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Die Untätigkeit des Bundesrates und das Dilemma der Linken

Was der Schweizer Bundesrat an seiner Pressekonferenz vom Montag, dem 16. März 2020 zum Besten gab, ist an Verantwortungslosigkeit nicht zu überbieten. Die Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, dass zur Eindämmung des Virus ein totaler Shutdown aller nicht lebenswichtigen wirtschaftlichen und der meisten gesellschaftlichen Tätigkeiten nötig wäre. Der Bundesrat weigert sich diesen Schritt zu tun, um die Wettbewerbsfähigkeit und die Profite des Kapitals nicht zu gefährden. Dass dabei unsere Gesundheit aufs Spiel gesetzt wird, ist unfassbar verantwortungslos. Gleichzeitig stellt die Diskussion um einen Shutdown die Linke vor ein Dilemma: Denn unter einem bürgerlichen Regime bedeutet ein Shutdown eine massive Zunahme der Repression, Polizeikontrollen, Ausgangssperren und die Mobilisierung der Armee. Es ist eine grosse Herausforderung einen Weg aufzuzeigen, der sowohl unsere Gesundheit, als auch unsere demokratischen und sozialen Rechte schützt.

von BFS Zürich

Die Situation ist ernst

Der Kanton Tessin ist die meistinfizierte Region der Welt gemessen an der Bevölkerungszahl. Die Schweiz insgesamt ist nach Italien das Land mit den zweitmeisten Fällen pro 100’000 Einwohner*innen. Hierzulande kommen auf 100’000 Einwohner*innen 25,83 Coronafälle, in Italien 40,95 [Stand 16.3.2020]. Da Tests gar nicht mehr flächendeckend durchgeführt werden, muss angenommen werden, dass das Ausmass der Krise viel grösser ist, als von den Behörden nachgewiesen wird. Bereits am 24. Februar 2020 titelte der Blick: «Coronavirus kommt dem Tessin bedrohlich nah. Behörden reagieren nicht, Angst und Wut wächst. Die Tatenlosigkeit ist unglaublich.» Diese Untätigkeit zog sich auf Bundesebene noch weiter hin. Der Bundesrat liess drei extrem wichtige Wochen verstreichen ohne Entscheide zu fällen. Die Massnahmen, die nun am 13. und 16. März 2020 erlassen wurden, kommen aber nicht nur viel zu spät, sie sind vor allem auch absolut ungenügend.

Massnahmen des Bundesrates

Anlässlich seiner Pressekonferenz am Montag, 16. März 2020 um 17 Uhr hat der Bundesrat offenbart, dass er die Verantwortung zur Abwehr der Krise fast vollständig auf die Bevölkerung abschiebt, indem er verlauten liess, dass die Menschen doch auf die Hygniene achten und den Kontakt vermeiden sollen. Die SP-Bundesrätin Simonetta Sommargua behauptete, dass ein «totaler Shutdown nicht nötig ist, sofern sich die Bevölkerung an die Massnahmen hält». Wir werden sie an dieses Zitat erinnern. Denn diese Haltung entspricht der vollständigen Individualisierung der Verantwortung für die Krise, wie wir sie von allen neoliberalen Krisenlösungen kennen (z.B. in Bezug auf die Klimakrise).

Zwar werden endlich Läden, Restaurants, Bars sowie Unterhaltungs- und Freizeitbetriebe ab dem 17. März bis zum 19. April 2020 geschlossen. Die Schulen bleiben neu auch bis dann geschlossen. Die medizinischen und zur Versorge der Bevölkerung wichtigen Einrichtungen und Unternehmen bleiben logischerweise offen.

Der Bundesrat weigert sich aber weiterhin alle nicht lebensnotwendigen wirtschaftlichen Tätigkeiten einzustellen. Er stellt sich damit ganz in den Dienst des Kapitals sowie der Profitlogik und setzt zehntausende Lohnabhängige erheblichen gesundheitlichen Gefahren aus. Die Unternehmen sollen einzig dafür sorgen, dass die Beschäftigten Heimarbeit verrichten können. Tatsache ist aber, dass zahlreiche Unternehmen ihre Angestellten dazu zwingen, die Produktivität auf gleich hohem Niveau zu halten. Dies haben wir bereits aus mehreren Betrieben und Institutionen vernommen. Die zahnlosen Appelle des Bundesrates an die Unternehmen verfehlen ihre Wirkung komplett.

Der Gipfel der Verantwortungslosigkeit war der Aufruf der Regierung an die privaten Gesundheitskliniken, sie sollen bei der Bewältigung der Krise doch bitte mithelfen. Diese privaten Institutionen, die einen nicht geringen Teil aller auf den Intensivstationen behandelten Menschen pflegen, sollen also noch schön Kasse mit der Krise machen dürfen. Die einzig verantwortungsvolle Vorgehensweise wäre, diese privaten Kapazitäten unmittelbar unter öffentliche Kontrolle und in den kostenlosen Dienst der Bevölkerung und der Bedürftigen zu stellen. Das Privateigentum der Gesundheitsindustrie anzutasten wagt sich der Bundesrat aber nicht.

In Bezug auf die Kindertagesstätten zieht sich der Bundesrat ganz aus der Verantwortung und schiebt sie auf die Kantone ab. Diese müssen «Notlösungen» vornehmen, um die Kinderbetreuung für Personen zu gewährleisten, die arbeiten müssen. Der Zeitpunkt ist definitiv gekommen, die Integrierung der Kinderbetreuung in den öffentlichen Dienst zu fordern. Nie zuvor war es so offensichtlich, dass nur ein öffentlich organisiertes und durch die Kinderbetreuer*innen selber kontrolliertes Kita- und Hortsystem den gesellschaftlichen Bedürfnissen gerecht wird.

Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Analyse des Bundesrates als katastrophal: Alles in allem soll sich die Schweizer Bevölkerung einfach nicht mehr zum Jassen treffen (O-Ton von Simonetta Sommaruga), dann wird das schon wieder.[1]

Wir sitzen nicht alle im gleichen Boot

Doch nicht nur der Bundesrat, sondern alle etablierten politischen Kräfte legen dieselbe Verantwortungslosigkeit an den Tag. Trotz den ungenügenden Massnahmen des Bundesrates stehen alle institutionellen Parteien geeint und vorbehaltlos hinter der Regierung. Die Herrschenden werden versuchen dank dieser Burgfriedenspolitik ihr politisches Versagen und ihre Krise – die sich global noch verschärfen wird – zu kaschieren.

Dass die Coronakrise verheerende soziale Auswirkungen nach sich ziehen wird, ist aber nicht die Schuld von uns allen. Es ist die Folge eines kriminellen Systems, des Kapitalismus, dass seit Jahrzehnten mit einer «Politik der leeren Kassen» unseren Service Public aushölt. Das Gesundheitswesen wurden in den letzten Jahren von den prokapitalistischen Kräften systematisch abgebaut und privatisiert. Heute offenbart sich die menschenverachtende Konsequenz dieser Politik.

Die Antworten auf die kommenden sozialen Verwerfungen werden wir sicher nicht zusammen mit ihren Verursacher*innen finden. Die Schweizer Gewerkschaften stehen diesbezüglich in der Pflicht, sich konsequent auf die Seiten der Lohnabhängigen zu stellen und die Rückgängigmachung der Sparmassnahmen zu fordern. Zurzeit verlangen sie aber einzig Konjunkturprogramme und Unterstützungsmassnahmen für die Lohnabhängigen. Sie sitzen weiterhin fest im sozialpartnerschaftlichen Schoss der Unternehmen. Immerhin fordern einzelne Sektionen des VPOD die Einstellung aller nicht notwendigen wirtschaftlichen Tätigkeiten. Wir müssen aber weit darüber hinausgehen und die öffentliche Kontrolle von Spitälern und Betreuungsstellen, Einstellung aller nicht lebenswichtigen wirtschaftlichen Tätigkeiten, Lohnfortzahlungen und Zugang zu Hygiene sowie Gesundheitsversorgung für alle fordern. Bezahlen sollen jene, die mit jahrzehntelanger neoliberaler Politik, Spekulationen mit leerstehenden Wohnungen, klimaschädlichen Produktionsstätten, Massentierhaltungen sowie Patenten in der Medikamentenforschung und im Agrarbusiness Milliarden angehäuft haben. Und es ist klar, dass sich diese dagegen wehren werden. Wir sitzen also nicht alle im gleichen Boot, sondern wir müssen dafür kämpfen, dass nicht wenige auf dem Buckel von vielen in dieser Krisensituation Gewinne machen.

Die Gefahr des Autoritarismus

Die eben aufgezeigte Dringlichkeit eines totalen Shutdows stellt die Linke aber vor ein Dilemma. Aus China oder mittlerweile auch aus Italien und Spanien wissen wir, wie die Durchsetzung eines gesellschaftlichen Shutdowns unter einer bürgerlichen Herrschaft aussehen wird: massive Zunahme der repressiven Befugnisse der Polizeikräfte, Ausweitung der Überwachungsmöglichkeiten, Ausgangssperren und weitgehende Einschränkung demokratischer Rechte sowie die Mobilisierung des Militärs (vordergründig für gesundheitliche Zwecke).

Die grösste Gefahr diesbezüglich besteht darin, dass die Ausweitung der autoritären Massnahmen und Sonderrechten nach dem Ende der Gefahr nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Coronakrise würde demnach als neoliberale «Schocktherapie» (Naomi Klein) den bürgerlich-konservativen und rechtsextremen Kräften dazu dienen unsere sozialen und demokratischen Rechte längerfristig zu beschneiden.[2] Gerade angesichts der kommenden wirtschaftlichen Rezession und der damit verbundenen Zunahme von Arbeits- und Klassenkämpfen, ist dieses Szenario nicht unwahrscheinlich.

Selbstorganisierte Solidarität statt autoritärer Kapitalismus

Trotz den aktuell eingeschränkten politischen Handlungsmöglichkeiten gibt es Ansätze, die dem Autoritarismus und dem neoliberalen Krisenmanagement die Stirn bieten. Schon letzte Woche sind in allen Regionen der Schweiz spontane Aufrufe zur Solidarität aus dem Boden geschossen. Die verschiedenen Formen von selbstorganisierter Nachbarschaftshilfe sind die Widerlegung der neoliberalen «Weisheit», dass die Menschen von Natur aus zu egoistisch für eine solidarische, sozialistische Gesellschaft seien. Die Erfahrungen aus solchen Solidaritätsnetzwerken können bei der Abwehr von Angriffen auf unsere Arbeits- und Lebensbedingungen eine wichtige Rolle spielen und in Zukunft die Keime von gesellschaftlicher und politischer Gegenmacht darstellen.

Wir erleben zurzeit den politischen und moralischen Bankrott des Neoliberalismus. Die dramatischen Berichte aus den Krankenhäusern Europas machen uns unendlich traurig. Und wir möchten uns gar nicht vorstellen, wie sich die Situation in Ländern des globalen Südens entwickeln kann, in denen die Infrastruktur noch viel maroder ist. In Anlehnung an ein Zitat von Leo Trotzki über den Nationalsozialismus kann man heute sagen: «All das, was bei ungehinderter Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus als Kulturexkrement ausgeschieden werden mußte, kommt jetzt durch den Schlund hoch; die kapitalistische Zivilisation erbricht die unverdaute Barbarei. Das ist die Physiologie des […]»[3] Neoliberalismus in Zeiten von Corona.

Es ist eine dringende Herausforderungen für die antikapitalistische Linke weltweit, sofort mit der Ausarbeitung von Gegenvorschlägen, Massnahmen und Programmen zu beginnen, um zu verhindern, dass die Krise auf die Schultern der Lohnabhängigen abgewälzt wird.


[1] «Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert», hat Genosse Albert Einstein mal verlauten lassen.

[2] Dies ist unter anderem in Frankreich der Fall, wo die Notstandsgesetze, die nach den Terroranschlägen in Paris am 13. November 2015 implementiert wurden, bis heute in Kraft sind. Diese erlauben es der Regierung nicht nur  ihre Repressionsmöglichkeiten gegen soziale Bewegungen massiv auszuweiten, sondern vor allem das Parlament bei der Einführung neuer Gesetze zu umgehen.

[3] Leo Trotzki: Portrait des Nationalsozialismus, 10. Juni 1933.

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