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Frankreich: Der Massenprotest weitet sich aus

Am 9. und 10. Januar 2020 gehen die Streiks gegen die Rentenreform in Frankreich in die nächste Runde. Über die Feiertage hielten die Bahnarbeiter*innen der SNCF und die Angestellten der Pariser Nahverkehrsbetriebe (RATP) die Flamme des Protestes aufrecht. Auch weitere Sektoren führten die Streikaktivitäten weiter. Für Furore sorgten insbesondere die Tänzer*innen der Pariser Oper, welche mit einer Volksaufführung die Bevölkerung für sich gewann, sowie die Beschäftigten der Elektrizitätsgesellschaft EDF, die dafür sorgten, dass ärmeren Familien an den Weihnachtstagen der Strom nicht abgestellt wird, während sie gleichzeitig lokalen Polizeiposten und grösseren Betrieben wie Amazon den Strom gekappt haben. An den kommenden Streiktagen werden sich zusätzlich zu den kämpferischen Gewerkschaften nicht nur die moderaten Gewerkschaftsverbände beteiligen, sondern insbesondere auch strategisch wichtige Sektoren der Privatwirtschaft, wie die Raffineriearbeiter*innen. Der Kampf gegen Macrons Rentenreform scheint in die entscheidende Phase eingetreten zu sein. (Red.)

von Bernard Schmid; aus Sozialistische Zeitung

Zwei Wochen vor Weihnachten ist ruchbar geworden, für wen die französische Regierung die Rentenreform macht: für die Versicherungskonzerne. Am 17. Dezember 2019 war auch die CDFT [moderater, rechtssozialdemokratischer Gewerkschaftsverband, Anm. d. Red.] bei den Protesten mit dabei.

Auf diese Idee musste man erst einmal kommen: Die vormals der Regierungspartei LREM Emmanuel Macrons angehörige Lokalparlamentarierin Agnès Cerighelli, Mitglied des Stadtrats im Pariser Nobelvorort Saint-Germain-en-Laye, hatte eine Erklärung für die anhaltenden Streiks beim Pariser Nahverkehrsbetreiber RATP parat: Dieser habe zu viele Muslime eingestellt, twitterte sie am 13. Dezember 2019, und die seien gegen Weihnachten allergisch. Deswegen komme es nun zu Arbeitsniederlegungen, um den Franzosen die Weihnachtsferien zu verderben.

Zwar blieben diese, landesweit ziemliches aufsehenerregenden Ausfälle nicht unwidersprochen – der Bürgermeister von Saint-Germain-en-Laye schaltete sogar die Staatsanwaltschaft deswegen ein und diese nahm Ermittlungen wegen möglicher Hetze auf. Dennoch zeigt die Episode, wie ein Teil der Oberklasse zu denken scheint, der skrupellos bereit ist, auf alle rassistischen und anderen Spaltungsmechanismen zu setzen, um Mechanismen sozialer Solidarität zu bekämpfen.

Die extreme Rechte, die politisch und ideologisch von solchen Mechanismen profitiert, kam diesmal nicht auf eine solche Idee: Rund um Marine Le Pen versucht sie sogar, sich in der Öffentlichkeit als Unterstützerin der laufenden Streiks und Sozialproteste aufzuspielen. Ohne allerdings an den Demonstrationen teilzunehmen. Darin hat etwa die Confédération générale du travail (CGT), der stärkste Gewerkschaftsdachverband in Frankreich,[1] den Rassemblement National (RN – Nationale Sammlungsbewegung) auch ausdrücklich für unerwünscht erklärt.

Neues Aufflammen der Proteste

Weder auf Macrons wirtschaftsliberale Gefolgsleute noch auf die neofaschistische Scheinalternative vertraut unterdessen jener beträchtliche Teil der französischen Gesellschaft, der in soziale Bewegung geraten ist. […]

Die Regierung war bereit, den Massenprotest – in dessen Verlauf seit dem 5. Dezember 2019 der Personentransport sowohl im Nah- als auch im Fernverkehr in weiten Teilen Frankreichs fast vollständig lahmgelegt war – auszusitzen, um auf die Weihnachtspause zu warten. Nachdem mehrere Gewerkschaften, wie etwa die Eisenbahnerbranche der CGT, klar zu erkennen gaben, dass sie notfalls «keinen Weihnachtsfrieden einhalten» würden, versuchte die Regierung daran zu appellieren, dass relevante Teile der Gesellschaft mit einem Ausfall des Familienreiseverkehrs an den Feiertagen unzufrieden sein könnten.

In dieser Perspektive riefen etwa Premierminister Edouard Philippe und Transportministerin Elisabeth Borne, taktisch nicht ungeschickt, zu einer Streikpause auf – im Januar könnten die Beteiligten ja weiterstreiken, fügten sie in vertrauenseinflößendem Tonfall hinzu. Wohl darauf bauend, dass die Dynamik eines einmal unterbrochenen Streiks in sich zusammenfallen könnte. [Dieser Poker ging allerdings nicht auf, Anm. d. Red.]

Der Inhalt der Reformpläne

Ursprünglich plante Premierminister Edouard Philippe die Inhalte der Reform nur scheibchenweise, Stück für Stück bis zum Juni 2020 zu verkünden. Doch die Dynamik der Streiks und Demonstrationen – die durch das mit dieser Taktik geradezu genährte Misstrauen noch angefacht wurden – zwang ihn dazu, früher als gewollt Farbe zu bekennen. Zusammenfassend hat Philippe in seiner Ansprache am 11. Dezember 2019 folgende Vorhaben vorgestellt:

– Er bestätigte, dass ein neues «Scharnieralter» von 64 Jahren eingeführt wird – der Begriff meint faktisch das Mindestalter für den Renteneintritt, versucht diese Bezeichnung aber zu vermeiden und dadurch die Realität ein Stück weit zu verschleiern.

– Mit dem «Scharnieralter» ist ein früherer Renteneintritt nicht gesetzlich verboten, aber mit Abschlägen versehen; den vollen Rentenbezug gibt es erst ab 64 Jahren. Derzeit kann man mit 62 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen, wenn genügend Beitragsjahre zusammenkommen – derzeit mindestens 41,5, nach der letzten «Reform» unter François Hollande von 2014 wird diese Zahl jedoch in den nächsten 15 Jahren auf 43 steigen.[2]

– Bestätigt wird auch, dass die Rentenhöhe künftig nach einem «Punktesystem» auf die volle berufliche Karriere (in Zukunft: 43 Beitragsjahre) berechnet wird, statt bisher auf die besten 25 Einkommensjahre in der Privatwirtschaft, bzw. die letzten sechs Monate der beruflichen Laufbahn im öffentlichen Dienst. Bislang waren diese historisch errungenen Regeln damit gerechtfertigt worden, dass der Lohn oder das Gehalt am Ende eines Arbeitslebens in aller Regel wesentlich höher ausfällt als beim Berufseinstieg und dass ein allzu krasser Abfall des Einkommensniveaus zwischen dem Ende des Berufs- und dem Anfang des Rentenlebens vermieden werden müsse.

Bis zur «Reform Balladur» vom Hochsommer 1993 wurde die Berechnung der Rentenhöhe in der Privatwirtschaft auf der Grundlage der zehn besten Einkommensjahre vorgenommen (und bis zu dieser Reform reichten auch noch 37,5 Beitragsjahre aus), danach wurde sie auf 25 Jahre gestreckt. Nun soll die Berechnungsgrundlage also auf das gesamte Erwerbsleben ausgeweitet werden, und dies ebenso für die öffentlich Angestellten.

Spaltung in alt und jung

Dies wird natürlich zwangsläufig eine erhebliche Senkung der Rentenhöhe für fast alle Betroffenen zur Folge haben, auch wenn die Regierung dies unter Berufung auf «Fairness» und «volle Berücksichtigung der Lebensleistung» konsequent zu verschleiern sucht. Allerdings soll es den jüngsten Ankündigungen zufolge (bislang noch nicht näher bekannte) «Ausgleichselemente» für Gefahrenberufe geben. Gedacht ist dabei vor allem… an Polizei und Militär. Eventuell werden andere Berufsgruppen Entsprechendes für sich aushandeln können.

Betroffen sind alle Jahrgänge, die 1975 geboren wurden oder jünger sind, also die heute höchstens 44jährigen, nicht die Älteren; für sie sollen ab 2025 die neuen Regeln gelten. Für die Jahrgänge ab 2005 (heute 14 Jahre alt und jünger) sollen die neuen Regeln bereits ab 2022 und mit ihrem ab dann zu erwartenden Arbeitsmarkteintritt ausschließlich Anwendung finden.

Dadurch versucht die Regierung, die Gesellschaft auseinanderzudividieren, weil sie quasi einen Schnitt mitten durch die Alterspyramide auf dem Arbeitsmarkt macht und eine ausreichende Zahl von Lohnabhängigen sich deshalb prinzipiell sagen könnte: «Betrifft mich ja nicht!» Im ursprünglichen Regierungsentwurf, oder was davon bis dato durchgesickert war, hatte man noch eine Anwendung ab dem Jahrgang 1963 und jünger ins Auge gefasst.

Den konkreten Gesetzentwurf will die Regierung nun am 22. Januar 2020 präsentieren und ab Ende Februar 2020 im Parlament beraten lassen. Ursprünglich war eine Streckung bis Juni 2020 erwogen worden.

Versicherungskonzerne in den Startlöchern

Unterdessen steckt der Sonderbeauftragte der amtierenden Regierung für die Rentenreform – der frühere konservative Spitzenpolitiker Jean-Paul Delevoye – in besonderen Schwierigkeiten. Zunächst war ruchbar geworden, dass er seit etwa drei Jahren 5300 Euro monatlich Nebenbezüge von einer Allianz von Versicherungskonzernen bezieht (angeblich nur für den symbolischen «Ehrenvorsitz» in einem Institut für berufliche Fortbildung im Versicherungswesen, IFPASS) – neben anderen Einkünften und Rentenansprüchen.

Dies ist ihm gesetzlich verboten, da er den Status eines Regierungsmitglieds hat. Vor allem hat dieser Vorfall, in politisch wohl inopportuner Weise, das Augenmerk auf die klar definierten Interessen gelenkt, die mit dieser Rentenreform bedient werden. Längst sitzen nämlich die Versicherungskonzerne in den Startlöchern, um endlich endlich auch in Frankreich einen «Markt» für private, kapitalgedeckte Rentenversicherungen oder Zusatzabsicherungen aufzumachen.

Im Laufe des Wochenendes vom 14./15. Dezember 2019 wurden weitere, unerlaubte Nebentätigkeiten des Sonderbeauftragten Emmanuel Macrons und seiner Regierung publik – in seiner Eigenschaft als Lobbyist für Kapitalverbände, Kapitalgesellschaften sowie die Bahngesellschaft SNCF. Dreizehn Mandate Delevoyes kamen ans Tageslicht. Am 16.Dezember musste er daraufhin zurücktreten. Macron verlor damit einen wichtigen Mann an zentraler Stelle.

Unmittelbar nach der Ansprache Edouard Philippes erklärte auch Laurent Berger, Generalsekretär des rechtssozialdemokratisch geführten Gewerkschaftsdachverbands CFDT, es sei «eine rote Linie überschritten» worden.

Auch die nicht eben zum linken Flügel der französischen Gewerkschaften zählenden Verbände CFTC (christlicher Dachverband) und UNSA (vordergründig «unpolitisch», nicht staatsoffiziell als Dachverband anerkannt, faktisch oft CFDT-nahe in den Positionen) wollen nun bei den Protesten mitziehen. Ausdrücklich zufrieden mit den Ankündigungen oder jedenfalls ihrer Tendenz zeigte sich vorläufig eigentlich nur ein einziger Verband, und das war der Medef, der wichtigste Unternehmerverband…

Allerdings ist diese neue Unterstützung durch den rechteren Flügel der französischen Gewerkschaften zumindest zweischneidig. So erklärt die CFDT-Spitze, sie sei gar nicht gegen die geplante neue Rentenreform als solche und fordere auch nicht deren Rücknahme. Allerdings sei sie gegen das neue Scharnieralter von 64.

Leichte Anpassungen und Aktualisierungen durch die Redaktion.


[1] Vier Gewerkschaftsdachverbände waren seit Beginn an der Streikbewegung beteiligt: 1. CGT – der historisch älteste der fünf staatlich anerkannten Gewerkschaftsdachverbände und noch immer relativ kämpferische Verband; 2. die Union syndicale Solidaires – ein nicht offiziell als Dachverband anerkannter Zusammenschluss linker und linksalternativer Basisgewerkschaften, die meist unter der Bezeichnung SUD firmieren; 3. die FSU – ein Zusammenschluss von Gewerkschaften im Bildungswesen; 4. Force Ouvrière (FO) – der drittstärkste Dachverband unter den französischen Gewerkschaften. [Red.]

[2] Das gesetzliche Renteneintrittsalter liegt in Frankreich jetzt noch bei 62 Jahren – allerdings nur, wenn man vorher 41,5 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hat. Das ist die Anzahl der Beitragsjahre, die für eine volle Rente erforderlich sind. Die Regelung gilt für Männer und Frauen gleichermaßen. Hat jemand nicht den gesamten Zeitraum in die Rentenkasse eingezahlt, kann er mit vollen Bezügen erst ab 67 in Rente gehen. Diese Regelung gilt ab 2023. Neben dieser allgemeinen Regelung gibt es nach wie vor Sonderregelungen für rund 100 Berufsgruppen. So können etwa Lokführer, Beschäftigte des staatlichen Stromriesen EDF und andere staatliche Bedienstete vielfach schon ab 55 Jahren in Rente gehen. 42 verschiedene staatliche Pflichtversicherungen will Macron nun in einer einzigen Rentenkasse «bündeln», d.h. die Sonderregelungen abschaffen.

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