Wie die Deutsche Welle online berichtet, bringt die akute Gesundheitskrise weltweit die Regierungen auf aussergewöhnliche Ideen, um neue Spitalbetten für an Covid-19 Erkrankte zur Verfügung zu stellen. Auf die Frage, ob Kreuzfahrtschiffe sich in schwimmende Spitäler umwandeln liessen, antwortete ein deutscher Marineoffizier folgendes:
Vorausgesetzt, dass man keine Intensivstation-Standards für das komplette Schiff im Auge hat, kann man die Umbauten gut bewerkstelligen. (…) Und es wäre denkbar, dass z.B. das bestehende Schiffspersonal, das bis hin zu Intensiv-Maßnahmen in Extremfällen diese Aufgaben ja schon erfüllt, dafür nutzbar wäre, wenn sich so eine Situation ergibt. Man muss vorher klar definieren, was diese Schiffe leisten können sollen.
Aus den Weltkriegen sind einige historische Beispiele bekannt, bei welchen Kreuzfahrtschiffe in Lazarettschiffe umgewandelt worden sind. In Friedenszeiten stellt es aber eine aussergewöhnliche Massnahme dar, welche den Reedereien auch die Gelegenheit bieten würde, sich als «nützlich» zu zeigen. Während es überall in Europa Massnahmen für die Schaffung von neuen Spitalplätzen gibt, ist die spanische Regierung einen weiteren Schritt gegangen. Sie hat die privaten Kliniken unter staatliche Kontrolle gestellt.
Was vor einigen Wochen unvorstellbar war, nämlich das Beschlagnahmen von privaten Betrieben und Immobilien zugunsten der Gesundheitsinfrastruktur, wird jetzt konkret zur notstandmässigen Praxis von Staaten.
Requisition: aussergewöhnliche Übernahme durch den Staat
In Zeiten der französischen Revolution bezeichnete die réquisition die erzwungene Mobilisierung der männlichen Bevölkerung zur Armee. Seitdem hat der Begriff mehrere zusätzliche Bedeutungen erfahren. Das französische Centre National de Ressources Textuelles et Lexicales gibt folgende Definition für den Bereich, der uns hier interessiert:
Verfahren, durch welches die zivilen oder militärischen Behörden die Erbringung von mobilen Gegenständen, das Nutzen von Immobilien oder von bestimmten Dienstleistungen fordern, um das Funktionieren des Service Public zu gewährleisten. Darauf wird durch zivile Beamte unter aussergewöhnlichen Umständen (Geissel, Epidemien, Katastrophen) zurückgegriffen, oder durch Militärangehörige zugunsten des Militärs im Kriegsfall, oder zugunsten von Mobilisierungen (…).
Lassen sich solche Überlegungen auf andere Bereiche als die Kreuzfahrtbranche übertragen, wie beispielweise auf das Militär? Derselbe Artikel von der Deutschen Welle berichtet von zwei Hospitalschiffen von der US-Kriegsmarine, die jetzt nach New-York-City bzw. Los Angeles gebracht werden, damit sie dort zusätzliche Bettenkapazitäten bringen. Solche Massnahmen ergeben in Krisenzeiten selbstverständlich Sinn, insbesondere wenn sie dazu helfen, angesichts des maroden Gesundheitssystems in den Vereinigten Staaten Leben zu retten. Die spektakulären Aktionen sollten aber darüber nicht hinwegtäuschen, dass die Militarisierung von Aufgaben des Sozialstaates in Wirklichkeit einen Rückschritt darstellt.
Laut Recherchen des Nachrichtenportals Mediapart droht der heldenhaft angekündigte Einsatz des Sanitätsdienstes der französischen Streitkräfte gegen das Coronavirus zum Fiasko zu werden. Jahrelang hat der neoliberale Staat auch dort die Kapazitäten reduziert, sodass das Zivilpersonal jetzt in die Militärspitäler einrücken muss, um diese in Betrieb zu halten. Um es kurz auf den Punkt zu bringen: solche Nothilfen durch das Militär sollten und können die fehlenden Investitionen im Bereich der öffentlichen Gesundheit nicht ersetzen.
Schwerter zu Pflugscharren? Lehren für die Umrüstung von klimaschädlichen Industrien
Alle epochalen Krisen haben die Eigenschaft, dass sie die gesellschaftliche Ordnung auf den Kopf stellen. Gewissheiten und Sachzwänge werden von einem Tag auf den anderen über Bord geworfen. Angesichts der Bedrohung für ganze Gesellschaften, aber auch aufgrund der Sorge um die Mechanismen der Akkumulation selbst, greifen die Regierungen der Industriestaaten zu grossen Hilfspaketen. Es werden Milliarden von Geldern mobilisiert, was den ganzen Diskurs um leere Kassen als Makulatur erscheinen lässt. Gleichzeitig stellen wir überrascht fest, dass Luxushersteller wie der französische MVMH (Louis-Vuitton-Taschen) innerhalb einigen Wochen auf die Produktion von Desinfektionsmittel umstellen. Das heisst wohl gemerkt auf Produktionen, die sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert sind.
Solche Phänomene sollten uns hellhörig machen. Seit Jahrzehnten heisst es, die grossen Industrien wie die Chemie, die Zementproduktion und der Bergbau liessen sich nicht leicht auf andere Produktionszweige umrüsten. Dies obwohl sie wegen ihren schädlichen Emissionen die Hauptverantwortung für die Klimakrise tragen. Massnahmen wie die Requisition von Konzernen oder Anlagen könnten in einer nahen Zukunft zu einem breiten Instrumentarium für die Umrüstung (reconversion) von umweltschädlichen Industrien gehören. Dasselbe gilt beispielweise in der Baubranche für die Schaffung einer öffentlichen Industrie, mit dem Ziel, die Wärmedämmung von Gebäuden europaweit zu verbessern. Wenn Kreuzfahrtschiffe zur Bekämpfung der Pandemie umgerüstet werden, denkt mensch sofort an die Schaffung von günstigem Wohnraum durch die Requisition von Immobilien (Hotels und Büroräumen).
Damit alle diese Massnahmen greifen, braucht es basisdemokratische Kontrollmechanismen durch die Beschäftigten, sowie durch die Verbraucherseite. Eine Übernahme von strategischen Unternehmen durch den neoliberalen Unternehmer-Staat gehört jetzt nicht mehr zur Science-Fiction, sie kann aufgrund der Krise zur Realität werden. Solch eine Etappe, die aussergewöhnliche Übernahme durch den Staat, müsste aber einer umfassenden Vergesellschaftung den Weg bereiten. Dafür braucht es, gelinde gesagt, Druck von der Strasse und die entsprechenden Kräfteverhältnisse.
von Daniel Narbo
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