zu beschweren, auch über kleine Missstände, die uns im Arbeitsalltag stören. Zum Beispiel war die Schriftgrösse der ausgehängten Arbeitspläne viel zu klein. Wir haben uns dann im Betriebsrat darüber beschwert und die Vorgesetzten wurden gezwungen, Verbesserungen umzusetzen.

Das Kräfteverhältnis hat sich verändert

Die Geschäftsleitung steht mittlerweile in der Defensive. Beispielsweise werden die all hands-Veranstaltungen schon gar nicht mehr abgehalten, denn die Kolleginnen und Kollegen stellten nur noch kritische Fragen und beschuldigten die Geschäftsleitung, unfähig zu sein. Allgemein stehen die Vorgesetzten uns gegenüber oft mit gesenktem Kopf da. Die interne betriebliche Öffentlichkeit hat sich radikal verändert.

Hatten wir früher Schwierigkeiten mit den Betriebsräten, konnten wir bei den letzten Wahlen an allen Standorten die Betriebsräte erobern. Das hat uns eine riesige Spielwiese eröffnet, wir können nun gut Ärger machen. Auch die Presse berichtet immer mehr von unseren Auseinandersetzungen in den Betrieben und von den Streiks.

Der grösste Erfolg ist aber meiner Meinung nach unser grosses Netzwerk in Deutschland und Europa. Und wir versuchen vermehrt, auch darüber hinaus zu gehen, beispielsweise haben wir letztes Jahr Kolleginnen und Kollegen in China besucht und werden voraussichtlich nächstes Jahr in die USA fliegen.

Nichtsdestotrotz haben wir weiterhin Probleme: Wir streiken nach wie vor in der Minderheit und wenden eine Guerilla-Taktik an. Wie würden sich denn die Verhältnisse ändern, wenn eine Mehrheit streiken würde?

Interne Konflikte

Gerade zu Beginn hatten wir auch Probleme mit internem Gegenwind, das heisst mit Kolleginnen und Kollegen, die sich gegen uns richteten. Wir haben erlebt, wie Leute mit ihren Autos in die Streikposten reingefahren sind. Und wir haben auch schon Morddrohungen bekommen. Wir hatten am Anfang damit zu kämpfen, aber das hat sich mittlerweile auch gelegt. Denn die Geschäftsleitung hat mit ihrem Verhalten unsere Reihen gestärkt.

Die Probleme mit der aktiven Beteiligung bleibt jedoch. Und weil wir den Anspruch haben, basisdemokratisch zu sein, zielen wir auf die Beteiligung einer relativ grossen Masse. Weil aber das Einzugsgebiet von Amazon sehr gross ist, haben wir auch Schwierigkeiten, Treffen zu organisieren. Oft können wir uns nur sonntags treffen, denn wenn man in der Wechselschicht ist oder eine Dreifachschicht hat und man seine Familie nur ein Mal die Woche sieht, dann wird das auch relativ schwierig. Wir arbeiten an Konzepten, um die Beteiligung zu erhöhen. Beispielsweise bieten wir während unseren Treffen selbstorganisierte Kinderbetreuung an. Mit solchen Massnahmen können wir die Beteiligung sicherlich erhöhen.

Dann haben wir noch ein weiteres Problem: Wir haben zwar einen basisdemokratischen Ansatz, aber Amazon ist nur mit einer Gesamtstrategie zu schlagen. Die Aktionen in einem Lager müssen sich also in die Gesamtstrategie einordnen.

Amazon wendet natürlich zahlreiche Gegenmassnahmen an: Sie sprechen mit jedem einzelnen Arbeiter, versuchen ihn zu isolieren, fragen ihn, warum er streikt. Das macht die Geschäftsleitung vor allem mit Kolleginnen und Kollegen aus der zweiten oder dritten Reihe. Die Hauptaktivistinnen und -aktivisten werden überhaupt nicht angesprochen.

Zudem treffen die meisten krankheitsbedingten Kündigungen Gewerkschaftsaktivisten als erstes. Auch schafft es Amazon mittlerweile, in der Presse souverän zu agieren: Schickte die Geschäftsleitung früher die Presse einfach weg, machen sie heute eine systematische Pressearbeit, um sich gegen unsere Aktionen zu verteidigen. Und schliesslich schiessen die neuen Lager wie Pilze aus dem Boden. Als Gewerkschaft hinken wir bei der Erschliessung der neuen Lager immer einen Schritt hinterher.

Der alltägliche Widerstand gibt Sauerstoff

Ich persönlich finde den alltäglichen Widerstand, der bei Amazon entstanden ist, am schönsten. Sicherlich existierte er immer schon ein Stück weit. Weil da gibt es beispielsweise eine grosse Anzahl von unsinnigen Regeln und Arbeitsanweisungen, von denen kein Mensch weiss, welche nun gelten und welche nicht. Diese Regeln können aber bestens dazu benutzt werden, um mit „Dienst nach Vorschrift“ den Arbeitsrhythmus zu verlangsamen. Wir haben einen Kollegen, der hat das über Monate hinweg gemacht und während andere Kollegen in einer Stunde 300 Artikel bearbeitet haben, hat er einen Artikel bearbeitet. Sie wollten ihm eine Abmahnung geben, er hat sich aber verteidigt und gemeint, sie sollen richtig kontrollieren. Tatsächlich konnten sie ihm nichts tun. 

Dann gibt es die sogenannten start meetings: Bei jedem Schichtbeginn werden safety tips gegeben, beispielsweise „wasch dir regelmässig die Hände“ oder „halt dich immer schön am Treppengelände fest“. Also alles, was ich meiner kleinen Tochter versuche mitzugeben, bekomme ich bei Amazon nochmal zusammengefasst (lachend). Solche Tipps stossen natürlich immer auf Widerstand, denn die Leute machen sich nur lustig darüber.

Wir haben auch immer wieder sehr seltsame Personalgespräche. Ein Kollege hat beispielsweise eine Abmahnung bekommen, was ein Vorschritt zur Kündigung ist. Der Grund: Er sei 18 Sekunden zu spät zu einem start meeting gekommen. Als wir nachgefragt haben, wie sie das gemessen hätten, haben sie keine weiteren Erklärungen gegeben. Das beweist, dass sie uns für komplett dämlich halten. Die Geschäftsleitung hat auf die Abmahnung bestanden, wir hingegen haben unser Recht geltend gemacht, eine Gegendarstellung zu schreiben. Das hat vier Stunden gedauert und wir konnten in der Gegendarstellung zeigen, dass die Verspätung nur 16 Sekunden betrug, nicht 18 (lachend).

Warum ich diese Geschichte erzähle? Um euch zu zeigen, was unsere Strategie ist, mit ihnen nämlich so zu reden, wie sie mit uns reden. Wenn man eine Beschwerde hat, wollen sie zuerst immer alles im Detail verstehen, auch wenn es sich um eine ganz einfache Sache handelt. Und so reagieren wir auch mit ihnen und wollen immer alles verstehen, bevor wir was akzeptieren. Wir wissen nun, dass das lokale Management absolut nichts zu melden hat und keine eigenen Entscheidungen treffen kann. Darum ist es unsinnig, sich mit ihnen auf Diskussionen einzulassen und darum treiben wir ziemlich viel Unsinn mit ihnen.

Solche Geschichten von kleinem Widerstand gibt es bei Amazon tausendfach. Der Tarifvertrag ist wichtig, aber das Selbstbewusstsein, das wir in diesen letzten Jahren gewinnen konnten, ist meiner Meinung nach der grösste betriebliche Erfolg. Denn wir sind heute in der Lage, innerhalb von zehn Minuten mit 600 Leuten aus dem Betrieb zu gehen, wenn uns etwas nicht passt.

Fragen

Was war der initiale Organisierungsmoment in eurem Betrieb?

Es gab einen Initialzünder, aber das natürlich nicht eine spontane kollektive Mobilisierung. Der damalige general manager – mittlerweile haben sie schon so viele ausgewechselt, wie Normalsterbliche Unterwäsche wechseln – der hatte wieder mal verkündigt, es gäbe keine Lohnerhöhung. An jener Versammlung hat ein Kollege von hinten nach vorne geschrien: „Aber bei Lidl gabs eine!“ Das war das erste, was man gehört hat. Der Chef hat dann geantwortet: „Wenn es euch nicht passt, dann geht zu Lidl.“

Wir haben einen ziemlich grossen Anteil an Kollegen, die aus Thüringen sind, wo die Löhne niedriger sind als in Hessen. Der Chef hat dann tatsächlich hinzugefügt: „Ihr aus dem Osten, ihr könnt doch so oder so glücklich sein, dass ihr überhaupt einen Job habt.“ Das hat die Stimmung nochmals befeuert.

Solche Momente haben die Wut steigen lassen, aber sie waren in einen grösseren Prozess eingebettet. Wir haben dann begonnen, Treffen zu organisieren. Das war so 2010, 2011 und die Streiks haben 2013 begonnen. Das war also ein zweijähriger Organisationsprozess mit auf und ab, mal waren mehr Leute an den Treffen, mal weniger. Aber wichtig war, dass wir eine Konstanz herstellen konnten.

Wie war das Verhältnis zur Gewerkschaft ver.di zu Beginn eurer Organisierung?

Die Sekretäre, die bei uns in den Betrieb kamen, machten keine klassische Gewerkschaftsarbeit, also Mitglieder rekrutieren, einen Tarifvertrag verhandeln, den Arbeitsfrieden wahren. Auch ihnen ging es von Anfang an um die Aufarbeitung der Probleme, welche die Arbeiter*innen im Betrieb hatten. So kam die Sache mit der befristeten Arbeit auf. Und die gewerkschaftliche Arbeit konzentrierte sich zu Beginn auf die juristische Beratung von Einzelfällen. So konnten wir aufdecken, dass viele befristete Verträge nicht Rechtens waren und die Probleme lösen.

Der zweite wichtige Moment der Organisierung mit den Gewerkschaften war die Verteilung von Flugblätter und Infomaterial mit den Sekretären in der Kantine. Das führte dazu, dass Amazon ihnen ein Hausverbot gab. Bei den Treffen mit den Arbeiter*innen erklärten die Gewerkschafter diese Situation und die logische Folge für die Kolleginnen und Kollegen war, selber als ver.di im Betrieb aufzutreten und die gewerkschaftliche Arbeit selber zu machen. Diese Repression gegenüber der ver.di hat also dazu geführt, dass sich die Arbeiter*innen stärker zusammenschlossen und gemeinsam auftreten.

Wie organisiert ihr euch international und seid ihr in der Lage, international koordinierte Aktionen durchzuführen?

Die internationale Organisation läuft vom Prinzip her so wie auf der betrieblichen Ebene. Wir hatten viele Treffen, an denen wir verstanden, dass die Arbeitsbedingungen überall etwa gleich aussehen. Wir haben dann gemeinsam Strategien dagegen entwickelt. Die Schwierigkeit ist die, dass je nach Land eine andere Rechtslage vorherrscht. Die Kolleginnnen und Kollegen in Polen würden beispielsweise gerne streiken und sie sind auch streikfähig, doch sie können es aufgrund der Gesetze nicht machen. In Frankreich wiederum streiken die Kolleginnen und Kollegen oft in Zusammenhang mit grösseren politischen Auseinandersetzungen, wobei wir vermehrt feststellen können, dann auch Amazon-spezifische Streiks häufiger werden. Spanien hat uns völlig überrascht: Ein Jahr zuvor hatten sie von 12 Mitgliedern ohne Mobilisierungspotential gesprochen, 18 Monate später führten sie einen erfolgreichen Streik durch, an dem 98% der Kolleginnen und Kollegen teilnahmen. Ich war beim Streik in Spanien vor Ort und tatsächlich ist weder ein LKW noch ein Mensch reingegangen oder rausgekommen.

Mittlerweile haben wir gemeinsame Aktionsformen entwickelt, wie beispielsweise das safe package. Das war eine Idee von den Leipzigern und von den Polen und es geht darum, einen ganzen Tag „Dienst nach Vorschrift“ zu machen. Die Protestformen werden oft auch von Gewerkschaftsgegnern unterstützt. Klar, die Auswirkungen auf Amazon sind dabei begrenzt, aber es motiviert unwahrscheinlich viele Kolleginnen und Kollegen. Und das darf man nicht unterschätzen.

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1 Kommentar

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