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Wenn sich Gesundheits- und Wirtschaftskrise überlagern

Die Pandemie hat die Weltwirtschaft gehörig durcheinander gebracht. Es ist unmöglich geworden, Vorhersagen zu treffen. Denn diese Krise gehorcht einer bisher nicht dagewesenen Logik, und wie wir da herauskommen, wird nicht nur von wirtschaftlichen, sondern auch von gesundheitlichen und gesellschaftspolitischen Faktoren abhängen. Und die Krise wird auch tiefgreifende Folgen für das Schuldenmanagement in Europa haben. Ein Blick ins schwarze Loch.

von Michel Husson; aus sozonline.de

Die Zerrüttung der Ökonomie

Die gegenwärtige Krise ist von unerhörter Brutalität, das zeigen u.a. Arbeitslosenzahlen in den USA. Das Corona-Virus greift keinen gesunden, sondern einen bereits an chronisch Krankheiten leidenden Organismus an. Dennoch lässt sich ihre Heftigkeit nicht allein aus den Schwächen erklären, die dem bestehenden System immanent sind. Es ist auch vorstellbar, dass die Pandemie in jedem Fall auch bei einer «gesunden» Ökonomie einschneidende Folgen hätte.

Diese Krise ist nicht in der Finanzsphäre entstanden, sondern direkt in dem, was als «Realökonomie» bezeichnet wird. Sie lässt sich daher auch nicht auf dieselbe Weise analysieren wie ihre Vorgängerin, die Krise von 2008. Die Produktionsbeziehungen wurden diesmal direkt unterbrochen, die Wege ihrer Ausbreitung sind deshalb komplett andere. Die gesamten Reproduktionsschemata, um einen marxistischen Begriff zu gebrauchen, sind durcheinandergebracht. Wichtig an der Marxschen Analyse ist, dass die Bedingungen der Reproduktion sowohl die Angebotsseite (die Herstellung von Waren und Mehrwert) als auch die Nachfrageseite (die Möglichkeit der Realisierung des Mehrwerts) umfassen. Diese Reproduktionsbedingungen sind nicht mehr gegeben.

Um das zu verstehen, reicht ein Blick auf die verschiedenen Bestandteile von Angebot und Nachfrage. Die Kontaktsperren bewirken unmittelbar einen jähen Rückgang des Konsums und der Produktion: Fabriken sind stillgelegt und produzieren nicht mehr, Geschäfte sind geschlossen, die Konsumenten bleiben zu Hause. Die Investitionen sind demzufolge an einem Tiefpunkt, da sich die Auftragsbücher leeren und die weiteren Perspektiven unsicher sind. Der Welthandel schrumpft. Der unauflösliche Zusammenhang zwischen Angebot und Nachfrage zeigt sich hier ganz deutlich, die derzeitigen offiziellen Konjunkturprognosen berücksichtigen ihn aber gar nicht.

Kein V-Aufschwung

Die Prognosen der Europäischen Kommission (die des IWF unterscheiden sich nicht sehr) sieht für alle Länder einen «V-Aufschwung» vor: dem Niedergang im Jahr 2020 soll demnach im Jahr 2021 ein steiler Aufschwung folgen. Für die Eurozone insgesamt prognostizieren sie -7,7 Prozent 2020, gefolgt von +6,3 Prozent 2021.

Die Daten für 2020 sind provisorisch und zeigen das Ausmaß des Schocks. Da die Zahlen aber einen Jahresdurchschnitt angeben, setzen sie implizit einen enormen Aufschwung in der zweiten Jahreshälfte 2020 voraus. In Frankreich baut die Regierung ihren Haushalt auf der Hypothese auf, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr um 8 Prozent fallen wird; angesichts des bereits eingetretenen Rückgangs ist dieser Durchschnitt aber nur zu erreichen, wenn das BIP im 3.Quartal wieder (was sehr unwahrscheinlich ist) um 35 Prozent wächst, und im 4.Quartal um 16 Prozent.

Ökonom*innen sind in ihrem Innersten von diesem «schwarzen Loch» zutiefst erschüttert (oder sollten es sein). In jedem Fall sind ihre Vorhersagen für 2021 absolut lächerlich. Denn sie setzen voraus, dass es ab dem 2. Halbjahr 2020 keine Kontaktsperren mehr geben wird. Damit ignorieren sie aber ein Hauptmerkmal dieser Krise, die nämlich zwei Mechanismen miteinander kombiniert: den Stopp der Wirtschaftstätigkeit – also eine Rezession, die man fast normal nennen könnte, wäre sie nicht so gewaltig – und eine Gesundheitskrise, die ihren eigenen Zyklus hat.

Der Aufschwung wird mit anderen Worten gebremst durch außerökonomische Faktoren, die zu wellenförmigen Bewegungen führen könnten. «Wir haben all unsere V-förmigen Szenarien ad acta gelegt», bekennt ein Unternehmensberater. Ein solcher Verlauf erscheint unwahrscheinlich, weil das Wirtschaftswachstum abrupt zum Halten gekommen ist, während die Lockerung der Kontaktsperren nur allmählich fortschreitet.

Es gibt aber zusätzlich rein wirtschaftliche Faktoren, die einem raschen Aufschwung entgegenstehen. Die Störung der weltweiten Wertschöpfungsketten wird den Warenaustausch dauerhaft blockieren. Die vorhergehende Krise hatte ihren Fortschritt bereits dauerhaft gebremst: Von 2011 an verläuft die Kurve im Vergleich zur Periode 1990–2008 bereits deutlich flacher. Die aktuelle Krise wird kurzfristig denselben Effekt haben, das pessimistische Szenario der Welthandelsorganisation (WTO) ist das wahrscheinlichste: eine Rückkehr zu früheren Verläufen wird es nicht geben.

Hinzu kommen die Auswirkungen der Krise auf die Länder des Südens. Im Gegensatz zu Befürchtungen, die man hegen konnte, hat sich die Pandemie in Afrika bislang relativ wenig ausgebreitet – zum Glück. Doch in vielen Ländern des Südens fürchtet man mehr den Hunger als das Virus, weil die Krise die Wirtschaftstätigkeit beeinträchtigt und die verfügbaren Ressourcen mindert. Im Übrigen wurden auch die Ketten der Nahrungsmittelversorgung, wie alle anderen, unterbrochen.

«Der COVID-19-Schock wirft ein zusätzliches Licht auf die bereits bestehende und rasch fortschreitende Staatsschuldenkrise in den sich entwickelnden Ländern», mahnt die UN-Handelsorganisation UNCTAD. Diese Länder stöhnten bereits unter der Last der Schulden, die afrikanischen Länder z.B. gaben mehr Geld für den Schuldendienst aus als für ihr Gesundheitswesen. Die Krise beschert ihnen einen weiteren Rückgang ihres Außenhandels, einen Preisverfall (siehe Erdöl) und die Abwanderung internationalen Kapitals.

Sicher, der IWF hat beschlossen, in diesem und im kommenden Jahr Zins und Tilgung der Schulden auszusetzen, der Pariser Club (ein informelles Gremium der wichtigsten Gläubigerländer, in dem staatliche Gläubiger mit einem in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Schuldnerland zwecks Umschuldungsverhandlungen oder Schuldenerlass zusammentreffen) hat für dieses Jahr dasselbe hinsichtlich der Länder Afrikas beschlossen.

Aber die UNCTAD betont zurecht, dass diese Aussetzung «auf der heroischen Hypothese beruht, dass der Schock von COVID-19 von kurzer Dauer sein wird und ab 2021 wieder Business as usual herrscht. Sie hat einen feierlichen Aufruf für eine Streichung der Schulden herausgebracht, denn «die Verheerungen, die die Krise anzurichten droht, wenn nicht entschlossene Maßnahmen ergriffen werden, sollten ein mehr als ausreichendes Motiv dafür sein, dass die internationale Gemeinschaft endlich ein kohärentes und erschöpfendes Rahmenwerk für die Behandlung der untragbaren Staatsschulden ansteuert».

Die Wiederherstellung der globalen Wertschöpfungsketten wird gleichermaßen durch den Willen zahlreicher Regierungen ausgebremst, vor allem ihren Unternehmen unter die Arme zu greifen und eine Heimholung der Produktion zu unterstützen. Selbst wenn solche Versuche zu nichts führen werden, wie es wahrscheinlich ist, zeigen sie dennoch, wie eng die gesundheitliche und die ökonomische Dimension der Krise miteinander verwoben sind.

Die Schulden der Unternehmen

Die Verschuldung der Unternehmen hatte in der Eurozone schon vor der Krise ein hohes Niveau von fast 110 Prozent des BIP erreicht, höher als die Staatsschulden. Und die Unternehmensschulden klettern stufenweise weiter: Auf jede Zunahme der Verschuldung (etwa in der Krise 2008) folgt eine Periode der Entschuldung. Dann geht die Kurve wieder nach oben usw. Die Tendenz lässt sich leicht verlängern: Die Corona-Krise wird zu einem neuen Anstieg der Schulden führen, und die Unternehmen werden versuchen, sich dieser Schulden zu entledigen, indem sie Löhne und Investitionen senken (aber sicher nicht die Dividenden, die Aktionär*innen müssen ja beruhigt werden).

Hindernisse für einen «normalen» Aufschwung

Zu den Hindernissen für einen raschen Aufschwung zählen auch die Verzerrung der Nachfragestruktur in den verschiedenen Branchen, zum Nachteil der Industriegüter; die Lagerbestände, die es aufzulösen gilt; der Rückgang der Arbeitsproduktivität und, nicht zuletzt, die Gefahr eines Wiederaufflammens der Sparpolitik. Hier seien nur einige Momente davon genannt:

1. Die Unternehmen, verschuldet und mit unsicherer Perspektive, werden zögern zu investieren und versuchen, Arbeitsplätze abzubauen und Löhne zu senken.
2. Die Haushalte, verarmt und verunsichert, werden ihren Konsum drosseln, ihr Geld zusammenhalten und den Kauf dauerhafter Konsumgüter hinauszögern.
3. Die Staaten werden versuchen, die öffentlichen Haushalte zu «sanieren».
4. Die Wertschöpfungsketten sind durcheinandergeraten, der Welthandel wird zurückgehen.
5. In den aufstrebenden Ländern wird die Kapitalflucht und der Rückgang der Rohstoffpreise zum Rückgang der Weltwirtschaft beitragen.

Fortsetzung zu Staatsschulden folgt.

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1 Kommentar

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