In Hong Kong hat der Versuch der Regierung eine Gesetzesänderung durchzubringen massive Proteste ausgelöst. Wir veröffentlichen hier ein Interview aus dem Jacobine Magazine in zwei Teilen. Kevin Lin spricht mit seinen Interviewpartner*innen neben den Hintergründen des Gesetzes, den momentanen Protesten und den Erfahrungen der letzten sozialen Bewegung auch über eine sinnvolle linke Politik und die Chancen dieser Bewegung. (Red.)
Ein Interview mit Au Loong Yu (ALY), Chris Chan (CC), Lam Chi Leung (LCL), Chun-Wing Lee (CWL), Alexa (A), Student Labour Action Coalation (SLAC)
von Kevin Lin; aus Jacobine Magazine
Die Regierung Hongkongs versuchte in der Eile, ein Gesetz durchzuboxen, das die bürgerlichen Freiheiten einschränken sollte. Stattdessen lösten sie eine der grössten Protestwellen in der modernen Geschichte Hongkongs aus.
Am 9. Juni gingen in Hongkong eine Million Menschen gegen einen Änderungsvorschlag auf die Strasse, der die Auslieferung von Verdächtigen aus der ehemaligen britischen Kolonie an das chinesische Festland und an andere Länder ermöglichen sollte. Die Regierung – unter dem Vorsitz der Peking nahestehenden Carrie Lam – beteuert, dass politische Dissident*innen und Aktivist*innen von der Gesetzesreform nicht betroffen wären. Doch die Massnahme löste einen Sturm der Entrüstung aus, während die Regierung sich beeilte, das Gesetz bis Juli durch den Hongkonger Legislativrat zu bringen.
Am vergangenen Freitag, nach tagelangen Protesten und Zusammenstößen mit der Polizei und inmitten wachsender Forderungen nach politischen Streiks, hat Lam den Änderungsantrag vorgelegt. Und am Samstag, während einer weiteren massiven Demonstration – es wird von über zwei Millionen Demonstrierenden bei einer Bevölkerung von sieben Millionen gesprochen, darunter Demonstrant*innen, die den vollständigen Rückzug des Änderungsantrags und den Rücktritt von Lam forderten – entschuldigte sich die Regierung.
Warum hat der Änderungsantrag eine solche Empörung hervorgerufen? Wie hat das Erbe der Regenschirm-Bewegung von 2014, der letzten grossen Demonstrationswelle Hongkongs, die aktuellen Proteste geprägt? Was ist die Politik der Demonstrant*innen? Und wie sehen die Perspektiven für die demokratischen Bewegungen in Hongkong und China aus?
Um all diese und weitere Fragen zu klären, sprach Kevin Lin vom Jacobin Magazine mit einer Reihe von Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen: Chris Chan, Soziologe an der Chinesischen Universität von Hongkong und Student und Aktivist; Lam Chi Leung, Sozialist in Hongkong und Mitglied von Left21; Chun-Wing Lee, Sozialist, Mitglied von Left 21 und Herausgeber von The Owl, einer linken Website in Hongkong; und Au Loong Yu, Autorin und Aktivistin. Lin sprach auch mit Alexa, einer in Hongkong lebenden Aktivistin, und der Student Labour Action Coalition, einer eindeutig linken Gruppierung an einem Ort, wo linke Gruppen rar sind. Das Interview wurde aus Gründen der Übersichtlichkeit verdichtet und leicht bearbeitet.
Die Proteste
KL: Welche Bedeutung hat die Änderung des Auslieferungsgesetzes? Warum hat es in Hongkong so viel Widerstand ausgelöst?
ALY: Hongkong hat Auslieferungsabkommen mit zwanzig Ländern, darunter Grossbritannien und die USA, aber nicht mit dem chinesischen Festland. Das Pro-Peking-Lager hier in Hongkong und in Übersee argumentiert, dass Hongkong, da es Auslieferungsabkommen mit dem Westen hat, auch Abkommen mit dem chinesischen Festland haben sollte.
Im Rahmen der Vereinbarung „Ein Land, zwei Systeme“ sieht Artikel 8 des Hongkonger Grundgesetzes vor, dass „die bisher in Hongkong geltenden Gesetze beibehalten werden“, was bedeutet, dass Hongkong vom chinesischen Rechtssystem isoliert ist. Hongkong verfügt als Sonderregion Chinas nicht über die notwendige Macht und Stärke, um sich der rechtlichen Verfolgung durch die chinesische Zentralregierung zu widersetzen, wenn das Rechtssystem Hongkongs nicht eigenständig ist. China missachtet nicht nur grundlegende gerichtliche Verfahrensregeln, sondern auch die Unabhängigkeit der Justiz. Ein Auslieferungsabkommen zwischen China und Hongkong untergräbt notwendigerweise das Prinzip „ein Land, zwei Systeme“.
LCL: Die Änderung des Auslieferungsgesetzes hat den Nerv der meisten Bürger*inneen Hongkongs getroffen. Unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) haben die Bürger*inneen oft kein ordentliches Verfahren, was regelmässig zu unrechtmässigen Verurteilungen führt. Diejenigen, die die KPCh kritisiert haben, diejenigen, die jedes Jahr die Tiananmen-Mahnwache[1] in Hongkong organisieren, diejenigen, die chinesischen Dissident*innen geholfen haben, oder sogar jene Hongkonger Aktivist*innen, die Arbeitsrechts- oder andere Organisationen auf dem chinesischen Festland unterstützt haben, könnten als „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ angesehen und an das chinesische Festland ausgeliefert werden. Gewöhnliche Bürger*innen befürchten, dass Hongkong wie jede andere chinesische Stadt auf dem Festland sein wird, in der die Freiheit der Menschen gefährdet sein könnte.
ALY: Die Menschen in Hongkong haben die bittere Erinnerung an den „Bookshop Five“ Vorfall. Zwischen Oktober und Dezember 2015 wurden fünf Besitzer und Mitarbeiter von Causeway Bay Books als vermisst gemeldet. Es wurde angenommen, dass sie wegen der Veröffentlichung von Büchern über das Privatleben des chinesischen Präsidenten Xi Jinping verhaftet wurden.
Beunruhigend ist nicht nur, dass dies gegen das Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ verstösst, sondern auch, dass zwei der Verhaftungen aussergerichtliche Verhaftungen waren. Zwei der Buchhändler, Gui Minhai und Lee Bo, wurden von chinesischen Agenten in Thailand bzw. Hongkong entführt. Wenn sich das chinesische Rechtssystem deutlich verbessern würde, wäre es möglich, ein Auslieferungsabkommen mit China zu diskutieren. Aber in Wirklichkeit ist es immer schlimmer geworden.
CWL: Die Beteiligung war so gross, weil selbst diejenigen, die als Verbündete der Hongkonger Regierung angesehen werden könnten, das Änderungsgesetz nicht unterstützen. Seit 1997, als Hongkong erneut unter chinesische Kontrolle kam, regiert die chinesische Regierung Hongkong, indem sie ein Bündnis mit den grossen Kapitalist*innen und der Mittelschicht in Hongkong schmiedet. Diese Strategie ist verständlich, weil sie als die Hauptnutzniesser*innen der kapitalistischen Entwicklung Hongkongs geneigt sind, den Status quo zu unterstützen.
Im Verlauf dieser 22 Jahre ist die jüngere Mittelschicht, insbesondere die Akademiker*innen, ziemlich unzufrieden mit der Regierung geworden. Neben der Angst, dass der relativ liberale Lebensstil in Hongkong gefährdet ist, sind steigende Lebenshaltungskosten, insbesondere die Mieten, ein weiterer Faktor für diese Unzufriedenheit
Seit 2003 versucht die chinesische Regierung, dieses Bündnis zu stabilisieren, indem sie die Vermögenswerte in Hongkong erhöht. Der Hongkonger Immobilienmarkt und die Börse sind unter anderem dank Kapital aus dem chinesischen Festland gewachsen. Aber diese Regierungsstrategie ist eindeutig nach hinten losgegangen, da es für junge Menschen immer schwieriger geworden ist, ein eigenes Haus zu kaufen. Die junge Mittelschicht und die Studierenden sind zu den zentralen Stützen der oppositionellen Kräfte in Hongkong geworden.
Alexa, du warst bei den Demonstrationen. Kannst du beschreiben, was du gesehen hast? Wer sind die Demonstrant*innen und wie werden die Proteste organisiert?
A: Die Demonstrant*innen sind Menschen aus allen Lebensbereichen, optimistisch und hoffnungsvoll. Es sind nicht mehr nur junge Studierende.
Weil es keine (formalen) Leader*in bei den Protesten gibt, haben sich die Menschen selbst organisiert, hauptsächlich über Facebook, Telegrammgruppen und lihkg (ein Online-Forum wie reddit). Sie sind super kreativ und machen Memes, welche die Propaganda für Peking nachahmen, um die ältere Generation in Hongkong um Unterstützung zu bitten. Sie haben auf Facebook „Meditations-“ und „Picknick-Veranstaltungen“ ins Leben gerufen, um die Menschen aufzufordern, sich im Tamar Park zu treffen. Einige Leute haben auch eine Seite eingerichtet, um die Leute aufzurufen, zum MTR (Hong Kong’s Metro System) zu gehen, damit auch dort Aktionen durchgeführt werden.
Am Ort der Massenproteste sind die Menschen organisiert, und sie wissen, welche Ressourcen sie brauchen. Ich denke, all dies haben die Leute durch die Regenschirm-Bewegung im Jahr 2014 gelernt. Das hohe Mass an Bürger*innenbeteiligung und die Sorge um die Entwicklung Hongkongs, die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit sind auf dem höchsten Stand seit 1997.
Es ist auch das erste Mal in meinem Leben, dass Menschen, die meist still waren, ihre Wut über die Regierung zum Ausdruck bringen. Sie sind angewidert davon, wie die Polizei mit friedlichen Demonstrant*innen umgegangen ist. Mit ihrer übermässigen Gewaltanwendung hat die Polizei ganz offensichtlich gegen die Übereinkommen der Vereinten Nationen verstossen.

Während die Civil Human Rights Front (eine Koalition zivilgesellschaftlicher Organisationen) offiziell zur Demonstration am 9. Juni aufrief, scheint die aktuelle Bewegung, wie Alexa bemerkte, horizontal und führerlos zu sein. Was denkt ihr über diesen Aspekt der Proteste?
ALY: Obwohl die Regenschirm-Bewegung 2014 weitgehend spontan war, war die HKFS (Hong Kong Federation of Students) trotzdem massgeblich an der Umsetzung beteiligt. Heute sind aber die Studierendenorganisationen viel kleiner und stark fragmentiert. Auch politische Parteien wurden bei der Mobilisierung marginalisiert, ob freiwillig oder nicht.
Die Civil Human Rights Front war massgeblich daran beteiligt, die Aktionen vom 9. und 12. Juni durchzuführen, indem sie die Bewilligung für den Marsch und die Versammlung einholte. Aber sie hat einfach nicht die organisatorische Kapazität, um massiven zivilen Ungehorsam anzuführen.
In der diesjährigen Bewegung erleben wir die Fortsetzung eines bereits 2014 sehr sichtbaren Trends – nämlich die starke Vorliebe für dezentrales und führungsloses Handeln. Die neuen Kommunikationswege machen die Koordination jetzt viel einfacher und eine starre Organisation weniger notwendig. Allerdings gibt es unter jungen Aktivist*innen eine Art Fetischismus der Spontaneität. Viele sehen Organisationen einfach als überflüssig oder notwendigerweise autoritär an. Selbst die relativ neue Partei «Demosistō», gegründet und geleitet von Joshua Wong [einem 22-jährigen Aktivisten, der während der Regenschirm-Revolution bekannt wurde], scheint für die aktuellen Jugendlichen nicht attraktiv genug zu sein.
Heute kann jede*r ein*e temporäre*r Leader*in sein und zu radikalen Aktionen aufrufen, ohne die Vor- und Nachteile abzuwägen. Zum Beispiel riefen einige kleine Lokalist*innen, die sich für die Unabhängigkeit einsetzen, am 11. Juni zu „proportionaler Gewalt gegen die Regierung“ auf und forderten, dass die Menschen am nächsten Tag in die Legislative und die Regierungszentrale einbrechen, um die Annahme der Gesetzesänderung zu verhindern. Schliesslich versuchten Hunderte von Jugendlichen am 12. Juni in die Legislative einzudringen, obwohl der Saal bis dahin leer war, da es überhaupt keine Versammlung gab. Dies war auch der Moment, als die Polizei anfing, Gummigeschosse abzufeuern, die Verletzungen verursachten.
Führungslose Kämpfe – so gross sie auch sein mögen – sind auch weniger in der Lage, bestimmte Aktionen eingehend zu diskutieren, geschweige denn, Provokateure und Agenten sowohl der Hongkonger als auch der Pekinger Regierung zu bekämpfen. Allerdings muss man auch anerkennen, dass der umstrittene Versuch, in die Legislative einzudringen, zum ersten Mal seit Jahrzehnten von vielen in Hongkong positiv aufgenommen wurde.
Trotz der Schwächung der Student*innenverbände sind weitere neue Gruppen entstanden. Eine der radikaleren linken Gruppen, die Student Labour Action Coalition (SLAC), versucht, Student*innen- und Arbeiter*innenbewegungen zu vernetzen und hat direkte Aktionen ergriffen. Könnt ihr von der SLAC uns von eurer Koalition erzählen und wie ihr euch an der Protestbewegung beteiligt habt?
SLAC: Wir sind eine Koalition von betroffenen soziale Organisationen und Gewerkschaften, die 2017 gegründet wurde. Wir glauben, dass Arbeitnehmer*innen- und Studierendenbewegungen nicht voneinander getrennt werden können, und wir konzentrieren uns darauf, die Arbeitsbedingungen an den Universitäten zu verbessern, indem wir Studierende und Arbeitnehmer*innen miteinander verbinden.
Wir haben die Protestbewegung durch direkte Aktionen unterstützt. Am 8. Juni haben wir uns mit der Hong Kong Federation of Social Work Students zusammengetan, um auf die Strasse zu gehen und Hongkonger Bürger*innen für die Demonstration am nächsten Tag zu versammeln. Wir haben an der Demonstration vom 9. Juni gemeinsam mit Studierenden teilgenommen. Nach dem Marsch schlossen wir uns den Streikposten an und mobilisierten Unterstützung für die für den 12. Juni geplanten Streikaktionen und umkreisten den Legislativrat. Da der Legislativrat nicht demokratisch ist und die meisten Mitglieder Marionetten der Pekinger Regierung sind, mussten wir den Legislativrat dabei «unterstützen», die Sitzungen zu beenden.
Es gibt oft Anschuldigungen, dass die sozialen Bewegungen Hongkongs von internationalen Mächten angestiftet werden, sei es die Regenschirm-Bewegung oder die aktuellen Proteste. Was ist eure Antwort auf solche Anschuldigungen?
ALY: Die Regierungen von Peking und Hongkong haben gesagt, dass die Proteste von der amerikanischen NED (National Endowment for Democracy) finanziert werden.
Es ist wahr, dass die meisten pan-demokratischen (pro-demokratischen) Parteien Mittel von der NED erhalten haben. Aber es ist auch unbestreitbar, dass diesen Parteien weder zu den grossen Protesten noch zu den Zusammenstössen am 9. und 12. Juni aufgerufen haben. Die Civil Human Rights Front ist eine Koalition von mehr als fünfzig Organisationen, von denen die meisten Bürger*innenverbände und Gewerkschaften sind. Die wichtigsten pandemokratischen Parteien sind Teil davon, stellen aber nur eine Minderheit dar.
Die Front wurde 2002 gegründet, in einem Moment, in dem die wichtigsten pandemokratischen Parteien Angst hatten, die Führung bei der Mobilisierung der Menschen zu übernehmen. Gerade aufgrund dieser Entstehungsgeschichte waren die wichtigsten Pan-Demokrat*innen innerhalb der Front nicht dominant. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Front keine Autorität über die Menschen besitzt, die zu ihrer Kundgebung kommen. Oftmals tun die Jugendlichen bei der Teilnahme einfach das, was sie wollen.
Übersetzung aus dem Englischen durch die Redaktion.
Zum Teil 2.
[1]Als Tiananmen-Massaker wird die gewaltsame Niederschlagung einer Protestbewegung am 3. Und 4. Juni 1989 bezeichnet, bei dem der Tian’anmen-Platz in Peking durch eine ursprünglich studentische Demokratiebewegung besetzt wurde.
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