Das Coronavirus ist neu, doch materialistische ForscherInnen haben in den letzten Jahren mehrfach auf den gefährlichen Zusammenhang von Viren und Kapitalismus aufmerksam gemacht. Eine Zusammenfassung wichtiger Thesen in Bezug auf den gesellschaftlichen Charakter von Epidemien und Pandemien.
von Revolutionärer Aufbau; aus aufbau.org
Am gründlichsten haben sich in den letzten Jahrzehnten wohl Rob Wallace und Mike Davis mit Viren auseinandergesetzt. Davis schrieb intensiv über die historischen Hintergründe von Krankheiten, beispielsweise in seinem Buch «Vogelgrippe. Zur gesellschaftlichen Produktion von Epidemien». Und Wallace befasste sich in seinem Blog «Farming Pathogens» (Landwirtschaftliche Krankheitserreger) jahrelang mit dem Zusammenhang globalisierter Nahrungsmittelproduktionsketten und Grippeviren. Ein wesentlicher Teil dieser Beiträge erschien 2016 in «Big Farms Make Big Flu». Beide Autoren folgen mit unterschiedlichem Schwerpunkt drei zentralen Thesen: Erstens beschleunigt sich die globale Verbreitung von Viren durch Prozesse der kapitalistischen Globalisierung und Landnahme. Dadurch intensiviert der Kapitalismus die Gefahr von viralen Epidemien. Zweitens trägt die kapitalistische Landwirtschaft, insbesondere nach ihrer neoliberalen Reorganisierung, zur tödlichen Virenproduktion bei. Drittens hat die Klassengesellschaft Auswirkungen auf den Umgang und die Folgen von Pandemien.
Globale Verkettung
Dass die Massenbewegungen von Arbeitskräften und Waren wie auch die immer steigenden Reisebewegungen der Eindämmung von einmal entstandenen Viren nicht dienlich ist, ist banal. Für Wallace wichtiger ist allerdings die Beobachtung, wie der globalisierte Kapitalismus bisher lokal isolierte Systeme zerstört und in den Weltmarkt integriert. Ist beispielsweise ein Virenstamm in einem begrenzten Ökosystem isoliert, drängt er durch die Zerstörung solcher Systeme auf andere Wirte und verbreitet sich rasant. «Was lokal existierte wird global», fasst Wallace diesen Mechanismus in einem lesenswerten Interview zusammen.[1] Ein Beispiel hierfür ist das vermutlich von Flughunden ausgehende Ebola. Einerseits steigt durch die Verkleinerung von deren Lebensbereiche die Wahrscheinlichkeit der Übertragung von den Tieren auf den Menschen. Andererseits sinken durch Abholzung und Landnahme die natürlichen Grenzen, die den Virus in der Regel daran hindern, sich ausreichend zu übertragen.
Die Einengung der bisherigen Lebensbereiche verstärkt zudem die Mutationsfreudigkeit von Viren. Vereinfacht gesagt verweist Wallace auf einen prägenden Umstand. Im eingeengten Lebensbereich passen sich Viren durch neue Übertragungsmöglichkeiten oder schnellerer Lebenszyklen den neuen Umständen an. In der Regel wären dabei kürzere Lebenszyklen nicht von evolutionärem Vorteil. Trifft das Virus allerdings auf ebenfalls geschwächte Wirte, sind die schnelleren Lebens- und Übertragungszeit Pluspunkte in der Selektion, welcher Virenstamm sich besser verbreiten kann.
Kapitalistische Fleischindustrie als Virenherd
Wallace nennt die Verbindung von industrieller Tierhaltung und (Grippe-)Viren eine «strategische Allianz», weil Viren insbesondere in der Geflügel- und Schweineindustrie aufgrund von beschleunigten Umschlagszahlen auf eine Vielzahl geschwächter Wirte treffen. Dazu vorweg: Die industrielle Produktion von Fleisch hat für die Unternehmen den Vorteil, dass die Produkte günstig herzustellen sind und der Profit gross ist. Wie in jedem anderen Bereich auch optimiert man dazu die Produktionsprozesse. Im Tierbereich führt die intensivierte und künstlich optimierte Monokultur in vielen Fällen zu einer Schwächung des Immunsystems der Nutztiere, das als natürliche Schranke Übertragungen hemmen könnte. Hinzu kommen die verdichtete Haltung, in der Viren noch einfacher von Tier zu Tier springen können, und die verkürzte Lebenszeit, in der Viren immer neue Wirte finden und ihre Ansteckungsfähigkeit erhöht. Letzteres ist Teil der evolutionären Entwicklung, die die industrielle Tierproduktion so gefährlich macht. Steigen die Umschlagszyklen beispielsweise durch eine immer schnellere Abfolge von Jungtieren und Schlachtung, sinkt die Zeit, die dem Virus bleibt, um sich zu verbreiten. Entsprechend passt sich das Virus an und wird tendenziell ansteckender.
Die Folgen davon betreffen nicht nur Massenproduktion. Entlang verschiedener Produktionszweige könnten die mutierten Virenstämme auch auf Tiere in der Natur oder auf andere Höfe oder Kleinstbetriebe übergehen, beispielsweise über Subunternehmen, die für grössere Produzenten arbeiten. So sind die Massenhaltungen zwar die Keimzellen für die Mutation und Verbreitung neuer Viren, sie müssen aber, wie sich vermutlich auch in der COVID-19-Pandemie zeigt, nicht zwingend deren Ausgangslage sein.
Profit vor Konsequenzen
Anderer Bestandteil der neuen Ausbreitungsrate von Viren sind politische Versäumnisse. Trotz globalisierter Produktionsketten hängt die wirtschaftliche Leistung etlicher Länder an spezifischen Wirtschaftszweigen. Gerade in der Lebensmittelbranche treffen nur schon kleinste Gerüchte den Absatz. Wie die verschiedenen Ausbrüche der Vogelgrippe in den letzten Jahren gezeigt hat, vertuscht man Ausbrüche neuer Viren deshalb lieber als sie von Beginn weg zu bekämpfen – wobei die Verheimlichung von potenziellen und realen Katastrophen eine Eigenschaft ist, die auch in realsozialistischen Ländern gängig war.
Die Versäumnisse betreffen im globalisierten Markt nicht nur Staaten, sondern auch Unternehmen. Dafür führt Wallace das Beispiel des thailändischen Fleischmultis CP Group auf. Als in einer deren chinesischen Farmen Fälle der Vogelgrippe auftauchten, beschloss Japan den Import von Geflügel aus entsprechender Region zu unterbinden. CP selbst profitierte jedoch davon, indem sie nunmehr an ihren thailändischen Produktionsstätten die Produktion intensivierten und den Export nach Japan steigern konnte. Statt Konsequenzen gab es Profit, statt neuer Nachhaltigkeit ging es so weiter wie bisher, mit dem Ergebnis, dass die Vogelgrippen mehr denn je zu den grossen Gefahren für Geflügel zählt – und ständig zu mutieren droht.
Die NAFTA Grippe
Wallace nennt die 2009 ausgebrochene Schweinegrippe H1N1 durchgängig «NAFTA Grippe». Dazu verweist er auf eine These von Mike Davis. Dieser hat unter anderem darauf hingewiesen, wie sich der Erregerstamm der Schweinegrippe jahrzehntelang fast nicht veränderte, die Mutationen seit 1998 allerdings explodierten.[2] Dies, so die These von Wallace, ist kein Zufall, sondern hängt mit einer neuen Phase der Globalisierung zusammen. Das 1994 umgesetzte nordamerikanische Freihandelsabkommen hatte eine fundamentale Auswirkung auf die Landwirtschaft, insbesondere die Schweineindustrie. Im globalisierten Markt zentralisierten sich die Anbieter. Kleinere Betriebe wurden übernommen, die Anzahl industriell gehaltener Tiere vergrösserte und verdichtete sich. Geschaffen wurde jene Grundlage, in der die Viren sowohl rascher mutieren als auch sich verbreiten konnten. Das heisst nicht, dass es zuvor keine Viren und Mutationen gab. Wallace verweist vielmehr auf die mit den neoliberalen Umwälzungen einhergehenden Veränderungen in der Fleischproduktion und im Agrobusiness, die sich auf das Potenzial von Viren auswirkten.
Gesundheit und Klassengesellschaft
Wenn heute anlässlich der Corona-Pandemie in den Medien tagtäglich mit Zahlen hantiert wird, liegt dahinter oftmals ein Missverständnis: Viren haben keine statische Todesrate. Sie sind zwar unterschiedlich gefährlich für die Menschen, die Gefahr, die von ihnen ausgeht, hängt allerdings wesentlich vom Zugang zum Gesundheitsangebot ab. Und dieser ist in der Klassengesellschaft unterschiedlich verteilt – sowohl was die globale Ungleichheit betrifft als auch was lokal zur Verfügung steht. Anders gesagt: ein Virus, der in kapitalistischen Gesellschaften auftritt, hat immer einen Klassencharakter, weil er sich zwangsläufig entlang bestehender gesellschaftlichen Strukturen zeigt und bewegt.
Ein bekanntes Beispiel hierfür ist, wie Davis ausführt, die Spanische Grippe. Ungleich tödlicher als manche anderen Grippestämme war sie insbesondere deshalb so verheerend, weil sie auf eine Welt in fatalem Gesundheitszustand traf. In armen beziehungsweise kolonialisierten und Hungersnöten ausgesetzten Gegenenden wie Indien grassierte sie weitaus tödlicher als in anderen Teilen der Welt. Dies wird für die Corona-Epidemie leider nicht anders sein. Länder mit mehr Sauerstoffgeräten und medizinischer Versorgung werden besser auf die Pandemie reagieren können. Doch auch hier ist der Zugang zu Gesundheit ein komplexes Thema. Es betrifft nicht nur die Anzahl Spitäler und Ärzte, sondern beispielsweise auch die Frage, wer es sich leisten kann bei Grippesymptomen zuhause zu bleiben und mögliche Lohnausfälle zu kompensieren.
Mögliche Perspektive
Während Davis vor allem Reformen und eine Rücknahme der Privatisierungen im Gesundheits- und Vorsorgebereich fordert, klingt bei Wallace noch eine andere Perspektive an. Da er nicht einfach zurück zu einer traditionellen Landwirtschaft will und eine Vielzahl von Menschen ernährt werden müssen, schlägt er mit Bezug zum marxistischen Biologen Richard Levin und dessen Analyse kubanischer Landwirtschaftsreformen der 1990er Jahre eine Alternative vor, in der Landwirtschaftsbetriebe lokaleren Kollektiven übergeben und die Anbaufläche diversifiziert werden könnte. Die lokalere Produktion und Konsum stärkt, so die Hoffnung, zugleich die biologischen und natürliche Schädlingsbekämpfung und macht die potenziellen Wirte weniger anfällig auf Viren.
Literatur:
Mike Davis: Vogelgrippe: Zur gesellschaftlichen Produktion von Epidemien
Rob Wallace: Big Farms Make Big Flu
Rob Wallace: Coronavirus: »Die Agrarindustrie würde Millionen Tote riskieren.« https://www.marx21.de/coronavirus-gefahren-ursachen-loesungen/
[1] https://www.marx21.de/coronavirus-gefahren-ursachen-loesungen/
[2] https://socialistworker.org/2009/04/27/capitalism-and-the-flu
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