Die Geschichte hat der aufstrebenden Klimabewegung einen Strich durch die Rechnung gemacht. Unter dem Druck der aktuellen und sich abzeichnenden Zustände – Corona-Pandemie und Wirtschaftskrise – wird sich die Klimabewegung wandeln müssen, will sie in einer Zeit fortbestehen, in der Arbeitslosigkeit, Hunger, Krankheit und Prekarität die grössten Sorgen vieler Menschen sein werden. Noch wichtiger als zuvor ist es, den Klimawandel als soziale Frage zu behandeln. Zehn Thesen zu einer klimagerechten und antikapitalistischen Politik unter dem Eindruck der Corona-Krise.
von Luca Caplero (BFS Basel)
These 1: Die Ursachen der Umweltkatastrophe und der Corona-Pandemie hängen miteinander zusammen und offenbaren eine tiefgreifende Krise der Produktion des Lebens. Beide verdeutlichen somit die grösser werdende Diskrepanz zwischen kapitalistischer Logik und einer vernünftigen Politik zum Schutz von Mensch und Natur.
Die Pandemie ist kein reines «Naturereignis»: Sowohl in ihrer Entstehung wie auch in ihrer Ausbreitung hat sie auch gesellschaftliche Ursachen. Sie ist Ausdruck eines kapitalistischen Systems, das ständig versucht, sich über die Grenzen des Lebenden (Mensch und Natur) zu setzen und dieses auszubeuten.
Es ist allgemein anerkannt, dass schwindende Biodiversität, Entwaldung, kapitalistische Landnutzung, Massentierhaltung sowie industrielle Landwirtschaft das Überspringen von Krankheiten von Tier auf Mensch erleichtern. Die Ausbreitung von Krankheiten wird zudem durch ein global vernetztes Produktions- und Nahrungsmittelsystem befördert. «Je länger die Lieferketten sind und je grösser die damit verbundene Entwaldung ist, desto diverser (und exotischer) sind die zoonotischen Pathogene [von Tier auf Mensch übertragbare Krankheiten], die in die Nahrungsmittelketten eindringen».[1]
Der Virus verursacht nicht nur Krankheit, er trifft auf Gesellschaften, die in unterschiedlichem Masse seit längerem krank sind. Feministinnen wie Silvia Federici sprechen in diesem Zusammenhang von einer Krise der Produktion und Reproduktion des Lebens. Zerstörte Agrarflächen, giftiges Wasser, verdreckte Luft, ungesunde Nahrungsmittel, kaputt gesparte Gesundheitssysteme, inexistenter oder eingeschränkter Zugang zu Mitteln der Geburtenkontrolle, prekäre Arbeit, Arbeitslosigkeit, Kriege, Hungersnöte usw. — sie alle zeugen von der zunehmenden Schwierigkeit von Millionen von Menschen, sich und ihre Mitmenschen gesund am Leben zu halten. Selbstverständlich ist diese Krise sowohl geografisch sowie je nach Geschlecht, Klasse und Ethnie ungleich verteilt, auch dies zeigt die Corona-Pandemie noch einmal mit gnadenloser Deutlichkeit.
Seit Jahren warnt die Wissenschaft vor einer globalen Pandemie.[2] In seinem letztjährigen Bericht über den Zustand der globalen Biodiversität hat das IPBES (Weltbiodiversitätsrat, UN-Organisation) gewarnt, dass das Schwinden der Biodiversität das Aufkommen neuer Krankheiten befördert. Nach der Erfahrung mit Epidemien wie Ebola, Zika, H1N1 und andere warnte auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2018 vor einer möglichen Pandemie. Die Staaten haben solche Warnungen aber in den Wind geschlagen und sich nur ungenügend auf mögliche Pandemien vorbereitet. Der globale Mangel an Schutzmaterial zeigt dies besonders eklatant.
Wie auch beim Klimawandel haben die Staaten auf die Anpassungsfähigkeit und Resistenz des globalen Kapitalismus gewettet oder die Wissenschaft gänzlich ignoriert. Zwischen der angeblichen Rationalität der Märkte sowie der ihr ergebenen Regierungen und einer vorausschauenden und vernünftigen Politik im Dienst der Mehrheit der Bevölkerung klafft eine grösser werdende Kluft.
These 2: Auch nach der Corona-Krise ist von den Herrschenden keine Einsicht in Bezug auf die Bekämpfung des Klimawandels zu erwarten. Denn Klimakrise und Corona-Pandemie wirken sich unterschiedlich auf die Akkumulation des Kapitals aus. Während die unterschiedlichen Facetten der Umweltkrise für das Kapital abzuwälzen sind, hat sich die Corona-Pandemie zu einer Akkumulationskrise entwickelt.
Alle festen Gewissheiten scheinen im Strudel der Ereignisse zu vergehen. Auch die noch so neoliberalen Regierungen scheinen nun plötzlich staatliche Interventionen für sich zu entdecken. Einige Klimaaktivist*innen hegen nun die Hoffnung, dass die Herrschenden auch den Kampf gegen den Klimawandel als Notwendigkeit anerkennen. Dabei verkennen sie aber die Unterschiede zwischen beiden Krisen.
Laut Marx führt der Kapitalismus zu einer zunehmenden Vereinheitlichung und Zerstörung der Ökosysteme. In die Logik der Kapitalakkumulation ist somit von vornherein eine entwertende, zerstörerische und unterwerfende Haltung gegenüber der Natur vorhanden. Der Traum des Kapitals, sich von natürlichen Schranken zu befreien und grenzenlos zu akkumulieren, kann jedoch nie verwirklicht werden. Immer wieder wird der Kapitalismus auf die natürlichen Quellen allen Reichtums zurückgeworfen: die Arbeitskraft der Menschen – die als biologische Wesen auch Teil der Natur sind – und die nicht-menschliche Natur. Deshalb können ökologische und menschliche Krisen (Ernteausfälle, Krankheiten usw.) auch Wirtschaftskrisen auslösen.
Doch haben solche natürlichen Faktoren nicht alle dieselben Auswirkungen auf die Akkumulation des Kapitals. Viele «natürliche Krisen» lässt das Kapital kalt, wenn es sich daran nicht sogar noch weiter bereichert. Gerade durch seine Flexibilität und Dynamik ist es dem Kapitalismus immer wieder gelungen, Krisen der Produktion des Lebens zu umgehen und zu überwinden. Indem die Folgen von zerstörten Ökosystemen oder kranken Körpern auf gewisse Bevölkerungsgruppen bzw. räumlich oder zeitlich abgewälzt wurden, konnte der globale Kapitalismus trotz seiner zerstörerischen Wirkung fortbestehen. Dies zeigt die Klimakrise besonders deutlich. Obwohl Millionen Menschen ihre Lebensgrundlage verlieren, Millionen von Quadratkilometern Landfläche im Meer versinken und ganze Regionen aufgrund der Hitze nicht mehr bewohnbar werden, wetten Grossteile des globalen Kapitals immer noch darauf, dass sich ihr Geld irgendwann und irgendwo schon noch «vermehren» lässt.
Doch gibt es auch menschliche und natürliche Krisen, die die Akkumulation des Kapitals direkt beeinträchtigen. Die Covid-19-Pandemie ist eine davon. Aufgrund des Charakters dieser Pandemie und dank eines öffentlichen Drucks haben sich die Herrschenden nach und nach entschieden, die Produktion teilweise zurückzufahren und dadurch eine Wirtschaftskrise sondergleichen ausgelöst. Wenn auch für viele Menschen zu spät, hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass ein temporäres und für einige Länder sehr begrenztes Zurückfahren der Wirtschaft sowohl für die künftige Akkumulation des Kapitals als auch für die Regierbarkeit der Gesellschaften notwendig ist. (Damit ist nicht gemeint, dass die Regierungen alles im Griff hätten, ganz im Gegenteil).
Natürlich hat die sich anbahnende Wirtschaftskrise andere, tiefer liegende Ursachen. Doch die Unterscheidung zwischen einer Umweltkatastrophe, deren Folgen aus Sicht des Kapitals sozial, räumlich und zeitlich (noch) verschiebbar ist, und deshalb keine unmittelbare Krise des Kapitals auslöst, und einer globalen Pandemie, die die globale Akkumulation ganz unmittelbar aus den Angeln hebt, ist dennoch von Bedeutung. Denn nur so lässt sich erklären, weshalb die Herrschenden – wenn auch zögerlich – etwas unternommen haben, während weiterhin Millionen von Menschen an Luftverschmutzung, Unter- und Mangelernährung, stärker werdenden Unwettern und steigenden Meeresspiegeln sterben. Die Pandemie wird demnach auch kein Moment der Einsicht markieren und von nun an die Herrschenden davon überzeugen, wirklich etwas gegen versauernde Ozeane, schmelzende Polkappen, steigende Meeresspiegel und austrocknende Landstriche zu unternehmen ist. Wenn auch einige Kapitalist*innen vor dem Klimawandel zu erzittern beginnen, ist es für viele von uns schon zu spät.
These 3: Die Corona-Krise wird zu einem weiteren Testfeld für einen sich entwickelnden «Desaster-Kapitalismus», der in einer wärmer werdenden Welt sich auszubreiten droht.
In der aktuellen Krise greifen die Staaten zu autoritären Massnahmen. In Europa wird die arbeitsrechtlich erlaubte Arbeitszeit für Pflegende erhöht; Grenzen werden dicht gemacht, Soldaten auch an die europäischen Binnengrenzen geschickt; die Einhaltung der Ausgangssperre mit teils polizeilicher Gewalt durchgesetzt; die digitale Überwachung ausgebaut. Fluchtwege werden geschlossen und das Recht auf Asyl ausgesetzt. International wird mit harten Bandagen um Schutzmaterial gekämpft. Die Corona-Krise verschärft somit autoritäre, militaristische, nationalistische und imperialistische Tendenzen.
Die Corona-Krise heizt auch geopolitische Spannungen an und wird von imperialistischen Staaten ausgenutzt. So verschärften etwa die USA die Wirtschaftssanktionen gegen Iran und Venezuela und sind damit für die katastrophale Gesundheitslage in diesen Ländern mitverantwortlich. Weiter schickt das Pentagon, unterstützt von Frankreich und Grossbritannien, Kriegsschiffe in die Karibik, um Venezuela weiter zu destabilisieren.
So werden weitere Vorzeichen einer von Umweltkatastrophen heimgesuchten Welt ersichtlich, in der mächtige Staaten mit militärischen Mitteln ihre Vorherrschaft abzusichern versuchen. Ein globaler «Desaster-Kapitalismus» zeichnet sich ab, in dem demokratische und soziale Rechte zusehends verkümmern. Mehr denn je, muss der Kampf gegen die aktuelle Krise und für eine ökosozialistische Alternative entschieden internationalistisch und antimilitaristisch sein.
These 4: Die Aussage «Wir sitzen alle im selben Boot» wird sowohl in der aktuellen Krise als auch angesichts der Klimakatastrophe systematisch von systemerhaltenden politischen Kräften vorgebracht. Sie verschleiert, dass nicht alle gleichermassen von der Umwelt- und Gesundheitskrise betroffen sind. Mehr denn je braucht es deshalb eine intersektionale und internationalistische Klassenpolitik, welche die Ursachen für Klimawandel und Gesundheitskrise an ihren Wurzeln bekämpft.
People of Colour sowie Frauen und Lohnabhängige sind besonders, wenn auch unterschiedlich, von der Covid-Pandemie betroffen. Eine ungleiche Geografie wird ersichtlich, die nicht nur zwischen Staaten unterscheidet, sondern auch quer durch alle Gesellschaften geht. Eine sehr ähnliche Geografie offenbart sich bei der Umwelt- und Klimakatastrophe. Auch hier sind Lohnabhängige, Frauen, People of Colour und Menschen des globalen Südens besonders betroffen. Während einige Länder erst langsam die unmittelbaren Folgen des Klimawandels zu spüren bekommen, haben andere Weltregionen schon längst mit katastrophalen Folgen zu kämpfen.
Die von Staat und den Unternehmen stammenden Appelle an Solidarität verdecken genau diese Formen der Ungleichheit und Diskriminierung. Sie zeigen einmal mehr, dass ohne eine Politik «von unten», welche die Interessen der Unterdrückten, Ausgebeuteten und Diskriminierten vereint, weder die Gesundheitskrise noch die Klimakatastrophe zu bekämpfen sind.
Auch im 19. Jahrhundert musste die entstehende Arbeiter*innenbewegung ihren internationalistischen und klassenbasierten Solidaritätsbegriff gegenüber religiösen, nationalistischen und paternalistischen Auslegungen desselben Begriffs durchsetzen. Dieser Kampf muss fortgesetzt werden. Wir müssen für andere Formen der Solidarität kämpfen; eine Solidarität von unten, eine Solidarität mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten.
These 5: Menschliche Gesundheit – und damit auch Care-Arbeit – muss ins Zentrum des Kampfes gegen die Umweltkatastrophe gestellt werden.
Zahlreiche Menschen auf der ganzen Welt sind seit Ausbruch der Corona-Krise in Streik getreten. Mit ihrer Arbeitsniederlegung haben sie zum Teil erfolgreich die Schliessung ihrer Produktionsstätten gefordert. Es geht ihnen nicht um mehr Lohn, sondern um den Schutz ihres Lebens und jenes ihrer Mitmenschen. Sie kritisieren, dass für Wirtschaft und Politik Profite wichtiger sind als das Wohlergehen der Menschen.
Auch die Umwelt- und Klimakatastrophe muss als direkte Gefährdung des menschlichen Lebens gesehen werden. Umweltschutz bedeutet nicht (nur) Schutz von bedrohten Tierarten oder die Beibehaltung von Naturdenkmälern, die Tourist*innen anlocken sollen. Da die Menschen Teil der Natur sind und ohne die Diversität des Lebens nicht überleben können, ist die bevorstehende Umweltkatastrophe eine direkte Bedrohung für das menschliche Leben.
So wie der Kapitalismus die nicht-menschliche Natur zerstört und die Vielfalt des Lebens nicht anerkennt, so beutet er auch die menschlichen Körper aus, degradiert sie zu biologischen Maschinen zur Erwirtschaftung von Profit. Gesundheit muss deshalb eine zentrale Rolle beim Kampf für eine ökosozialistische Perspektive einnehmen. Damit kann auch – so die nächste These – die menschliche Arbeit, besonders die Sorgearbeit, ins Zentrum gestellt werden.
These 6: Arbeit steht nicht im Gegensatz zu Umwelt- und Klimaschutz. Arbeit produziert menschliches und nicht-menschliches Leben. Ohne eine Neudefinition dessen, was Arbeit ist, einer Umgestaltung der Art, wie wir arbeiten, sowie einer Demokratisierung unserer Arbeitsprozesse, ist sowohl der aktuellen Gesundheitskrise als auch der bevorstehenden Klimakatastrophe nicht beizukommen. Kein Klimaschutz ohne demokratische Planung der Wirtschaft.
Die Corona-Krise zeigt eindrücklich: Es sind Arbeitende, die an vorderster Front stehen, wenn es um den Gesundheitsschutz geht. Sie sind es, die Leben sichern und retten – und dabei nicht selten ihr eigenes Leben riskieren. Es sind die Arbeiter*innen, vor allem die Frauen, die Kinder grossziehen und erziehen, die pflegen, Nahrung produzieren und verteilen, reinigen, Böden bewirtschaften usw. Es wird deutlich, dass der Kapitalismus die Welt auf den Kopf stellt: Während die Produktion von materiellen Gütern zu Zwecken des Profits oberste Priorität hat, wird die Produktion des Lebens abgewertet und schlecht bezahlt. Es handelt sich dabei nicht nur um die Reproduktionsarbeiten, wie es häufig heisst. Wir müssen diese Tätigkeiten als das bezeichnen, was sie wirklich sind: Produktion des Lebens.
Diese Einsicht sollte auch auf den Kampf gegen die Klimakatastrophe übertragen werden. Anders als in vielen Umweltdiskursen des Mainstreams ist Arbeit nicht per se zerstörerisch. Arbeit zerstört nicht nur: Arbeit erhält, schützt, pflegt menschliches und nicht-menschliches Leben. Arbeit schafft soziale Beziehungen. Arbeit ist somit keine Last, die Umweltschützerinnen zu tragen haben.
Damit dieses lebenserhaltende und Leben produzierende Potential der Arbeit erfüllt werden kann, müssen wir Arbeit radikal neu definieren. Wir müssen Arbeit von der Herrschaft des Kapitals befreien und der «privaten» Sphäre des Haushalts sowie der ebenso «privaten» Sphäre des Arbeitsplatzes entreissen. Arbeit gehört in den Mittelpunkt der menschlichen Tätigkeiten, muss zu einem zentralen Bestandteil unseres gemeinschaftlichen Lebens werden. Kurz: Arbeit muss demokratisch organisiert werden.
These 7: Die Anarchie-Logik der Marktwirtschaft ist unfähig, allen ein lebenswertes Leben zu ermöglichen, weder in «normalen» Zeiten und schon gar nicht in Krisenzeiten. Es braucht eine basisdemokratische Planung unserer Produktion.
Der Mythos der unsichtbaren Hand entlarvt sich wieder einmal durch fehlende Masken und Beatmungsgeräte. In der Not des Augenblicks beginnen einige Industrien mit dem Umstieg ihrer Produktion auf lebensnotwendige Güter. Es zeigt sich, dass Automobilfabriken problemlos nützlichere Dinge herstellen könnten.
Der Markt ist anarchisch, weil sich erst nach der Produktion entscheidet, ob ein Produkt ein Bedürfnis zu erfüllen vermag. Gerade in Krisenzeiten finden so Tonnen an Gütern keine Abnehmer*innen. Während aktuell die globale Nachfrage nach Erdöl massiv einbricht, beuten die Erdölfirmen weiter ihre Ölfelder aus. Riesige Mengen an Erdöl finden so keine Abnehmer, Hochseetanker werden als Lagerstätten gebraucht und kreuzen planlos auf den Meeren, in der Hoffnung Käufer zu finden. Eine basisdemokratische Planung kehrt diese Logik um. In demokratischen Prozessen wird zuerst entschieden, was die Bedürfnisse der Menschen sind. Erst dann wird beschlossen, wie dieses Bedürfnis erfüllt wird – also mit welchen Produktionsmethoden, welchen Technologien, welchen Ressourcen usw.
These 8: Die Corona-Krise hat die in westlichen Ländern vorherrschenden Konsumformen weitgehend zum Stillstand gebracht. Die politischen und sozialen Auseinandersetzungen über die erneute Lancierung der Produktion werden die Zukunft des Planeten entscheidend beeinflussen. Klimaaktivist*innen müssen das Thema des nicht-nachhaltigen Konsums deshalb als kollektives und nicht als individuelles Problem behandeln. Wir müssen darüber nachdenken, wie unter Berücksichtigung der ökologischen Grenzen allen ein gutes Leben ermöglicht werden kann.
Die Corona-Krise hat einen Grossteil der Konsumgüter-, Unterhaltungs- und Tourismusindustrie zum Stillstand gebracht. Die damit verbundenen wirtschaftlichen Schäden sind enorm. Während aber viele dieser Aktivitäten ökologisch höchst schädlich sind, verfolgen die Regierungen das Ziel, alle diese Sektoren so schnell wie möglich wieder produktionstüchtig zu machen. Dem Ziel einer V-förmigen Erholung des BIP entspricht somit auch die Inkaufnahme einer V-förmigen Entwicklung der Treibhausgasemissionen.
Wollen wir unsere Zukunft nicht noch weiter aufs Spiel setzen, müssen wir diese Chance nutzen, um einen sozial- und umweltverträglichen Umbau der Wirtschaft zu erkämpfen. Dafür müssen wir auch umweltschädliche Konsumformen (Flugverkehr, Individualverkehr, Fleischverzehr usw.) radikal reduzieren oder gar abschaffen. Dies geht nur, wenn Klimaaktivist*innen sich an den sozialen Auseinandersetzungen darüber beteiligen, was ein gutes Leben ausmacht.
Viele antikapitalistische Linke klammern aber die Frage des Konsums aus, da eine Konsumkritik ihrer Ansicht nach zwangsläufig individualistisch und damit marktkonform sei. Auf einige klimabewegte Kreise trifft diese Kritik mit Sicherheit zu. Für sie ist nachhaltiger Konsum tatsächlich nur eine Frage der individuellen Lebenseinstellung. Allerdings geht sowohl bei der individualistischen Konsumkritik als auch bei der antikapitalistischen Kritik daran vergessen, dass es auch kollektive Formen der Politisierung des Konsums gibt. Antikapitalistische Klimaaktivist*innen müssen den Konsum deshalb als kollektives und gesellschaftliches Problem betrachten und sich entsprechend in die Diskussionen darüber einbringen, welche Bedürfnisse in einer nachhaltigen Gesellschaft im Mittelpunkt stehen sollen. Denn ohne eine Neuverhandlung darüber, was ein gutes Leben ausmacht, werden umweltschädliche Konsumpraktiken nicht einfach verschwinden. Statt um nicht nachhaltige Bedürfnisse nach materiellem Konsum (die über die Erfüllung materieller Grundbedürfnisse hinausgehen) geht es um die Entwicklung von «radikalen Bedürfnissen», wie die marxistische Philosophin Agnes Heller es nannte: Bedürfnisse nach Sorge, sozialen Beziehungen, Bildung, Gesundheit, einer intakten Natur, Sexualität etc. Dies ist nur durch eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit, eine Demokratisierung aller Lebensbereiche, einen Bruch mit Geschlechterstereotypen sowie einer Umverteilung des Reichtums zu erreichen.
These 9: Schon nur die Anpassung der Menschen an den Klimawandel und andere natürliche Krisen verlangt einen radikalen Bruch mit der kapitalistischen Logik, auch das verdeutlicht die Corona-Krise. Klimaaktivist*innen müssen nicht nur gegen die fossile Industrie kämpfen, sondern auch für eine Gesellschaft, die sich an die neuen klimatischen und ökologischen Bedingungen anpassen kann.
Internationale Organisationen sowie Staaten unterscheiden meist zwischen Massnahmen der Anpassung (adaptation) und Massnahmen zur Verringerung der Erderwärmung (mitigation). Klimaaktivistische Forderungen beziehen sich vor allem auf den Kampf gegen die Erderwärmung. Anpassungsbemühungen gelten teilweise zurecht als Mittel, um den Kampf gegen den Klimawandel hinauszuzögern. Klimaaktivistinnen machen überzeugend klar, dass ein Stopp der Klimaerwärmung einen Bruch mit der herrschenden Produktionsform bedeuten würde. Nur so kann die Herrschaft des fossilen Kapitals gebrochen werden.
Der Fokus auf die Bekämpfung des Klimawandels und vor allem ihrer Verursacher*innen ist zentral. Es braucht aber auch eine Alternative für die Anpassung unserer Gesellschaften an Umweltzerstörung und Klimawandel. Denn die Corona-Krise zeigt deutlich, dass der real existierende Kapitalismus nicht in der Lage ist, die Mehrheit der Bevölkerung vor gesundheitlichen und ökologischen Schocks zu schützen. Der neoliberale Kapitalismus und die damit einhergehende Krise der Produktion des Lebens schafft nicht nur Umweltzerstörung und Klimawandel. Ohne einen Bruch mit der Logik des Profits wird auch die allergrösste Mehrheit der Menschheit nicht mehr in der Lage sein, sich gegen nicht mehr abwendbare Folgen der Klimaerwärmung zu schützen.
These 10: Eine künftige ökologisch und sozial nachhaltige Gesellschaft würde einen zerstörten Planeten «erben». Dies stellt auch in Bezug auf die Organisation einer emanzipierten Gesellschaft schwierige Fragen.
Ökosozialist*innen müssen sich auch deshalb um die Anpassung menschlicher Gesellschaften an den Klimawandel kümmern, weil einige ökologische Schäden kurzfristig nicht mehr abwendbar sind. Dies bedeutet natürlich nicht, dass wir uns mit der schlimmsten aller möglichen Dystopien abfinden müssen und den Kampf gegen den Klimawandel aufgeben können.
Doch für ökosozialistische Strategien und Alternativen ist es zentral anzuerkennen, dass uns 500 Jahre Kapitalismus eine Welt hinterlassen, die mit jener der letzten 10’000 Jahren – die Zeit aller grossen menschlichen Zivilisationen – nicht vergleichbar ist. In einer nie dagewesenen Geschwindigkeit finden gerade Prozesse statt, die für Millionen von Jahren die Entwicklung des globalen Erdsystems beeinflussen werden. Das aktuelle Massenaussterben ist nur einer dieser Vorgänge.
Auch einer ökosozialistischen Gesellschaft würden sich Probleme wie rasant abnehmende Fischbestände, neue Pathogene und an Stärke zunehmende Unwetter stellen. Dies ist ein fundamentaler Unterschied zu den kommunistischen und anarchistischen Projekten der Vergangenheit. Marx, Engels und die meisten Anarchist*innen des 19. Jahrhunderts waren überzeugt, dass sie eine Welt des Überflusses und des baldigen Wohlstandes übernehmen können. Die universelle Erfüllung aller Bedürfnisse war für sie nicht nur ein hoffnungsvoller Gedanke, sondern auch eine politische Notwendigkeit, müsse doch ein Kommunismus des Mangels unweigerlich in eine Despotie zurückfallen.
Heute ist die Situation viel komplexer. Antikapitalistische Klimaaktivist*innen müssen sich mit der schwierigen Frage auseinandersetzen, wie mit ökologischen und gesundheitlichen Krisen (die unweigerlich kommen werden) umgegangen werden kann, ohne autoritäre und ausbeuterische Mechanismen und Tendenzen zu befördern.
[1] https://monthlyreview.org/2020/04/01/covid-19-and-circuits-of-capital/
[2] https://www.nzz.ch/international/expertengremium-die-welt-ist-unzureichend-auf-globale-epidemien-vorbereitet-ld.1509451