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Schweiz: Wie das Bürgertum Dividenden trotz Kurzarbeit rechtfertigt

Das Bürgertum versucht uns seit Beginn der Corona-Pandemie weiszumachen, dass wir alle gleich von der Krise und den einschränkenden Massnahmen betroffen seien. Diese Erzählung dient in erster Linie dazu zu verschleiern, dass die aufziehende Krise des Kapitalismus wie gewohnt auf die Lohnabhängigen abgewälzt wird. An den millionenschweren Dividendenzahlungen der Schweizer Konzerne an ihre Aktionär*innen zeigt sich dies exemplarisch.

von Philipp Gebhardt (BFS Zürich)

Mittlerweile haben sich die düsteren Prognosen bestätigt und zwei Millionen Lohnabhängige in der Schweiz sind von Kurzarbeit betroffen, was knapp 40% der Erwerbstätigen entspricht. Die offizielle Arbeitslosigkeit stieg laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) anfangs Mai 2020 auf 3,4%[1] und wird in den kommenden Monaten laut den aktuellen Prognosen mindestens auf 5 bis 7% ansteigen. Zurzeit verlieren in der Schweiz jeden Tag 1’000 Personen ihre Arbeit. Besonders betroffen sind Frauen, Jugendliche und Migrant*innen, weil diese überproportional im Gastgewerbe, im Detailhandel und generell in krisenanfälligen Niedriglohnbereichen arbeiten. Je nachdem, wie tief die Weltwirtschaft in die Krise gerät und wie lange diese andauern wird, wird die Kurzarbeit nicht mehr helfen, um Massenentlassungen hinauszuzögern. Dann werden auch die pessimistischsten Prognosen der Konjunkturforschungsstellen zu Altpapier.

Dividenden trotz Kurzarbeit

Während die Krise die soziale und wirtschaftliche Lage der Lohnabhängigen massiv verschlechtert, treiben die Kapitaleigentümer*innen die Umverteilung des Reichtums munter voran. Nahezu alle grösseren Schweizer Konzerne schütteten an ihren Generalversammlungen, die traditionell im Frühling stattfinden, Millionen Franken an Dividenden an die Aktienbesitzer*innen aus, obwohl sie Kurzarbeitsgelder beziehen und somit die Lohnkosten sozialisieren, sprich: auf die Lohnabhängigen selbst abwälzen. Einige Beispiele: Der Medizinalproduktehersteller Straumann zahlte 91 Millionen, der Industriekonzern Georg Fischer 102 Millionen, die St. Galler Industriegruppe SFS 67 Millionen, Lindt & Sprüngli 345 Millionen usw.

Die Auszahlung der Dividenden trotz Kurzarbeit führte zu einer (kurzen) Welle der Empörung, ähnlich derjenigen über die Managerboni im Nachgang der Krise 2007/08, die schliesslich 2013 in der Annahme der völlig zahnlosen «Abzocker-Initiative» gipfelte. Eine parlamentarische Motion von Mattea Meyer (SP) und der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit zum Verbot von Dividendenzahlungen bei gleichzeitigem Bezug von Kurzarbeitsentschädigungen wurde am 5. Mai 2020 vom Nationalrat überraschend gutgeheissen. Im Ständerat hatte die Motion aber keine Chance und wurde deutlich abgelehnt. Für den Grossteil der Politiker*innen und Journalist*innen war die Kontroverse beendet und seither verschwanden die Diskussionen wieder aus der Öffentlichkeit. Das Thema ist damit aber nicht vom Tisch und wird spätestens rund um die Generalversammlungen in einem Jahr wieder aufs gesellschaftliche Tapet kommen. Es lohnt sich deshalb, die bürgerlichen Rechtfertigungen für diese Umverteilungsmassnahmen genauer anzuschauen.

Vier bürgerliche Ausreden

Rund um die parlamentarische Debatte leisteten die Bürgerlichen und die NZZ, die ihren Aktionär*innen trotz Kurzarbeit acht Millionen Franken an Dividenden auszahlt, heftige Gegenwehr. Entlang von vier Argumentationslinien versuchen sie der Öffentlichkeit zu verkaufen, warum es trotz Krise und Kurzarbeit gerechtfertigt sein sollte, wenn sich die Aktionär*innen an dem von den Lohnabhängigen geschaffenen Mehrwert bereichern.

Erstens führen sie das Scheinargument auf, dass Dividenden und Kurzarbeit zwei verschiedene Paar Schuhe seien. Das erste sei eine «Risikoprämie» für das Investment von Aktionär*innen, das zweite eine Sozialversicherung. Weil in eine Sozialversicherung sowohl die Arbeiter*innen als auch die Unternehmen einzahlen, würden die Unternehmen zudem einen Teil der Krisenkosten übernehmen. Das stimmt nicht. Es sind die Lohnabhängigen, welche durch ihre Arbeitskraft den gesamten gesellschaftlichen Reichtum produzieren. Die kapitalistischen Unternehmen eignen sich diesen Reichtum an. Auch wenn sie via Löhne und indirekte Löhne (Sozialversicherungen) einen Teil des Geraubten wieder an die Lohnabhängigen zurückgeben müssen, bleibt die Tatsache unberührt, dass sie den zurückgegebenen Anteil ursprünglich ausgebeutet haben und sich einen weiteren Teil als Dividende auszahlen lassen.

Zweitens meinen sie, dass sich die Dividenden auf das Geschäftsjahr 2019 beziehen würden. Das stimmt zwar halbwegs, spielt aber überhaupt keine Rolle. Es bleibt dabei, dass diese Unternehmen keine Rücklagen für Krisenzeiten gemacht haben und stattdessen ihre Profite als Dividenden oder zum Rückkauf von Aktien ausgegeben haben und somit die anfallenden Kosten auf die Allgemeinheit abwälzen. Sie hatten ausserdem die Wahl, entweder ihren Lohnabhängigen weiterhin den vollen Lohn zu zahlen oder ihren Aktionär*innen Dividenden auszuschütten. Sie haben sich entschieden. Und wir werden an den Generalversammlungen 2021 ja sehen, ob sich die Unternehmen bezüglich Dividenden und Geschäftsjahr dann an dieselbe Logik halten werden. Wir haben da unsere Zweifel.

Drittens müssen in der Argumentation der Grosskonzerne wieder einmal die KMU als Feigenblätter herhalten. So wird behauptet, dass die Dividenden für den und die KMU-Besitzer*in einen zentralen Teil des Einkommens darstellen würden. Damit wird schlichtweg vom eigentlichen Thema und dessen schieren Grösse abgelenkt, zum Beispiel von den 1,323 Milliarden, die der Industriekonzern ABB an seine Aktionär*innen umverteilt.

Schliesslich nehmen sie viertens die Gesellschaft mit den folgenden zwei perfiden Argumenten in Geiselhaft. Einerseits würden wir alle von Dividendenbezahlungen profitieren, da diese ja besteuert werden. Richtig ist, dass die Unternehmenssteuerreform II von 2008 die Dividendenbesteuerung im Schnitt halbierte. Andererseits behaupten sie, die Pensionskassen seien auf Dividendenausschüttungen angewiesen, damit diese weiterhin die Renten bezahlen können. Verdankenswerterweise hat die Zürcher Online-Zeitung tsri.ch bei den Pensionskassen nachgefragt, ob das denn auch stimme. Und siehe da: es stimmt nicht.

Kapitalismus as usual

Es bleibt dabei, dass sich die Kapitaleigentümer*innen ungeachtet der gesellschaftlichen Krise bereichern und anfallende Kosten auf die Lohnabhängigen abschieben. Die Unternehmer*innen, die ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Privilegien jeweils damit rechtfertigen, dass sie grosse Risiken [sic!] auf sich nähmen, wälzen diese Risiken also just in dem Moment auf die Allgemeinheit ab, wenn sie tatsächlich zum Tragen kommen. Wie vielfach behauptet, ist das aber nicht «moralisch verwerflich», sondern Kapitalismus as usual. Denn Klasseninteressen hören in Krisensituationen nicht einfach zu existieren auf, im Gegenteil.


[1] Diese Zahl ist nur schon deswegen weit untertrieben, weil die Berechnungsmethoden des Seco im Vergleich zu denjenigen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) die hiesige Arbeitslosigkeit 30 bis 50% tiefer darstellt.

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