In der Wochenzeitung (WOZ) veröffentlichte der linke deutsche Journalist und Aktivist Raul Zelik eine Lobeshymne auf das neue gewählte SP-Führungsduo bestehend aus den ex-Jusos Mattea Meyer und Cédric Wehrmut. Sein Artikel offenbart viel über die Idealisierung der schweizerischen Sozialdemokratie durch einen Grossteil der europäischen Linken – und tut damit den linken Aktivist*innen in der Schweiz keinen Gefallen. Christian Zeller, ökosozialistischer Aktivist aus der Schweiz, der seit einigen Jahren in Österreich lebt, gibt Zelik eine Antwort. (Red.)
Lieber Raul Zelik, ich bin erstaunt über Deine Einschätzung der SP und ihrer neuen Führungspersonen. Ich bitte Dich genauer und differenzierter hinzuschauen. Die SP ist spätestens seit 1959 [2. Bundesratssitz und neues Parteiprogramm] komplett in das Herrschaftssystem der Schweiz eingewoben und zwar auf allen administrativen Ebenen von den Gemeinden bis zur nationalen Regierung, dem Bundesrat sowie über das ausgeklügelte föderalistische System und das System der Vernehmlassungen mit Verbänden und Gewerkschaften. Die SP trägt alle strategischen Orientierungen des Kapitals zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Konzerne und des Finanzplatzes mit (u.a. Pensionsfonds, Steuerwettbewerb, hoch flexibler Arbeitsmarkt, bilaterale Verhandlungen mit der EU). Kein einziges Mal hat die SP eine fortschrittliche oder gar kapitalismuskritische Bewegung ermuntert oder gar initiiert. Ihre Einbindung in das Herrschaftssystem ist genauso tief wie jene ihrer Schwesterparteien in Deutschland und Österreich. Diese Einbindung artikuliert sich aber anders und ist vor allem dezentraler und föderalistischer strukturiert.
Die SP fällt regelmäßig und zwar bis zum heutigen Tag fortschrittlichen Bewegungen in den Rücken. Zwei aktuelle Beispiele:
Die SP hat 2017 die geplante Rentenrevision, die auf eine Erhöhung des Frauenrentenalters hinauslief, als „Kompromiss“ unterstützt. Linke Organisationen, Frauenorganisationen (sogar innerhalb der SP) organisierten den Widerstand. Wermuth und Meyer haben die offizielle Linie vertreten.
Ende September 2020 beschloss das Parlament ein CO2-Gesetz. Die SP (einschließlich ihrer neuen Führung) und die Grüne Partei unterstützen dieses Gesetz. Dieses Gesetz ist weit davon entfernt, einen angemessenen Beitrag der Schweiz zur Erreichung des 1,5°C Ziels einzufordern. Im Gegenteil, das Gesetz sieht vor, dass sich die Schweiz teilweise von ihrer Verpflichtung zur Emissionsreduktion mit Kompensationszahlungen freikaufen solle. Das Gesetz sieht noch geringere Reduktionen vor als die kürzliche Entscheidung des EU-Parlaments. Die Klimastreik Bewegung, vor allem in der Suisse Romande, organisiert nun den Widerstand gegen dieses Gesetz und sammelt Unterschriften für eine Referendumsvolksabstimmung. SP-Führungspersonen fallen der Bewegung offen in den Rücken und rufen die Menschen dazu auf, das Referendum nicht zu unterschreiben. Auch dieses jüngste Beispiel zeigt, wie die SP durch-und-durch in das Herrschaftssystem eingewoben ist.
Die von Dir lobend hervorgehobenen beiden Führungspersonen reihen sich naht- und bruchlos in diese Politik ein und tragen diese auch ganz persönlich mit. Ich wundere mich auch deshalb über Deine Stellungnahme, weil Du mit Deiner Positionierung den kritischen sozialen Bewegungen der Schweiz keinen Gefallen tust. Auch für linke Organisationen und Bewegungen in Deutschland und Österreich ist es nicht ratsam, sich an unvollständigen und illusionären Erzählungen festzuklammern. Du wirst zweifellos rasch Genoss*innen in allen Sprachregionen in der Schweiz finden, die Dir ein komplizierteres, widersprüchlicheres und viel vorsichtigeres Bild der Linken vermitteln können.
von Christian Zeller
Diese Analyse ignoriert zu viele Dinge um sie stehen zu lassen. Beispiel CO2-Gesetz: Sollten wir nichts tun oder den Klimawandel auf Kosten der Arbeitenden bezahlen? Die Klimakrise wird am Ende so oder so von uns bezahlt, aber je früher man reagiert, desto besser. Die Entscheidung sollte klar sein: Kurzfristiger Schaden am Portemonnaie der Arbeiterklasse (die natürlich knapp bei Kasse sind) ist nichts im Vergleich zur Klimakatastrophe. Denn was ist die Alternative? Nichts tun? Täubele und hoffen? Selbst Massenaktionen haben keinen Erfolg wenn nicht linke wie die SP oder auch Reform-SP gewählt und gewillt sind unter Druck das richtige zu tun. Bürgerliche würden ohne Kompromisse nie Klimapolitik machen. Also: Entweder wir zahlen für die Krise, oder sie kommt.
Diesen Fatalismus, dass eh alles auf unsere Schultern abgewälzt wird, können wir nicht nachvollziehen. Die Geschichte ist nicht vorgeschrieben. Wir wollen einen Beitrag leisten, damit es nicht so kommt, wie du befürchtest. Das Problem bei deinem Beispiel ist aber, dass das CO2-Gesetz ja genau nichts zur Verhinderung der Klimakatastrophe beiträgt, weil es a) die Hauptverursacher (Banken, Konzerne) verschont und b) das Nicht-Erreichen der Pariser Klimaziele legalisiert. In diesen Beitrag wird dies nachvollziehbar aufgezeigt: https://sozialismus.ch/artikel/2020/schweiz-gegen-soziale-kaelte-in-einer-ueberhitzten-welt-fuer-das-referendum-gegen-das-co2-gesetz/
Wenn nun eben SP/Grüne ein CO2-Gesetz unterstützen, das nichts hilft, sind sie eben nicht mehr Verbündete. Obwohl die Klimabewegung seit Jahren Druck auf sie ausübt, sind sie trotzdem „nicht gewillt, das Richtige zu tun.“ Das sollte uns zu denken geben. Leider sind Kompromisse in Bezug auf die Klimakrise nicht möglich. Die Wissenschaft hat aufgezeigt, was es braucht, um die Krise noch abzuwenden. Die SP und auch die Grünen (und die bürgerlichen Parteien sowieso) ignorieren das. Wenn wir sie dafür nun kritisieren, hat das nichts mit „täubele“ zu tun. Und wir tun auch nicht nichts. Hier einige Vorschläge, wie wir auf Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse in Bezug auf die Klimakrise politisch handeln sollten: https://sozialismus.ch/artikel/2020/oekologie-abschlusserklaerung-der-oekosozialistischen-konferenz-fuer-klimagerechtigkeit/
Dieses nicht-befolgen ist ohnehin schon legal. Und: Ich präsentiere immerhin ein Narrativ mit Zukunft, eine Strategie. Ihr habt Vorschläge, und ich habe keine Zweifel, sie würden mit allen Mitteln die unserem Land zur Verfügung stehen zur Abwendung des Tipping Points beitragen. Aber eure Forderungen werden nie von jemandem erhört, ausser SP, Grünen und linken Kleinparteien gelingt in den nächsten Wahlen ein Erdrutschsieg und die linken gewinnen parteiinterne Diskussionen. Eure Lösung beruht auch auf Kooperation mit den linken Parteien.