Genauso, wie Industriearbeiter*innen und Dienstleister*innen erst die Waren herstellen, aus welchen die Kapitalist*innen ihren Profit schlagen, sind es die Arbeiter*innen sozial reproduktiver Arbeit (SRT), welche erst die Lohnabhängigen, auf die Welt bringen, ernähren, erziehen und pflegen. Und ebenso wie das Kapital ins Wanken gerät, wenn man ihm die produktive Arbeitskraft verweigert, würde das kapitalistische System implodieren, wenn die Quelle seiner Aufrechterhaltung, die sozial reproduktive Arbeit, wegfiele. Durch die Corona-Krise tritt nun der Widerspruch zwischen der Unentbehrlichkeit der Verrichter*innen sozial reproduktiver Arbeit für das schiere Weiterbestehen des Systems und der sozialen wie materiellen Wertschätzung, welche sie dafür tatsächlich erfahren, unverhohlen in Erscheinung. Das «Marxist Feminist Collective»[1] formuliert sieben Thesen, um eine Perspektive aufzuzeigen, wie aus der momentan offen zutage tretenden Bedeutung sozial reproduktiver Arbeit eine emanzipatorische Strategie entwickelt werden kann. (Red.)
von The Marxist Feminist Collective; aus spectrejournal.com
1. These: Der Kapitalismus priorisiert die Herstellung von Profit gegenüber der Herstellung von Leben. Wir wollen das umkehren!
Diese Pandemie, und die Antwort der herrschenden Klasse darauf, bietet eine klare und tragische Veranschaulichung der Kernidee der Theorie der sozialen Reproduktion (SRT): dass sich das Produzieren von Leben der Forderung nach Profitherstellung beugt.
Die Fähigkeit des Kapitalismus, seine eigene Lebensader — Profit —, zu produzieren, bedingt ganz und gar der täglichen “Produktion” der Arbeiter*innen. Das bedeutet, der Kapitalismus bedingt des Prozesses der Lebensschaffung, welchen er nicht ganz und unmittelbar kontrolliert oder beherrscht. Gleichzeitig verlangt die Logik der Akkumulation, dass die Löhne und Steuern, welche die Produktion und Aufrechterhaltung von Leben stützen, so tief wie möglich gehalten werden. Das ist der wesentliche Widerspruch im Innersten des Kapitalismus. Er erniedrigt und wertet genau diejenigen ab, die den sozialen Reichtum herstellen: Pflegefachpersonen und weitere Arbeiter*innen in Spitälern und im Gesundheitswesen, landwirtschaftliche Arbeiter*innen, Arbeiter*innen in Lebensmittelfabriken, Supermarktangestellte und Auslieferungsfahrer*innen, Müllwerker*innen, Lehrer*innen, Kinderbetreuer*innen, Altenpfleger*innen. Das sind die ethnisierten und feminisierten[2] Arbeiter*innen, die der Kapitalismus mit Niedriglöhnen und gefährlichen Arbeitsbedingungen erniedrigt und stigmatisiert. Doch die gegenwärtige Pandemie macht klar, dass unsere Gesellschaft nicht ohne sie überleben kann. Unsere Gesellschaft kann auch nicht mit pharmazeutischen Unternehmen, die um Profit konkurrieren und unser Recht, am Leben zu bleiben, ausbeuten, überleben. Und es ist offensichtlich, dass «die unsichtbare Hand des Markts» keine weltweite Gesundheitsinfrastruktur errichten und betreiben wird, welche, wie es uns die Pandemie zeigt, den Bedürfnissen der Menschen entspricht.
Die Gesundheitskrise zwingt daher das Kapital, sich auf das Leben und Leben schaffende Arbeit wie jene im Gesundheitswesen, der Sozialfürsorge, in der Lebensmittelproduktion und -verteilung zu fokussieren. Wir verlangen, dass dieser Fokus bestehen bleibt, auch wenn die Pandemie vorüber ist, damit Gesundheit, Bildung und andere Leben schaffende Tätigkeiten dekommodifiziert[3] und für alle zugänglich gemacht werden.
2. These: Beschäftigte der sozialen Reproduktion sind essentielle Arbeiter*innen. Wir fordern, dass sie als solche dauerhaft anerkannt werden!
[…]. Angesichts des Bedürfnisses des Kapitalismus, Profit zu erzeugen und diesen über das Herstellen von Leben zu stellen, sind die Tätigkeiten der Freiwilligenorganisationen, Kommunen, Haushalte und Individuen in der aktuellen Krise unverzichtbar, aber nur dürftig ausgerüstet, um den Herausforderungen zu begegnen. Es ist nicht bloss, dass SARS-CoV-2 seinen Tribut vom Gesundheitswesen, den Arbeiter*innen des öffentlichen Verkehrs und der Lebensmittelgeschäfte, sowie von verschiedenen ehrenamtlich Engagierten fordert. Jahre des Abbaus essentieller Sozialleistungen im Namen der Sparpolitik haben dazu geführt, dass der Personalbestand der sozialen Institutionen, die für die soziale Reproduktion notwendig sind, [wie Spitäler, Kindertagesstätten oder Altersheime; Anm. d. Red.] geringer geworden ist, und dass kommunale Organisationen spärlicher und schlechter ausgerüstet sind.
Um Jahrzehnte der Vernachlässigung in einer Krise zu kompensieren, verschieben kapitalistische Staaten und Unternehmen gerade ihre Prioritäten, aber lediglich teilweise und temporär. Sie senden Schecks an Haushalte, dehnen die Arbeitslosenversicherung für prekäre Arbeiter*innen aus, beordern Arbeiter*innen der Automobilindustrie dazu, von der Produktion von Autos zur Produktion von Masken und Beatmungsgeräten zu wechseln. Im Spanischen Staat hat die Regierung vorübergehend gewinnorientierte Krankenhäuser übernommen; in den Vereinigten Staaten müssen Versicherungsfirmen die Selbstbeteiligung für das Testen auf SARS-CoV-2 aufheben. Unter anderem zeigt dies gerade, wie die Ressourcen doch jederzeit und reichlich verfügbar sind, um die Bedürfnisse der Leute zu decken, wenn ein politischer Wille vorhanden ist.
Wir verlangen, dass die Arbeiter*innen im Sektor der sozialen Reproduktion —Pflegefachpersonen, Reinigungsfachpersonal, Lehrer*innen, Abfallbeseitigungspersonal, Lebensmittelmitarbeiter*innen und Supermarktangestellte — permanent für die Dienste, die sie erbringen, anerkannt werden, und ihre Löhne, Sozialleistungen und der soziale Status verbessert werden, um ihre Bedeutung für den Erhalt der Gesellschaft als Ganzes entsprechend zu würdigen .
3. These: Wir müssen Menschen retten, nicht Banken!
In der Hoffnung einen völligen Kollaps der kapitalistischen Produktion abzuwehren, verwenden die Herrschenden weit mehr Ressourcen darauf, Unternehmen und ihre Profite zu retten, als die Lohnabhängigen zu unterstützen. Genau diese Profite, wir erinnern uns, die durch die Arbeitskraft produziert werden, die wiederum von der Arbeiter*innenschaft reproduktiver Arbeit geschaffen wird. CEOs von Hotels und Restaurantketten, Technologie- und Luftverkehrsgesellschaften, und viele weitere schmeissen Arbeiter*innen von ihren Gehaltslisten, während sie zugleich ihre überaufgeblähten Löhne und Sozialleistungen bewahren. Dies, weil das kapitalistische System bedingt, dass der Widerspruch zwischen Lebens- und Lohnarbeit immer zugunsten des Kapitals denn zu dem der Menschenleben aufgelöst wird.
Wir fordern, dass alle finanziellen Ressourcen und staatlichen Unterstützungspakete in Leben herstellende Arbeit investiert werden, und nicht um kapitalistische Firmen am Laufen zu halten.
4. These: Öffnet die Grenzen, schliesst die Gefängnisse!
Diese Pandemie trifft die Migrant*innen und die Gefängnisinsassen besonders hart: Jene, welche in Gefängnissen oder Auffanglagern unter unwürdigen Hygienebedingungen und ohne Gesundheitsressourcen; jene, welche papierlos sind und aus der Angst, nach Hilfe zu suchen und dann abgeschoben zu werden, im Stillen leiden; jene, welche in Leben herstellende Arbeiten tätig sind (Gesundheitswesen und Sozialfürsorge, Landwirtschaft, etc.); und weitere, welche Gefahr laufen, infiziert zu werden, weil sie keine andere Wahl haben, als zur Arbeit zu gehen (Fehlen adäquater oder irgendwelcher Schutzausrüstung, etc.); jene, welche auf der Durchreise zwischen Ländern sind, um ihre Familien zu erreichen; und jene, welche ihre Länder wegen der Einreiseverbote und Sanktionen nicht verlassen können. Pandemie hin oder her, Trump will seine Sanktionen gegen den Iran (wo Infektionsraten und Todesfälle rasant in die Höhe schiessen) beibehalten. Und weder Trump noch die Europäische Union werden Druck auf Israel ausüben, damit es die Sanktionen, welche die zwei Millionen in Gaza eingekerkerten Menschen um dringend gebrauchte medizinische Versorgungsgüter berauben, aufhebt. Diese ungleiche Antwort auf die Pandemie stützt sich auf und verfestigt zugleich die rassistische und kolonialistische Unterdrückung, die der kapitalistische Unterbau des Kapitalismus ist.
Wir verlangen, dass die Gesundheitsfürsorge Vorrang über Einwanderungsbestimmungen erhält; die meisten der Gefängnisinsassen (je nach Verbrechen) freigelassen werden; und dass Auffanglager geschlossen werden.
5. These: Solidarität ist unsere Waffe: Lasst sie uns gegen das Kapital benutzen!
Die Pandemie hat der Welt offengelegt, wie werktätige Menschen in einer Krise immer mit einer breiten und kreativen Reihe an Überlebensstrategien durchkommen müssen. Für die meisten bedeutet das, sich auf nahestehende Freund*innen und Familien zu verlassen. Allerdings behaupten sich einige auch durch gegenseitige Hilfsinitiativen. Für die Obdachlosen und jene, die der Kapitalismus ausgemustert hat, kam die Unterstützung aus heroischen Initiativen von sozial reproduktiv arbeitenden Ehrenamtlichen, die anderen nichts Geringeres als das Recht, zu leben, anbieten. Überall im Vereinigten Königreich gründen Nachbarschaften Whatsapp-Gruppen, um mit den Schutzbedürftigsten in Verbindung zu bleiben, und ihnen zu helfen, Essen und Medikamente zu erhalten. Schulen senden armen Familien mit Kindern Essensmarken für kostenloses Essen. Städtische Essensausgaben und wohltätige Organisationen sehen, wie die Anzahl der Ehrenamtlichen anwächst. Aber wir haben auch aus den Lektionen der Vergangenheit gelernt: Wir werden nicht zulassen, dass kapitalistische Regierungen Gemeingüter der sozialen Reproduktion als Ausrede für den Rückzug des Staates aus seiner Verantwortung nutzen.
Als sozialistische Feminist*innen müssen wir dies weitertreiben, müssen wir zusammenarbeiten, um zu fordern, dass alles, was nötig ist, damit menschliches Leben gedeiht, von der Öffentlichkeit bereitgestellt wird. Das bedeutet, dass Solidarität entlang verschiedener Kommunen, die ungleich betroffen und ausgestattet sind, aufgebaut werden muss. Das bedeutet, die am stärksten Marginalisierten zu unterstützen und dafür zu plädieren, dass diejenigen Organisationen mit gewissen Ressourcen —Gewerkschaften, NGOs, kommunale Organisationen —sie unterstützen. Das bedeutet, zu fordern, dass der Staat die soziale Reproduktionsarbeit als Grundpfeiler der sozialen Existenz anerkennt.
Wir fordern, dass Regierungen von den Menschen lernen und in Bezug auf die Politik nachbilden, was einfache Menschen machen, um einander zu helfen und zu unterstützen.
6. These: Feministische Solidarität gegen häusliche Gewalt!
Die Lockdownmassnahmen, wie sie von den meisten Ländern ergriffen worden sind, um die Ausbreitung von SARS-CoV-2 einzudämmen, so sehr sie auch absolut notwendig waren, haben schwere Konsequenzen für Millionen von Menschen, die in von Missbrauch geprägten Beziehungen leben. Berichte von häuslicher Gewalt gegen Frauen und LGBTIQ*-Personen haben sich während der Pandemie vervielfacht, da Opfer gezwungen sind, drinnen mit ihren gewalttätigen Partnern oder Familienmitgliedern zu bleiben. Kampagnen fürs Zuhause-bBleiben, welche die spezifische Notlage häuslicher Misshandlung nicht berücksichtigen, sind besonders besorgniserregend in einem Kontext, in welchem Jahre des zügellosen Neoliberalismus zur Folge hatten, dass Mittel aus Schutzunterkünften und Hilfeleistungen für Gewaltopfer gestrichen worden sind.
Wir fordern, dass Regierungen die Jahre des Abbaus der Hilfeleistungen sofort rückgängig machen, und die Ressourcen bereitstellen, welche die Behörden brauchen, um zu funktionieren und ihre Nottelefone breitflächig bekanntzumachen.
7. These: Arbeiter*innen der sozialen Reproduktion haben gesellschaftliche Macht. Wir können sie nutzen, um die Gesellschaft neu zu organisieren!
Diese Pandemie kann, und sollte, ein Moment sein, in dem die Linke eine konkrete Agenda für einen Weg dafür vorlegt, wie man Leben über Profit stellen kann. Ein Weg, der uns helfen wird, über den Kapitalismus hinauszugelangen. Diese Pandemie hat uns bereits gezeigt, wie sehr der Kapitalismus der Arbeiter*innen der sozialen Reproduktion bedarf — bezahlt und unbezahlt, in Krankenhaus- und infrastruktureller Arbeit, in Haushalten, in Kommunen. Erinnern wir uns daran, und an die gesellschaftliche Macht, welche solche Arbeiter*innen besitzen. Heute ist der Moment, in dem wir, als Arbeiter*innen der sozialen Reproduktion, ein Bewusstsein für die gesellschaftliche Macht, die wir besitzen, entwickeln müssen, in unseren nationalen Kontexten, an den Grenzen, die uns trennen und auf der ganzen Welt.
Wenn wir stillstehen, steht die Welt still. Diese Einsicht kann die Basis politischer Richtlinien werden, die unsere Arbeit respektiert. Sie kann weiter die Basis für politisches Handeln und für eine erneuerte antikapitalistische Agenda werden, die nicht das Profitmachen, sondern das Herstellen von Leben ins Zentrum stellt.
Veröffentlicht am 3. April 2020. Übersetzung und Zwischentitel durch die Redaktion.
[1] The Marxist Feminist Collective besteht aus Tithi Bhattacharya, Svenja Bromberg, Angela Dimitrakaki, Sara Farris, und Susan Ferguson. Sie organisieren u.a. den Marxist Feminist Stream an der jährlichen Historical Materialism Conference in London.
[2] Solche Berufe, die oft nur unter prekarisierten und unterbezahlten (mitunter auch in den familiären Haushalt und somit in die Gratisarbeit verdrängten) Bedingungen ausgeübt werden können, werden durch systemische Disparitäten in der Klassengesellschaft des Kapitalismus hinsichtlich der Bildungs-, Aufstiegs- und Mitbestimmungschancen gleichzeitig auch häufig von Frauen und/ oder ethnischen Minderheiten wahrgenommen. (Anm. der Red.)
[3] Mit der Kommodifizierung ist gemeint, dass Gegenstände, Dienste, Bedürfnisse, Verhaltensweisen oder Personen zur Ware verdinglicht werden. Es steht dann nicht mehr der Bedarf einer Sache/Person im Vordergrund (z.B. Essen zu schaffen, um Hunger zu tilgen; Behausung schaffen, um Obdach zu bieten; Sozialleben zur Deckung des Bedürfnisses nach menschlicher Nähe), sondern der Profit aus dessen Tauschwert auf dem Markt. (Anm. der Red.)