Verschwörungstheoretiker*innen, Impfgegner*innen und Covidioten aller Art behaupten, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Bill Gates hegen den geheimen Plan, einen Impfzwang gegen das Corona-Virus einzuführen. Dieses Hirngespinst ist natürlich falsch. Die Entwicklung einer Impfung und vor allem die Frage, wer sich in Zukunft überhaupt impfen lassen kann, ist hingegen eine klassenpolitische Frage von grosser Tragweite.
von Philipp Gebhardt (BFS Zürich)
Historische Tradition der Impfskepsis
Der Kampf gegen die Corona-Pandemie gibt den Impfgegner*innen starken Aufwind. Seit Monaten mobilisieren sie online und neuerdings auch auf der Strasse gegen einen angeblichen Impfzwang. Die dabei zur Schau gestellte Unvernunft wirkt zwar verstörend, überraschend ist sie aber nicht, knüpft sie doch an eine lange historische Tradition an. Skepsis gegenüber Impfungen existiert seit dem Zeitalter der Aufklärung, als dank dem wissenschaftlichen Fortschritt das erste Impfverfahren erfunden wurde: Als der englische Landarzt Edward Jenner Ende des 18. Jahrhunderts die erste Impfung gegen Kuhpocken erfand, war in Europa die Angst weit verbreitet, dass die Impfung bei den Menschen zum Wachsen von Kuhhörnern führen würde.
Globaler Wettlauf um die Impfung
Nachdem die Impfstoffherstellung in den letzten Jahren zugunsten der Medikamentenproduktion weltweit runtergefahren wurde, ist seit Ausbruch des Corona-Virus der Wettlauf zwischen den grossen Chemie- und Pharmakonzernen, den Staaten und Forschungslabors um die Entwicklung einer Impfung gegen das Virus in vollem Gange. Mittlerweile gibt es circa 200 ernstzunehmende Impfstoffprojekte. Auch die grossen Schweizer Player der Branche mischen im Rennen mit. Anfangs Mai wurde bekannt, dass das US-Biotechunternehmen Moderna Therapeutics mit dem Schweizer Chemiekonzern Lonza einen millionenschweren Produktionsvertrag abgeschlossen hat, damit Lonza den Wirkstoff (also die entscheidende pharmazeutische Zutat, aber nicht den gesamten Impfstoff selbst) für eine vielversprechende Impfung des US-Unternehmens herstellt. Seit Jahresbeginn hat der Aktienkurs von Lonza um 40% zugelegt, was vor allem den Hauptaktionär Blackrock – den weltgrössten Vermögensverwalter und Mitbesitzer quasi aller grossen Industriekonzerne in Europa und den USA – freuen wird.
Güterverteilung im Kapitalismus
Das Brisante daran ist aber nicht die horrende Wette, die hier eingegangen wird (niemand weiss, ob der Impfstoff tatsächlich nützt) oder die massiv aufgeblasenen Börsenkurse der beteiligten Unternehmen (bei Moderna sind es plus 240% seit Jahresbeginn), sondern, dass die Kapitaleigentümer*innen von Moderna entscheiden werden, für welche Menschen der Impfstoff schliesslich zugänglich sein wird. Trotz den allseitigen Beschwichtigungen ist es sicher wie das Amen in der Kirche, dass die Impfdosen abgesehen vom Gesundheitspersonal nur an Menschen verteilt werden, die diese auch bezahlen können. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern die nackte Logik der kapitalistischen Güterverteilung. Dagegen nützt auch die kürzlich verabschiedete Resolution der WHO für eine gerechte Impfstoffverteilung nichts. Denn gleichzeitig hat der US-Präsident Trump bzw. sein Gesundheitsministerium mit der «Operation Warp Speed» 500 Millionen Dollar alleine in Moderna investiert und damit klargemacht, wer die Früchte der Impfstoffproduktion erhalten soll.
Das Potenzial der «Mottenkiste»
Die kapitalistische Form der Impfstoffproduktion ist also in doppelter Weise widersinnig. Einerseits verhindert die Konkurrenzwirtschaft ein gemeinsames Forschen und Produzieren und verzögert letztlich die Herstellung einer Impfung. Andererseits wird die globale Verteilung der Impfungen vom Portemonnaie der Menschen bzw. ihrer Klassenzugehörigkeit abhängen und nicht von gesundheitlichen, epidemiologischen und solidarischen Erwägungen.
Gesellschaftliche Krisen wie die aktuelle stellen uns vor neue Herausforderungen und Fragen. Das heisst aber nicht, dass auch alle Antworten neu erfunden werden müssen. Auch scheinbar altbackene und verstaubte Lösungen können ihre Gültigkeit und Wirksamkeit behalten. Zum Beispiel ist die Enteignung von Lonza und Moderna und deren Unterstellung unter die Kontrolle der Beschäftigten sowie der Öffentlichkeit – also die gesellschaftliche Aneignung der Produktionsmittel der beiden Unternehmen sowie darüber hinaus der gesamten Chemie-, Pharma- und Biotechindustrie – nicht nur im Sinne der hiesigen Bevölkerung, sondern buchstäblich im gesundheitlichen Interesse der gesamten Weltbevölkerung.
Das Titelbild zeigt das 1909 in Betrieb genommene Lonza-Werk in Visp im Kanton Wallis, wo der Wirkstoff u.a. produziert werden soll.
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