Der Widerspruch ist eine Institution in der Schweizer Linken. Seit 40 Jahren kommentiert es die Schweiz und die Welt aus sozialistischer Sicht. Die Redaktion des Widerspruchs hatte am 30. April im Rahmen des 1. Mai-Festes in Zürich eine Heftvernissage veranstaltet, die anlässlich der aktuellen Heftausgabe im Zeichen der pluralistischen Diskussion innerhalb der Linken über den russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine stehen sollte. Die Gretchenfrage war dabei, wie den ukrainischen Bevölkerungen am besten gedient sei: Fortführung des bewaffneten Widerstands oder Friedensverhandlungen mit einem Regime, das den Krieg durch die Ukraine unprovoziert vom Zaun gebrochen hat? Die Podiumsdiskussion verkehrte den vermeintlich angestrebten Pluralismus letztlich aber zu einem homogenen Monolog.
von João Woyzeck (BFS Zürich)
Die Heftvernissage der neuesten Widerspruchausgabe gab vor, unter der Losung Ukraine, Krieg, linke Positionen zu stehen. Hier muss man aber wissen, dass der Fertigstellung der aktuellen Ausgabe eine heftige Kontroverse vorangegangen war. Der Beirat der Widerspruchsredaktion wollte nämlich nach Eigenaussage eine Plattform bieten, um eine «Auseinandersetzung in einer pluralistischen Linken zu führen». Tatsächlich aber schien der Beirat zur Widerspruchsredaktion jene Position ausschliessen zu wollen, die in ihrer Analyse des Krieges primär vom Betroffensein der Angegriffenen und ihrem Recht auf Selbstverteidigung ausgeht, den vermeintlichen ‚Bellizist:innen‚.
Insbesondere Dominic Iten setzte sich im Beirat der Widerspruchsredaktion für die Marginalisierung sogenannt bellizistischer Positionen ein. Iten betreute die Redaktion des Artikels von Hanna Perekhoda. Dabei wies er ihren Artikel unter dem Vorwand immer neuer Auflagen, die sie zu erfüllen hatte, vermehrt zurück. Letztlich wurde Perekhodas Artikel, der das Thema der Waffenlieferungen noch nicht einmal thematisiert hatte, aber doch abgelehnt. Da kann sich nur die Vermutung aufdrängen, dass Iten diejenigen Beitragenden aussortieren wollte, die er zuvor schon als vermeintliche Bellizist:innen identifiziert hatte. Womit Iten allerdings nicht gerechnet hatte, war der solidarische Abzug weiterer Beitragenden aus der aktuellen Widerspruchausgabe. Erst der Druck, das Heft nicht herausbringen zu können, zwang den Beirat der Redaktion, tatsächlich alle Artikel abzudrucken und eine streitlustige Auseinandersetzung innerhalb einer pluralistischen Linken zu führen.[1]
Umstürzlerisch, aber weltfremd
Angesichts der Vorgeschichte fragt sich, weswegen lediglich Exponent:innen geladen waren, die einen sofortigen Frieden verlangen, der keine militärische Vormachtposition der ukrainischen Bevölkerungen gegenüber dem russischen Aggressor voraussetzt. Die Veranstaltung stand also zwar unter der Losung des innerlinken Diskurses, aber bezüglich des zentralen Streitpunktes wurde eine homogene Position vertreten. Das ist ein ganz ekliger Mut zur Lücke!
Ich war an der Podiumsdiskussion, um mir selbst ein Bild davon zu machen. Dabei blieb mir vor allem der Panelist Michael Graff, ehemaliger Zürcher Gemeinderat für die AL, im Gedächtnis. An seinen Beiträgen und Antworten kristallisierte sich besonders deutlich heraus, was das zugrundeliegende Problem sein könnte: Man leistete sich die Bequemlichkeit, in abstrakten Vorstellungen zu sprechen, die zwar revolutionär klingen, aber an der historischen Realität vorbeigehen. Diese revolutionär klingende Rhetorik und die ahistorischen Vorstellungen entlarven letztlich aber jede auch noch so ausdrücklich getätigte Verurteilung der Invasion als «russischen Angriffskrieg» als blosses Pflichtbekenntnis.
Vom revolutionären Aufgeben
In einer ersten Runde kamen die Panelist:innen aufs Thema des Pazifismus zu sprechen. Inwiefern dabei von einem eigentlichen Pazifismus gesprochen werden kann, der die Sorge für die angegriffenen Bevölkerungen ins Zentrum stellt, bleibt fraglich. Die Vorstellung, dass die Ukrainer:innen – obschon sie es waren, die angegriffen worden sind und weiterhin werden – ihre Waffen niederlegen sollen, erinnert vielmehr an einen Begriff, der während des Ersten Weltkrieges in Frankreich entstanden war. Defätismus bezeichnet die Aufgabe der Unterstützung der militärischen Strategie eines Landes durch die eigenen Soldat:innen. Und genau damit setzt Graff Pazifismus gleich, wenn er einen Stopp des bewaffneten Widerstandes verschreibt. Und zwar gegenüber einem Feind, der erst zu Friedensverhandlungen bereit geworden war, als die Waffenlieferungen und die Ausbildung an diesen Waffen unter den ukrainischen Soldat:innen ihre Wirkung gezeigt hatten und sich das Ziel einer umfassenden Invasion der gesamten Ukraine innert weniger Wochen als Wunschdenken erwiesen hatte. Gegenüber einem Feind, der aus den letzten geplatzten Friedensverhandlungen im Frühjahr 2022 in der Türkei ging, indem er für künftige Verhandlungen die Zahl der Oblaste, die er als Gebietsabtretungen verlangt, verdoppelte.
Graff ging aber noch einen Schritt weiter und sprach von einem revolutionären Defätismus. Da offenbarte er sich nicht nur als realitätsfern, sondern in wohlklingender Rhetorik gefangen. Der sogenannte revolutionäre Defätismus fand an der Zimmerwalder Konferenz 1915 vor allem im radikalen linken Flügel innerhalb der Zweiten Internationalen Anklang. Marxistische Denker:innen wie Lenin betonten, dass es angesichts des aufziehenden Grossen Imperialistischen Krieges, den wir heute als Ersten Weltkrieg kennen, für das Proletariat weder nach dem Sieg der einen noch nach dem Sieg der anderen imperialistischen Macht signifikant besser würde. Deswegen solle man dem Kriegstreiben der eigenen imperialistischen Nation die eigene Kraft und Leistung entziehen. Revolutionär war dieser Defätismus – und das ist die Crux –, weil man die Hoffnung hatte, dass alle nationalen Proletariate ihren jeweiligen bürgerlichen Regierungen den Kampfeswillen verweigern und stattdessen als intereuropäisches Proletariat gegen das geeinte Bürgertum kämpfen würden.
Nun ist es eine Sache, der radikalen Linke inmitten des Ersten Weltkrieges Recht zu geben. Aber es ist etwas anderes, solche Geschehnisse einfach als Analogien auf die Gegenwart zu übertragen. Denn diese schablonenartige Übertragung vergangener Rezepte auf heute hiesse nicht bloss, einen fehlerhaften theoretischen Vortrag zu halten, sondern von realen Menschen im Hier und Jetzt zu verlangen, sich vom Kreml-Regime überrennen zu lassen. Deswegen kam ich auch nicht umhin, Graff die relativ simple, aber doch essentielle Frage zu stellen: Wie würde sich denn so ein revolutionärer Defätismus auswirken, wenn die russische Armee ihre eigenen Waffen selber nicht hinlegen würde; wenn das Kreml-Regime nach der gescheiterten umfassenden Invasion neben offenen Expansionszügen vielleicht auch wieder die informelle Militärpräsenz ausdehnen oder seinen hybriden Krieg gegen die Ukraine weiter intensivieren würde? Graff fühlte sich allerdings nicht bemüssigt, auf diese Frage einzugehen.
Wie sehr Graffs Auffassung primär von einer Umsturzrhetorik bestimmt ist, zeigte seine Auseinandersetzung mit dem (ukrainischen) Nationalstaat. Prinzipiell hatte Graff durchaus Recht, dass der Identifikationspunkt Nation oder Volk potentiell gefährlich sei, weil er das Volk an die Stelle der Klasse setzt und im schlimmsten Falle in genozidale Phänomene münden könne. Gleichzeitig war es aber auch vollkommen ahistorisch, dem Nationalstaat jede positive Bedeutung abzusprechen. Ein Nationalstaat bietet nach aussen, d.h. innerhalb einer bürgerlichen Weltordnung Schutz und Rechtssicherheit. Nicht ohne Grund hatten wir zumindest in Europa bis zur Invasion der Ukraine durch Russland im Februar 2022 geglaubt, dass die Eroberung ganzer Nachbarstaaten unmöglich sei. Und zwar weil es so etwas wie das Völkerrecht gibt, das vor Übergriffen schützt, indem es die nationalstaatliche Integrität schützt. Aber auch nach innen kann der Nationalstaat schützen, etwa durch Bürgerechte. Man braucht sich nur anzusehen, wie sehr die Rechte derjenigen Menschen geachtet werden, deren Herkunftsländer sich für ihre im Ausland lebenden Bürger:innen einsetzen. Menschen, die vor ihren Herkunftsländern fliehen, oder wie etwa im Falle der Sinti und Roma die Lobby Nationalstaat gar nicht haben, sind gegenüber Diskriminierung oft praktisch vogelfrei.
Graff wäre es allerdings viel lieber, wie er sagte, dass die ukrainische Bevölkerung ihre Nation aufheben würde. Den letzten Gedankenschritt schien Graff hier aber nicht gehen zu wollen. Doch diese unausgesprochene Konsequenz seiner Aussage konnte ich nicht unkommentiert im Raum stehen lassen und hakte nach: Wie genau würde die Aufhebung des ukrainischen Staates den Ukrainer:innen materiell helfen, wenn Russland doch genau diese nationalstaatliche Souveränität unterminieren will? Auch diese Frage wurde keiner Antwort gewürdigt.
Eine Stimme aus dem Publikum merkte allerdings historisch versiert an, dass Graff eine unvollständige Auffassung vom revolutionärem Defätismus vertrete. Beim revolutionären Defätismus sei es nicht nur darum gegangen, dass weder der Sieg der einen noch der anderen imperialistischen Macht die Lebensrealität der einzelnen nationalen Proletariate signifikant verbessert hätte. Es ging auch um einen Bruch mit der Prämisse, die zu Marxens Zeit im 19. Jhdt. noch gegolten hatte und welche von Marx und Engels geteilt worden war: Damals sah man gewisse Kriege noch als progressive Kriege an. Für die beiden Altherren des wissenschaftlichen Sozialismus stellte sich die Frage, ob der Sieg einer jeweiligen Seite eine Verbesserung der revolutionären Organisation und gesellschaftlichen Macht des Proletariats darstellte oder ob er die arbeitende Klasse vielleicht sogar Jahrzehnte zurückwürfe. Dem gegenüber konstatierte der revolutionäre Flügel der Erstweltkriegslinken 1914, dass es nun keine Rolle mehr spiele, unter welchem Imperialismus man ausgebeutet würde.
Meiner Meinung nach, aber wäre es sinnvoll, sich diese Frage heute erneut zu stellen. Unter welcher Regierung hätte die ukrainische Arbeiter:innenklasse mehr Entfaltungsmöglichkeiten: unter der ukrainischen ‘defekten Demokratie’ oder der russischen ‘moderaten Autokratie’[2]? Engels selbst meinte seiner Zeit: «Bürgerliche Freiheit, Preßefreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht» sind die Voraussetzung, um zur Gegenmacht zur bürgerlichen Gesellschaft zu wachsen. «Ohne diese Freiheiten», das wusste schon Engels, könne sich die Arbeiter:innenklasse erst gar «nicht frei bewegen».[3]
Ich persönlich glaube, ein Sieg der Invasion durch das Kreml-Regime um Wladimir Putin würde den Nimbus, den der Kreml auch in der russischen Arbeiter:innenschaft geniesst, konsolidieren. Russland könnte sich durch einen Sieg in Verbindung mit der Kontrollmacht über den Informationsfluss in den besetzten Gebieten erfolgreich als Befreier der (Ost-)Ukrainer:innen vor dem so genannten Nazi-Regime unter Selenskyj behaupten und als Verteidiger der russischen Nation gegen den Westen. Ein Sieg Russlands wäre hinsichtlich des Kampfes der Arbeiter:innenklasse somit der reinste reaktionäre Regress. In dieser Hinsicht schien Graff die Nationalstaatlichkeit allerdings nicht so sehr zu stören.
Fremdherrschaft vs. verlustreicher Widerstand
In einer zweiten Runde fuhr Graff fort, dass man nicht wissen könne, was geschehen wäre, wenn Russland die gesamte Ukraine in den ersten Wochen der Invasion erfolgreich erobert hätte. Natürlich kann jede Antwort, die nicht die passierten Geschehnisse nachzeichnet, nur spekulativ sein. Aber es gibt durchaus verschiedene Stufen der Wahrscheinlichkeit. Das Zurückziehen in das plumpe Argument, man wisse doch nur, dass man nichts wisse, konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. Also konfrontierte ich Graff diesmal nicht mit einer Frage, sondern warf ihm zwischen die Zähne, wie Russland gehandelt hatte, als es noch im Siegestaumel war und wie, als es sich zurückziehen musste. Die systematischen Verbrechen an der Zivilbevölkerung und Militärangehörigen in den Regionen um Kyiv (darunter der Vorort Butscha), Tschernihiw und Sumi, das massenhafte Foltern und Morden in den Kellern wiederholten sich von dem Zeitpunkt an nicht mehr – oder sind aus den gegenwärtig besetzten Gebieten nicht bekannt –, als die westlichen Waffen angekommen waren und die Ausbildung an den gelieferten Waffensystemen ihre Wirkung zeigte. Auch die plötzliche Bereitwilligkeit des Kremls, Friedensverhandlungen zu suchen, sich gar als die eigentliche friedenssuchende Partei darzustellen, korreliert mit dem Misslingen, die gesamte Ukraine einzunehmen.
Dieses Mal erwiderte Graff tatsächlich. Er sah darin lediglich Spekulation. Hingegen könne er mit Sicherheit sagen, dass «die Gemüter weniger erhitzt worden» wären, wenn der Krieg früher beendet worden wäre, ja auch wenn das Kreml-Regime die Regierung Selenskyj zu einem früheren Zeitpunkt gestürzt hätte. Konkret, wäre die Eroberung rascher passiert, wären die Fronten nicht so verroht gewesen, die Ukrainer:innen weniger aufmüpfig und die Fremdherr:innen weniger entmenschlichend…
603’700 km² Blank Space
Das grösste Manko aber war die altbewährte Unfähigkeit campistischer Linken, territoriale Konflikte im Lichte der Subjektivität der betroffenen Bevölkerungen zu sehen. Es ist eben mehr als nur ein interimperialistischer Konflikt. Die Ukrainer:innen haben andere materielle Interessen als die USA oder die NATO wie bspw. das nackte Überleben oder die freiheitliche Selbstbestimmung. Interessen, die in der bürgerlichen Welt – welche durch einen Sieg Russlands noch weniger ins Wanken käme – durch die nationale Souveränität geschützt werden.
Die Ukrainer:innen sind auch nicht einfach ein NATO-Vorposten. Denn so sehr Graff das soziale Konstrukt Nation auch Gänsehaut bereiten mag, so sehr ist die Ukraine auch kein künstliches Produkt, sondern eine historisch gewachsene kulturelle Entität. Neue Grenzziehungen oder informelle Fremdherrschaften verändern Lebensrealitäten, gerade was Freiheit und Rechtssicherheit anbelangt. Graff gibt sich durch seine pseudointernationalistische Rhetorik aus überspitzter Nationalstaatskritik, die vollkommen ahistorisch und gegenwärtig nicht realisierbar ist, progressiv und emanzipatorisch. In Wirklichkeit aber beginnt Internationalismus im Hier und Jetzt, indem man für Selbstbestimmung im Rahmen des materiell und historisch Möglichen kämpft. Solidarischer Antiimperialismus kann wohl kaum bedeuten, die Aufhebung der Ukraine zu fordern, wenn gerade dessen nationale Souveränität bedroht wird.
Was konnte das Publikum aus dieser ‚wertvollen‘ Podiumsdiskussion mitnehmen?
Das Podium wollte eigentlich dazu dienen, einen kontroversen innerlinken Diskurs zu schaffen und so innerlinken Austausch zu ermöglichen. Grundsätzlich ist dies gutzuheissen. Allerdings wurden Positionen, die verschieden nah an der Wahrheit stehen, gleichwertig behandelt. Solche Podiumsdiskussionen schaffen so eine ungemeine Diffusion. Entweder bestätigen sie als Echokammern schlicht, was all die einseitig antiamerikanistischen Campist:innen ohnehin schon glauben. Oder unentschlossene Menschen werden über den qualitativen Unterschied zwischen Ansichten, die gesicherter sind, und solchen, die in ideologischen Altlasten gefangen sind, hinweggetäuscht, indem ihnen eine Diskussion zwischen gleichermassen bestreitbaren Aspekten auf beiden Seiten suggeriert wird.
An der Podiumsdiskussion des Widerspruchs aber wurde diese vorgeblich ganz offene Diskussion auch nur deshalb einigermassen verwirklicht, weil sich einige anwesende Publikumsgäste dazu durchgerungen hatten, dem einseitig besetzten Podium Paroli zu bieten und unangenehme Fragen zu stellen.
Zum Schluss möchte ich der:dem Leser:in etwas zum Nachdenken mitgeben. Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen blosser Umsturzrhetorik und wirklich revolutionärem Inhalt. Man frage sich einfach: was lässt sich anhand der historischen Realität bereits umsetzen, was bereitet gegenwärtig nur Freude, weil es schön klingt?
[1] Die Redaktion des Widerspruch gibt die komplette Kontroverse nur unvollständig wieder und lässt vor allem die für sie peinlichen Aspekte am Eklat aus. In: Redaktion Widerspruch (2023). Ukraine, Krieg, linke Positionen: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik, 80, 5– 7, abrufbar unter: https://widerspruch.ch/sites/default/files/article-document/2023-04/WSP_80_Editorial.pdf (2.05.2023).
Im Vorwärts kritisierte Iten etwa, dass die BFS ans Andere Davos (Zürcher Gegenveranstaltung zum WEF) Gäste mit ukrainischem Hintergrund (Tasha Lomonosov, Yulia Yurchenko, Hanna Perekhoda) und russischem Hintergrund (Ilya Metveev) eingeladen hatte, die den bewaffneten Widerstand der ukrainischen Bevölkerungen gegen die russische Invasion als Grundlage für den Beibehalt der nationalen Souveränität und der (defizitären, aber immerhin) demokratischen Freiheit gegenüber einer russischen Fremdbeherrschung verstanden: «Eingeladen, um diese Thesen [dass von der internationalen/ westlichen Staatengemeinschaft bisher zu wenig (an Sanktionen) gegen das Regime um Putin unternommen worden sei; Anm. d. Red.] zu bekräftigen, wurden durchgehend Gäste, die sich in den vergangenen Monaten als Bellizisten hervorgetan haben.» In: Vorwärts (2023): Nr. 1/2.
[2] Vgl. dazu Bertelsmann Stiftung (2022): Ukraine, abrufbar unter: https://bti-project.org/de/reports/country-dashboard/UKR (2.05.2023). und Beterlsmann Stiftung (2022): Russia Overall Results, abrufbar unter: https://atlas.bti-project.org/1*2022*CV:CTC:SELRUS*CAT*RUS*REG:TAB (2.05.2023).
Zur Veränderung der Freiheit und Partizipationsrechte mit dem Krieg:
Es ist richtig, dass sich die Situation in der Ukraine seit und durch den russischen Angriffskrieg und die durch die ukrainische Regierung in diesem Zusammenhang ergriffenen Massnahmen verschlechtert hat. Es wurden politische Parteien verboten, die als pro-russisch gelten (vor dem Krieg galt das Verbot lediglich für die poststalinistische und kreml-freundliche Kommunistische Partei), pro-russische Funktionäre der Kirche wurden sanktioniert, im Rahmen des Kriegsrechts wurde das Versammlungsrecht suspendiert, gesamtarbeitsvertragliche Arbeiter:innenrechte wurden substantiell geschwächt für Betriebe mit weniger als 250 Angestellten (ca. 70% der Lohnagestellten). Allerdings wird ein essentieller Anteil der Demokratieschwächung direkt durch Russland verursacht, bspw. die gewaltsamen demographischen Veränderungen oder die autokraten (de facto mit Russland gleichgeschalteten) Verwaltungssysteme in den Gebieten von Luhansk und Donetsk, die nicht unter ukrainischer Kontrolle stehen. Freedom House stuft die Ukraine für 2022 als «teilweise frei» ein mit 50 von 100 (22/40 für politische Rechte, 28/60 für bürgerliche Freiheitsrechte) möglichen Punkten, wobei einige Demokratie- oder Freiheitsdefizite direkt durch russische Verschlechterungen erwirkt wurden. Damit hat sich die Ukraine gegenüber dem Vorjahr um 10 Punkte verschlechtert. Einige Verschlechterungen stehen in Zusammenhang mit dem Krieg. In: Freedom House (2023): Ukraine: Freedom in the World 2023 Country Report, abrufbar unter: https://freedomhouse.org/country/ukraine/freedom-world/2023 (2.05.2023).
Freedom House stuft Russland für 2022 als «nicht frei» ein mit 16 von 100 Punkten (5/40 für politische Rechte, 11/60 für bürgerliche Freiheitsrechte), was im Vergleich zu 2021 eine Verschlechterung um 3 Punkte darstellt. Für Wahlverfahren erhielt Russland 0 von 12 möglichen Punkten, 3 von 16 für Pluralismus und politische Partizipation, wobei gegenüber Putins de facto Partei Einiges Russland nur oberflächlich politischer Wettbewerb möglich ist (Parteien wurden zu Blockparteien eingeschränkt). Für Medienfreiheit und Meinungsfreiheit 2 von 16, wobei der Staat bestimmte Themen wie den Angriffskrieg gegen die Ukraine gezielt beobachtet. Rozkomnadzor, die staatliche Aufsichtsbehörde für Informationstechnologie und Massenkommunikation, beobachtetet und verfolgt Internetuser:innen, die vermeintlich staatsfeindliche Inhalte produzieren oder konsumieren, worauf es zu gezielten Verhaftungen kommt. Insbesondere durch absichtlich vage gehaltenen Gesetze zu Extremismus werden die theoretisch verfassungsmässig geltenden Rechte unterminiert. Alle staatsweit agierenden Fernsehsender und die meisten Zeitungen und Radiosender werden als staatliche Betriebe oder durch kreml-freundliche Oligarch:innen direkt kontrolliert. Durch die offizielle Deklarierung von Organisation als ausländische Agenten werden diese in der öffentlichen Wahrnehmung gebrandmarkt. Allerdings wird für Organisationen so auch die Möglichkeiten, an Gelder zu kommen, behindert, was mitunter zur Schliessung von Medienorganisationen führt. Organisations- und Versammlungsfreiheit erhielt ebenfalls nur 2 von 12 Punkten. Regelmässiges Einschreiten durch den Polizeiapparat, exzessive Gewaltanwendung durch die Polizeiapparat, regelmässige Inhaftierungen, sowie drakonische und extensive Geld- oder Haftstrafen schüchtern die Bevölkerung ein. Kreml-Gegner:innen wird es zudem systematisch enorm erschwert, eine Bewilligung für eine Demonstration oder eine Kundgebung zu erhalten. Auf niederer Verwaltungsebene verbieten Gesetze Versammlungen in 70% des öffentlichen Raums. Behörden können Versammlung einfach mit der fadenscheinigen und vagen Begründung des «öffentlichen Interesses» verbieten. Weiter wird die Zahl der Versammlungen auch durch gezielte Beobachtung dezimiert. Gesichtserkennungstechnologie wird genutzt, um Aktivist:innen zu erkennen und zu verfolgen. Mit dem Beginn der umfassenden Invasion der Ukraine 2022 wurde das Strafgesetzbuch nochmals verschärft, um kriegskritische Versammlungen zu kriminalisieren. Linken Apologet:innen des Kreml-Regimes sollte aber auch ins Stammbuch geschrieben werden, dass Arbeiter:innenrechte durch das Kreml-Regime missachtet werden. Gewerkschaften werden theoretisch durch das Gesetz zwar geschützt. Es gibt kleine unabhängige Gewerkschaften in gewissen Regionen, die Streiks abgehalten haben, doch Arbeitgeber:innen ignorieren häufig gesamtarbeitsvertragliche Rechte. Ausserdem werden Gewerkschaften in den Staat inkorporiert, was eine Form der Gleichschaltung ist. So arbeitet die grösste Gewerkschaft in engerer Kooperation mit dem Kreml. Und auch vor politischer Verfolgung sind Arbeiter:innenorganisationen nicht sicher. Im August 2022 wurde die Gewerkschaft der Journalist:innen und Medienschaffenden für schuldig befunden, die russischen Streitkräfte verunglimpft zu haben. Schon im folgenden Monat wurde die Gewerkschaft durch ein Moskauer Gericht aufgelöst. In: Freedom House (2023): Ukraine: Freedom in the World 2023 Country Report, abrufbar unter: https://freedomhouse.org/country/russia/freedom-world/2023 (2.05.2023).
[3] MEW Bd. 16, 68; 77.