Seit Mitte 2019 erleben wir auf Weltebene den Auftakt für eine tiefe Krise in der wichtigsten Industriebranche des Weltkapitals. Die Autoindustrie, die Leitbranche des Kapitalismus, steht vor einer Krise. Bereits 2018 war die gesamte Autoproduktion auf deutschem Boden rückläufig. Im Juni 2019 gab es in Deutschland bei den Neuzulassungen einen herben Einbruch um 4,7% (gegenüber Juni 2018). Im August verkündeten allein die in Deutschland aktiven Hersteller den Abbau von mehr als 30’000 Arbeitsplätzen.
von Winfried Wolf; aus sozonline.de
Typisch für den aktuellen Zustand der Autoindustrie scheint der Widerspruch bei Opel. Bei dieser Tochter des französischen Konzerns Peugeot heißt es, man schreibe endlich schwarze Zahlen. Doch um welchen Preis? Bei den Jobs ist der Grundton tiefrot. Seit der Übernahme durch PSA wurden bei Opel 8’000 Jobs abgebaut, das entspricht 25 Prozent. Weitere 2’500 Arbeitsplätze und wohl auch erste Werke stehen zur Disposition.
In den USA herrscht bei GM und Ford seit Monaten der Kahlschlag. Auch die japanische Autoindustrie schwächelt. Dort läuft derzeit ein weitreichender Konsolidierungsprozess, bei dem am Ende nur maximal vier von aktuell acht Konzernen als selbständige überleben dürften. Das wird mit dem Abbau von Zehntausenden Jobs verbunden sein.
Ausgesprochen düster sieht es in China aus. Am 29.Juli machte die Financial Times auf Seite 1 mit der Schlagzeile «Einbruch bei den Autoverkäufen in China» auf. Dort sanken die Verkäufe von Pkw bereits 2018 um 4%. Im ersten Halbjahr 2019 gab es nun einen dramatischen Rückgang von 14%. Dabei ist China der größte Absatzmarkt für die meisten westlichen Autokonzerne. Beispielsweise sank der Absatz von Ford in China im ersten Halbjahr 2019 um 27%. Ein neues Werk von Peugeot in China konnte in den ersten sechs Monaten 2019 gerade mal 201 Pkw absetzen.
Sehr viel spricht dafür, dass wir seit dem zweiten Halbjahr 2018 in China und seit Mitte 2019 auf Weltebene den Auftakt für eine tiefe Krise in der wichtigsten Industriebranche des Weltkapitals erleben.
Um die Bedeutung der neuen Branchenkrise zu erkennen, soll zunächst auf das Gewicht der internationalen Autoindustrie im Weltkapitalismus, sodann auf die Veränderungen in der regionale Konzentration der Autoherstellung und schließlich auf die Kapitalstruktur der Autokonzerne eingegangen werden.
Die Weltautobranche
Die Autoindustrie ist die wichtigste industrielle Branche im globalen kapitalistischen System. Das heißt nicht, dass sie die größte Branche ist. Die Textilindustrie ist hinsichtlich der Beschäftigtenzahl deutlich größer. In Deutschland wiederum zählt der Maschinenbau wesentlich mehr Arbeitsplätze als die Autobranche. Auch die Exportquote ist hier noch höher als im Fahrzeugbau.¹ Und die Autoindustrie ist auf nur wenige Länder konzentriert. Allerdings sind es dann ausgesprochen mächtige Staaten: An der Spitze steht das Quartett USA, China, Deutschland und Japan, vier Länder, die im weltweiten Kapitalismus tonangebend sind. Diesem Quartett folgt die nicht ganz so starke Dreiergruppe der Autoländer Frankreich, Italien und Südkorea. In allen anderen Ländern mit einer Autoindustrie spielt diese nicht – bzw. nicht mehr – die führende Rolle.
Die Autobranche ist jedoch in der globalen Wirtschaft die entscheidende Industrie im Sinne von die «wirkmächtigste». Die enorme Kapitalkonzentration im Fahrzeugbau machen sie zur Leitbranche. Sie ist auch Leitstern im Zyklus des Weltkapitals und war in den vergangenen Zyklen mitbestimmend für das Auf und Ab von Weltbruttoinlandsprodukt und Welthandel.
Die Autoindustrie war bislang eng mit der Ölbranche verbunden. Der Begriff «fossiler Kapitalismus» charakterisiert diese Branche treffend: Hersteller von Autos mit Motoren, die Ölderivate – Diesel und Benzin – verbrennen, sind tonangebend. Nun wird in jüngerer Zeit gelegentlich behauptet, die Öl- und Autobranche hätte ihr Gewicht im globalen Kapitalismus verloren, zumindest sei sie im Niedergang befindlich. Diese These hält der Konfrontation mit der Wirklichkeit nicht stand. Das Gewicht von Öl und Auto unter den zehn größten Konzernen der Welt ist, wenn wir als Basis den Umsatz nehmen, seit Jahrzehnten annähernd gleich geblieben. 2018 entfällt rund ein Drittel des Gesamtumsatzes der «Global 500» auf Öl, Auto und Flugzeugbau. Unter den 10 größten Konzernen im Jahr 2018 gab es sechs Öl- und zwei Autokonzerne.
Richtig ist, dass es einen Aufstieg der Elektronik- und Internetkonzerne gibt. Mit der Produktion von Elektroautos kommt es jedoch zu einem Bündnis mit den Rohstoffkonzernen. Und mit der Intensivierung von Elementen von «autonomem Fahren» wird dieses Machtkartell auch noch mit eben diesen Elektronik- und Internetkonzernen verschmolzen. Die «traditionelle» Autobranche dürfte sich ein weiteres Mal häuten und neu erfinden. Ohne eine Kontrolle und Enteignung dieser geballten Kapitalmacht wird daher eine Verkehrswende mit Konversion der Autokonzerne nicht möglich sein.
Die Autobranche ist «Taktgeberin» im Weltkapitalismus. Weltweit bewegt sie sich ebenso wie die Weltwirtschaft selbst in einer zyklischen Form. Dieser Zyklus stellte sich für die internationale Autoindustrie erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg Mitte der 1970er Jahre ein. Seither gab es fünf weltweite Zyklen – und auch fünf Branchenkrisen. Und in allen fünf Fällen waren diese Branchenkrisen mit weltweiten Rezessionen bzw. weltweiten Krisen des gesamten Kapitalismus verbunden. Diese Krisen fanden 1974/75, 1980–82, 1991/92, 2001/02 und 2008/2009 statt. Die letztgenannte Krise war die schwerste und tiefste, die sowohl die Autoindustrie als auch der weltweite Kapitalismus seit der Weltwirtschaftskrise 1929–1932 erlebt haben.
Dramatische Verschiebungen der «Produktionsgeographie»
Die Veränderungen im Weltkapitalismus sind eng mit den Veränderungen im internationalen Fahrzeugbau verbunden. Die Weltbranche Auto wurde ein gutes halbes Jahrhundert lang – von Anfang des 20.Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre hinein – von den USA bestimmt. Das war die Periode der unbeschränkten US-Vorherrschaft in der kapitalistischen Weltwirtschaft.
Auf die Vorherrschaft der US-Autoindustrie folgte eine Periode, in der die japanische Autoindustrie den Ton angab. Das war der Fall in den Jahren 1970–1995. Es war zugleich die Zeit des Aufstiegs Japans im weltweiten Kapitalismus, als man von einer «Triade» aus USA, Westeuropa und Japan sprach.
Seit Anfang des 21.Jahrhunderts erleben wir einen kometenhaften Aufstieg von China zur größten Werkstatt (nicht Werkbank!) für Autos. Ende des 20.Jahrhunderts wurden noch mehr als vier Fünftel aller weltweit produzierten Kraftfahrzeuge in Nordamerika, Japan, Südkorea und Westeuropa hergestellt. Dieser Anteil sank bis 2018 auf unter 50 Prozent. Der Anteil von China stieg im gleichen Zeitraum von gut drei auf knapp 30 Prozent.²
Doch die veränderte regionale Autoproduktion spiegelt sich nicht bei den Autoherstellern wider.³ Im Unterschied zu dem umgepflügten Produktionsfeld gab es bei den Autokonzernen wesentlich weniger Veränderungen. Konkret: Die zwölf größten Autohersteller der Welt kontrollieren auch im Jahr 2017 noch drei Viertel (75,2%) der Weltautoherstellung. 2005 waren es mit 80,3% nicht wesentlich mehr.
Von diesen zwölf Konzernen sind nach unserer Definition elf im weiteren Sinn dem «Westen» zuzurechnen. Es gab im Jahr 2017 mit SAIC nur einen chinesischen Autohersteller im führenden Zwölferrudel. Dabei handelt es sich um einen Staatskonzern, der mit VW in einem Joint Venture verbandelt ist und der auf dem Weltmarkt – außerhalb Chinas – keine größere Präsenz hat.
Die Bilanz: Die neue Krise der weltweiten Autoindustrie ist im Westen noch nicht voll ausgebildet, in China jedoch bereits harte Realität. Mit einer Krise auf dem Autosektor in China ist der weltweit größte Markt für Autos betroffen. Und es sind zugleich die westlichen Konzerne, die von dieser Branchenkrise in China betroffen sind. Denn sie sind auch bei der Produktion in China die Platzhirsche. Dass das bei VW, Daimler und BMW bis Sommer 2019 noch nicht voll durchschlug, hat etwas mit den besonderen Merkmalen dieser Hersteller zu tun (Prestige und Hersteller von Pkw der oberen Klassen für die «obere chinesische Mittelschicht»). Doch auch die deutschen Hersteller dürften im Verlauf des Jahres 2019 mit voller Wucht von der neuen Branchenkrise erfasst werden.
Vor dem Hintergrund der Krisenerscheinungen in der gesamten Weltwirtschaft und dem sich verschärfenden Handelsstreit spricht vieles dafür, dass die Entwicklungen in China und in der Autoindustrie den Kern einer neuen allgemeinen Krise des Weltkapitals bilden.
Fussnoten:
¹Der Maschinenbau zählt in Deutschland 1,2 Millionen Beschäftigte – gegenüber 820000 Beschäftigte in der Autoindustrie (die Zulieferer bereits eingeschlossen). Der Maschinenbauumsatz lag 2017 bei 220 Mrd. Euro, wovon 75% oder Maschinen im Wert von 165 Mrd. Euro ins Ausland gingen. Die BRD-Autobranche hatte im selben Jahr einen Umsatz von 420 Mrd. Euro; Kfz im Wert von 270 Mrd. Euro wurden exportiert.
²Quelle: OICA – Organisation Internationale des Constructeurs d’Automobiles, Paris; Jahresstatistiken bis einschließlich 2018. In der Tabelle nicht aufgeführte Autoherstellerländer und deren Anteile sind wie folgt (Werte für 2017): Kanada (Anteil: 2,3%), Mexiko (4,2%), Türkei (1,7%), Russland (1,6%), Indonesien (1,2%), Iran (1,6%), Thailand (2,3%) und Südafrika (0,6%). Der Rest von rund 2% (zu 100%) verteilt sich über ein Dutzend Länder.
³Basis der Angaben in der Tabelle: OICA-Statistik bis einschließlich 2017. In der OICA-Statistik für 2018 sind mit Stand August 2019 die Angaben für die Produktion der Konzerne – im Unterschied zur Produktion nach Ländern – noch nicht enthalten.
Siehe ausführlich: Winfried Wolf: Mit dem Elektroauto in die Sackgasse. Warum E-Mobilität den Klimawandel beschleunigt. Wien 2019 (dort v.a. S.73ff.).
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