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Libanon: Die «Oktoberrevolution» muss weitergehen!

Die derzeitigen massenhaften Proteste in ganz Libanon erschüttern die herrschenden Verhältnisse massiv. Denn die Wut der Demonstrierenden richtet sich nicht bloss gegen die sogenannte WhatsApp-Steuer, sondern auch gegen das neoliberale Regime, welches auf Kosten der Bevölkerung die Interessen der herrschenden Klasse durchsetzt. Im Gegensatz zu früheren Protesten gehen die Demonstrationen nicht von bereits bestehenden Gruppen aus der Mittelschicht aus, sondern von den ärmeren Klassen von Arbeitslosen und Unterbeschäftigten. Es ist ein neues Klassenbewusstsein im Entstehen, welches sich erstmals gegen die gesamte herrschende Klasse wendet. Eine solidarische Alternative könnte daraus entstehen. Dafür müssten sich die Protestierenden laut Rima Majed an drei Punkten orientieren. (Red.)

von Rima Majed; aus opendemocray

Auf den Strassen Libanons sind seit dem 17. Oktober massive Proteste losgebrochen. Nach Monaten der Sparpolitik und katastrophalen wirtschaftlichen Bedingungen, einem Mangel an US-Dollar, der eine ernsthafte Gefahr der Abwertung der libanesischen Währung mit sich brachte und zu einem potenziellen Mangel von Benzin und Brot führte, den anhaltenden Strom- und Wasserausfällen sowie einer Woche mit verheerenden Waldbränden und der Entlarvung der herrschenden Klasse traf sich die Regierung am Donnerstag und beschloss, dem Volk neue Steuern aufzuerlegen. Dazu gehörte eine Steuer auf Whatsapp-Aufrufe! Während sich der Aufstand nicht nur an der Whatsapp-Steuer entzündete, wurden die neu vereinbarten Steuern (die später durch den Druck auf der Strasse rückgängig gemacht wurden) von den meisten Libanes*innen als Inbegriff der «vulgären» Haltung der Regierung wahrgenommen. Denn die Regierung vernachlässigt die Notlage total und setzt alles daran, die Interessen der herrschenden Oberschicht auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung zu schützen.

Historischer Wendepunkt

Nicht ganz unerwartet haben die Massenproteste das Land in Unruhe versetzt. Während der Libanon in seiner jüngsten Geschichte bereits ähnliche massive Strassenproteste gegen die herrschende Klasse erlebt hat (wie 2015), markiert die libanesische «Oktoberrevolution» von 2019 einen wichtigen Wendepunkt in der politischen Geschichte nach dem Bürgerkrieg. Nach fast drei Jahrzehnten neoliberaler Politik, die zu einer Vertiefung der Klassenunterschiede führte, sind die Menschen diesmal geschlossen auf die Strasse gegangen, um gegen die herrschende Klasse zu protestieren, die den Neoliberalismus (und ihre eigenen Klasseninteressen) durchsetzt. Somit hatte die übliche Taktik der Herrschenden, mit sektiererischen Spaltungen die Menschen zu teilen, nicht funktioniert. Diesmal ging die Revolution von den ärmeren Klassen von Arbeitslosen und Unterbeschäftigten aus, die üblicherweise das Rückgrat und die Wählerschaft der hegemonialen sektiererischen Parteien bilden (die sich durch komplexe Netzwerke an der Macht halten) und sich somit gegen ihre klientelistischen «Vertreter» wandten.

Tausende von Motorradfahrer*innen blockierten am Donnerstagabend – nachdem die Regierung beschlossen hatte, neue Steuern zu erheben – die Strassen mit lodernden Reifen und blockierten damit den Verkehr in der Hauptstadt Beirut. Die Strassenblockaden breiteten sich schnell auf andere Regionen aus und die Menschen begannen, sich auf Plätzen und Strassen im ganzen Land zu versammeln. Ihre Wut richtete sich zum ersten Mal eindeutig gegen ausnahmslos alle Herrschenden. Die ersten Mobilisierungen, welche die Form eines Aufstandes annahmen, bestanden aus Hunderttausenden Menschen, was für einige vielleicht überraschend wirken kann. Die Proteste von 2015 wurden von einer Gruppe zivilgesellschaftlicher Organisationen angeführt, die hauptsächlich die Mittelschicht vertraten und die meisten Anzeichen von Unruhen oder zivilem Ungehorsam unter dem Vorwand des Schutzes der Proteste vor «Infiltrierende» ablehnten. Im Gegensatz dazu sind die jüngsten Proteste speziell von denen ausgegangen, die normalerweise (und in den meisten Fällen zu Unrecht) als «Infiltrierende» gelten.

Nicht nur die Taktik des Protestes unterscheidet sich von früheren Bewegungen, insofern Strassenblockaden und ziviler Ungehorsam zur Anwendung kam. Auch der Umfang des Protestes ist viel grösser, da Regionen wie Beqaa, Tripoli, Nabatiyeh, Tyre und Zouk in grosser Zahl mobilisieren. Das Repertoire der Gesänge unterscheidet sich deutlich von dem der Politiker*innen. Die Resonanz solcher «osé»-Gesänge bei der grossen Mehrheit der Demonstrierenden auf den Plätzen zeugt von einem extremen Mass an Wut, die Autorität und Moral (auch innerhalb der Mittelschicht!) zugleich in Frage stellen kann. Viele der Demonstrierenden hätten solche Slogans vor einigen Jahren noch abgelehnt und angeprangert. Diese Unterschiede zwischen der aktuellen und den früheren Protesten sind keine Details, sondern sie spiegeln tiefere soziale Transformationen wider, welche ein Extrem erreicht haben und sich nun in der Radikalisierung der Bewegung widerspiegeln. Die Mobilisierungen der letzten Tage haben Ansätze eines neuen klassenbasierten Bündnisses zwischen Arbeitslosen, Unterbeschäftigten, Arbeiter*innenklasse und Mittelschicht gegen die herrschende Oligarchie gezeigt. Das ist ein Durchbruch.

Trotz der Versuche des Regimes, die übliche Karte der Diffamierung von «Infiltrierenden» zu spielen, ist es beeindruckend, wie wenig Resonanz dieser Diskurs bei den Demonstrierenden bisher hatte. Das soll nicht heissen, dass ein solcher Diskurs vollständig eliminiert und solche Szenarien ausgeschlossen wurden. Es weist vielmehr auf ein neu entstehendes klassenbasiertes Bewusstsein hin, das sich darauf konzentriert, die herrschenden Eliten anzusprechen und sich nicht zu spalten. Wenn dies in den kommenden Wochen aufrechterhalten und organisiert werden kann, wird dies wahrscheinlich der wichtigste Wendepunkt in der Nachkriegsgeschichte des Libanon sein.

Wie weiter?

Während die Hoffnungen gross und die Szenen auf den Strassen herzerwärmend sind, sind drei Hauptpunkte wichtig, welche die Bewegung berücksichtigen muss, um diesen Durchbruch voranzutreiben.

1. Es ist entscheidend, sich zu organisieren. Dies hat bereits begonnen und nimmt verschiedene Formen an. Aber die Bewegung muss noch ihre Organisation entwickeln, ohne davor zurückzuschrecken, eine Führung zu haben. Führungsschwache Bewegungen sind nicht nachhaltig und können selten klare Alternativen vorschlagen. Sie sind auch nicht genau «führerlos». In der Regel bleibt in solchen Fällen eine unangekündigte Führung hinter den Kulissen und koordiniert die Bewegung, bleibt aber unverantwortlich. Normalerweise besteht diese «unangekündigte Führung» aus den am besten bereits organisierten Gruppen und denjenigen, die über die grössten finanziellen Mittel verfügen, um die Kosten für Soundsysteme, Transport, Verteilung von Lebensmitteln und Wasser usw. zu decken. Eine Bewegungsführung muss jedoch nicht entweder extrem hierarchisch und traditionell oder völlig horizontal und nicht sichtbar sein. Die Entstehung einer vertrauenswürdigen Führung, die grosse Teile der Demonstrierenden vertritt, sich auf regionaler Ebene koordiniert und die Prioritäten der Übergangszeit hervorheben kann, ist entscheidend, um die Bewegung über die Strassenmobilisierung der ersten Wochen hinaus aufrechtzuerhalten.

Die Organisation ist auch über die konkreten Proteste hinaus wichtig. Es ist an der Zeit, dass sich die Opposition im Libanon als solche versteht und dass sich verschiedene Gruppen nach ihren sozialen und wirtschaftlichen Interessen organisieren und koordinieren (denn dies ist das, was die herrschende Oligarchie sehr gut kann!). In Zeiten solcher Strassenproteste beklagen wir den Mangel an Organisation und halten es für notwendig, dass unsere Netzwerke besser aktiviert und erweitert werden. Reaktivierung und Aufbau neuer Gewerkschaften, Organisation am Arbeitsplatz, Organisation als Arbeitslose, Organisation als Frauen*, Organisation in unserer Nachbarschaft, Organisation als Studierende usw. sind alles wichtige Formen der Organisation, die das Gerüst der kommenden Zeit bilden können. Einige Formen solcher Organisationen wie feministische Gruppen und Schüler*innengruppen existieren bereits und gehören zu den schönsten Aspekten dieses Aufstands. Doch mehr davon ist notwendig, und mehr Koordination zwischen den verschiedenen Gruppen und zwischen den verschiedenen Regionen des Landes ist entscheidend.

2. Klare Forderungen aufstellen, die sowohl revolutionär als auch spezifisch genug sind. Es gibt viele (vor allem sozioökonomische) Forderungen auf den Strassen, aber die Bewegung hat keine klaren Forderungen entwickelt, aus denen eine wünschenswerte und überzeugende Alternative entstehen könnte. Dies ist kein Aufruf zum «Pragmatismus», sondern ein Aufruf zu progressiven Forderungen, die auch einige der populistischen Forderungen beinhalten, die auf den Strassen geäussert werden. Die Forderung vieler Demonstrierenden nach einer Machtübernahme der Armee gehört jedoch zu den gefährlichsten Forderungen, die es gibt. Es ist bedauerlich, dass wir diese Zeilen 2019 noch schreiben müssen. Nach allem, was wir im arabischen Raum nach den militärischen Interventionen bei Aufständen gesehen haben. Es ist auch lächerlich, von einer Heeresübernahme oder einer Militärregierung in einem Land zu sprechen, in dem der derzeitige Präsident (Michel Aoun) ein ehemaliger Armeekommandant ist und der derzeitige Armeekommandant (Joseph Aoun) ein (weiter) Verwandter und (stillschweigender) Unterstützer des Präsidenten ist.

Ganz zu schweigen davon, dass es gerade die libanesische Armee (nicht nur die Sicherheitskräfte) war, die am Freitagabend ihre gewalttätigste Unterdrückung gegen die Demonstrierenden entfesselte. Wie können wir einer Armee vertrauen, welche die herrschende Klasse verteidigt und barbarische Gewalt gegen Demonstrierende anwendet? Eine andere, aber verwandte Art von Populismus ist der libanesische Nationalismus auf den Strassen. Dieser zeigt sich in den Flaggen, der Wiederholung der Nationalhymne und den nationalistischen Liedern von 2005. Diese schallen fast den ganzen Tag aus den Lautsprechern einiger Gruppen, wodurch die radikaleren und fortschrittlicheren Stimmen weniger Gehör finden. Sicher, es ist grossartig für das libanesische Volk, wenn es sektiererische Gräben überwinden kann, aber der libanesische Nationalismus ist nicht unbedingt das Gegenteil von Sektierertum und normalerweise ist er auch kein fortschrittliches Zeichen. Es ist genau derselbe nationalistische Diskurs, der Rassismus gegen syrische oder palästinensische Flüchtlinge rechtfertigt – ein Diskurs, der von den herrschenden Eliten geformt und eingesetzt wird. Und genau gegen diese Elite protestieren ja die Menschen. (Der Verfechter dieses rassistischen und nationalistischen Diskurses ist der am häufigsten zitierte Name in den Gesängen der Demonstrierenden: Minister Gebran Bassil.) Dies ist eine gefährliche Tendenz, der wir etwas entgegenhalten sollten. Was die Menschen zu Millionen mobilisiert hat, ist nicht der Mangel an Einheit oder Patriotismus, sondern der Mangel an Gerechtigkeit und sozioökonomischen Rechten.

Lasst uns darauf konzentrieren. Denn dieser Mangel ist der einzige gemeinsame Nenner unter den 1.2 Millionen Menschen, die protestiert haben. Solche sozioökonomischen Forderungen können Folgendes umfassen: (1) sofortiger Gehaltszahlungstopp der derzeitigen und ehemaligen Präsidenten, Abgeordneten, Minister und leitenden Angestellten, (2) Aufforderung an die libanesischen Banken, die Staatsschulden zu erlassen, die den grössten Teil des Staatshaushalts in den letzten drei Jahrzehnten aufgefressen haben, (3) Einführung einer progressiven Besteuerung, (4) sofortiges Ende der Unterbrechungen in der Strom- und Wasserversorgung (auf Kosten der Kartelle von privaten Strom- und Wasserunternehmen), (4) eine nachhaltige und ökologische Lösung für die Abfallwirtschaft usw. Andere regional spezifische Forderungen können entwickelt werden. Auf politischer Ebene fordern einige Demonstrierende den Rücktritt der Regierung, andere den Rücktritt des Präsidenten, während viele beides gleichzeitig fordern. Ich persönlich bin nicht davon überzeugt bin, dass Rücktritte zu tatsächlichen Veränderungen führen werden. (Es ist ein kosmetischer Akt, der den Eindruck eines Sieges auf der Strasse erwecken kann, während sich das Regime an der Macht hält). Jedoch ist es wichtig, dass Rücktritte mit Forderungen nach Prozessen und Strafverfolgung einhergehen.

Denn wir wollen nicht, dass die herrschende Klasse zurücktritt und mit ihren Verbrechen davonkommt; wir wollen Gerechtigkeit! Die Richter*innen des Libanon (von denen viele in der Vergangenheit eine entscheidende Rolle beim Schutz der herrschenden Klasse gespielt haben) müssen zur Verantwortung gezogen und unter Druck gesetzt werden, damit sie ihre Verantwortung wahrnehmen. Eine wichtige Erklärung wurde am Freitag von der libanesischen Richtervereinigung abgegeben, die sich mit dem Volk gegen die herrschende Klasse stellt. Dies sollte ernst genommen und umgesetzt werden.

3. Das Risiko der Eindämmung und Kooptierung ist noch nicht ausgeschlossen. Es stimmt zwar, dass dieser Aufstand spektakulär ist, da sich eine breite Wählerschaft gegen ihre eigenen Vertreter*innen gewandt hat. Aber die Risiken der Eindämmung und Kooptierung bestehen nach wie vor (auch wenn sie weniger wahrscheinlich sind als bisher). Alle Verteter*innen der haben den gleichen Diskurs gewählt, um die Demonstrierenden anzusprechen: «Du hast Recht», «wir verstehen dich», «wir fühlen mit dir», aber «Vorsicht»! Selbst der öffentlichkeitswirksame Schritt der libanesischen Militärminister, ihren Rücktritt beim Premierminister einzureichen, spricht dieselbe Sprache. Sie alle haben anerkannt, dass sie im Unrecht sind, und jeder versucht, seiner Strafe zu entgehen.

Das 72-Stunden-Ultimatum, das sich der Premierminister (ironischerweise!) selbst stellte, begann mit heftiger Repression auf den Strassen und Hunderten von Verhaftungen. Am nächsten Tag folgte ein gewalttätiger Angriff in der südlichen Stadt Tyrus auf friedliche Demonstrierende durch die Milizen der Anhänger der Amal-Partei. So sehen die versprochenen Änderungen aus, die nach dem 72-Stunden-Ultimatum kommen sollen. Die Hoffnung der herrschenden Klasse, die Bewegung mit Gewalt zu beenden, ist eine alte Taktik. Diese Gewalt kann direkt von staatlichen Organen ausgehen wie Sicherheitskräfte oder Militär. Oder sie kann indirekt ausgeübt werden, durch «Schläger» und «Milizionäre». Vielleicht wird dies diesmal nicht vollständig funktionieren. Doch das Regime wendet in der Regel Gewalt gemeinsam mit seinem anderen Mittel zur Eindämmung von Protesten an: klientelistische Netzwerke. Sektiererische Führer bedrohen nicht nur die Menschen an ihren Arbeitsplätzen und Sozialeinrichtungen. Sie drohen auch, ihren Schutz aufzuheben und diejenigen zu verfolgen, die sich ihnen widersetzen. Der Abbau von klientelistischen Netzwerken kann nur mit dem Abbau des gesamten neoliberalen Regimes vollzogen werden.

Die Revolution hat in den letzten drei Tagen mit mindestens 6 Märtyrer*innen und Hunderten von Verletzten bereits einen hohen Preis bezahlt. Der Libanon hat eine hervorragende Chance für die Schaffung einer solidarischen Alternative, und wir sollten nicht zulassen, dass sich die herrschende Klasse an der Macht bleibt. Die Oktoberrevolution des Libanon muss weitergehen!


Übersetzung durch die Redaktion. Die Zwischentitel wurden von der Redaktion gesetzt.

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