Es dürfte bei Weitem keine neue Erkenntnis sein, dass die AfD das öffentlich Sagbare weiter nach rechts verschiebt, sogar die soziale Erwünschtheit aufweicht und letztlich re-definiert, was gesagt werden dürfen soll. Nun aber will die AfD re-definieren, was stimmt. Und dass die AfD ihre eigenen Gegenwahrheiten über konkrete Ereignisse behauptet und etablieren will, hat durchaus eine eigene Qualität. Der aktuelle Fall um den vermeintlichen Vergiftungsanschlag auf AfD-Co-Vorsitzenden Tino Chrupalla verdeutlicht dies sehr eindrücklich.
Am 5. Oktober musste Tino Chrupalla von einer Wahlveranstaltung in Ingolstadt ins Krankenhaus gefahren werden, weil ein medizinischer Notfall bei ihm eingetreten war. Bald schon wurde spekuliert, was vorgefallen sein könnte. Im Vorhinein soll Chrupalla beim Selfiesschiessen mit Bürger:innen an der Veranstaltung in leichten Körperkontakt mit weiteren Personen gekommen sein. Die Theorie, die sich bis jetzt in einschlägigen Kreisen hartnäckig hält, ist, dass zwei schwarz gekleidete Männer – mutmasslich Antifaschisten – Chrupalla angerempelt hätten, worauf er irgendwann zusammengebrochen sei. Beim kurzen Körperkontakt soll Chrupalla ein Gift in den Rücken injiziert worden sein. Ein vorläufiger Arztbericht, der sich jedoch auf die Eigenaussage der Betroffenen stützt[1], bestätigte zumindest einen Einstich. Spätere toxikologische Untersuchungen, sowohl regulär durch die behandelnden Ärzt:innen als auch durch kriminaltechnische Ermittlungen, konnten im Körper von Chrupalla keine anderen Stoffe als die von den Ärzt:innen verabreichten Betäubungsmittel feststellen.[2]
Gesicherte Aussagen als Diffamierung der Etablierten
Die AfD streute unmittelbar auf den Vorfall – als Gesamtpartei durch öffentliche Statements, durch einzelne Sektionen auf niederen Verwaltungsebenen, durch einzelne Mitglieder oder durch AfD-nahe Sender auf den Sozialen Medien – ein äusserst diverses Potpourri an Thesen, Erklärungen und Anschuldigungen, die sich um den vermeintlichen Giftanschlag auf Chrupalla ranken. Die Hirnausdünstungen reichten dabei bis zum Vorwurf, der ukrainische Geheimdienst SBU hätte Chrupalla vergiften wollen[3] – eine einfache Umkehr davon, wie Wladimir Putin und der Kreml mit ins Ausland immigrierten Regimegegner:innen umgeht. Das eindeutig rechtsextreme und – das ist in diesem Zusammenhang vor allem wichtig – etablierte Magazin Compact zitierte sogar Wladimir Putin selbst, der den vermeintlichen Vergiftungsanschlag auf Chrupalla an der Waldai-Konferenz ironischerweise als Nazimethode bezeichnete.[4] Elsässer sagte damit nicht explizit, dass die Ukraine dahinterstände, aber lieferte mit seiner nur andere rezitierenden Bemerkung immerhin eine Vorlage für Ressentiments, die hinter vorgehaltener Hand gerne weitergehen wollen.
Viel besorgniserregender aber dürfte sein, wiedie offizielle Leitungsebene der AfD den Geschehnissen begegnet. Niemand Geringeres als Alice Weidel, die zweite Co-Chefin der Partei, verlautbarte auf einer Pressekonferenz, dass es sich um einen eindeutigen Anschlag handle. Dass es sich beim Arztbrief, auf den sich die AfD dazu beruft, nur um Wiedergabe von Eigenaussagen durch den betroffenen Chrupalla selbst handelt und tatsächliche Untersuchungen weder einen intramuskulösen Einstich am Oberarm noch andere Mittel als die von den Mediziner:innen bei der Behandlung verabreichten Betäubungsmittel feststellen konnten, wird von Alice Weidel einfach übergangen. Für sie ist das Teil einer Hetzkampagne der Etablierten (Medien, Politiker:innen etc.), um die AfD zu diskreditieren und die Täter:innen zu schützen. Zwar will Weidel sich rückversichert wissen, dass das Establishment nicht direkt zwei antifaschistische Tatverdächtige gedeckt habe, sondern lediglich mit seiner Gesamtkultur der AfD-Marginalisierung und Bagatellisierung der gegen die AfD gerichteten Angriffe (indirekt) dazu beigetragen habe.[5] Doch der Grundtenor bleibt derselbe: das Establishment kennt seine eigenen Wahrheiten, insbesondere dann, wenn die AfD den tatsächlichen Klartext spricht und für die Etablierten unbequem wird! Eine Diskursposition, der sich übrigens auch die Schweizerische Weltwoche angeschlossen hatte.[6]
«We disagree to disagree» als Zersetzungstaktik
Der AfD wird sicher auch in die Hände gespielt haben, dass seriöse Medienformate und journalistische Vorgehensweisen nicht einfach mit Vermutungen um sich werfen, wenn sich diese noch nicht einmal zur Hälfte erhärtet haben. Dass die Bevölkerung über die Tatsächlichkeit – Einstich oder doch nicht – zunächst in Unkenntnis gelassen wurde, zeugte aber eigentlich von journalistischer Kompetenz, zumindest moralisch. Der Bevölkerung wurde wörtlich mitgeteilt, dass man bis dato halt nichts gesichert behaupten könne und es vorerst eine offene und unbeantwortete Frage bleiben müsse, was sich genau zugetragen habe. Leider kann zeitliche Distanz zwischen Geschehnis und einer gesicherten Deutung aber auch dazu führen, dass eine Erkenntnis danach nicht vollumfänglich den Status als gesicherte Erkenntnis erlangt. In der Zwischenzeit können sich bspw. Gegenbehauptungen etablieren, das Vakuum füllen, das unsere Neugier hinterlässt. Und welche wahrnehmungspsychologischen Effekte das haben kann, dass Menschen vor der eindeutigen Klärung schon mit selbstbewusst auftretenden Behauptungen konfrontiert werden, ist noch eine weitere Frage. Erste Eindrücke bleiben aber nicht selten unterbewusst haften.
Insbesondere wenn diese Gegenbehauptungen unter der Prämisse vorgebracht werden, dass das Establishment sich gerade gegen die eigentliche Wahrheit sträube und winde, als Teil einer Kampagne zur Verhinderung der Machtergreifung der AfD. So wurde die nachvollziehbare Zeit bis zur allgemeinen Etablierung gesicherter Tatsachen von den AfD-Strateg:innen genutzt, um eine AfD-Variante der Geschehnisse als eine von zwei ebenbürtigen Interpretationen zu etablieren, über die die Bevölkerung befinden müsse: wer hätte mehr Interesse an einer Lüge, die zur Wand gedrängten sogenannten ‘Volskfeinde’ oder die Alternative für die Misere in Deutschland? Die AfD hat sich also nicht nur einen persönlichen Märtyrer-Mythos geschaffen, sondern auch das Sprungbrett, von dem aus sie künftig öffentlich, auch in Talk Shows und allen etablierten Medienschaffenden zum Trotz selbstbewusst sagen wird: «Das ist Ihre Interpretation, Frau oder Herr so und so.»
Gegenbehauptungen sind kein Einzelfall, und könnten System haben
Wir alle blicken schon seit Jahren entsetzt darauf, wie sich Trump durch die Medien lügt und die konkrete und schwere Beweislast, die wiederholt gegen vorgebracht wurde, irgendwie nicht nur immer umgehen konnte, sondern sogar in Zustimmung für ihn transformierte. Mitunter lachen wir gar darüber. Weil es so absurd und fast schon lächerlich scheint, wie sich einige amerikanische Bürger:innen (auch aus Ermangelung wirklicher Alternativen) wie Schafe selbst zur Schlachtbank führen, indem sie Trump wählen, der so offenkundig gegen ihre eigenen materiellen Interessen einsteht. Weil es so absurd ist, dass die Menschen, die nach mehr Transparenz und nach weniger oligarchisch durchfilzten Parteien lechzen, dabei gerade auf Trump setzen, der ohne Umschweif zugibt, Steuern nicht zu bezahlen und damit prahlt, ein Reicher zu sein.
Aber diese Trump’sche Taktik, eine Gegenwahrheit zu etablieren, die wir am deutlichsten in seiner konstanten Anzweiflung der Wahlergebnisse der letzten Präsidentschaftswahlen erkennen, fasst auch in Europa immer weiter Fuss. Man denke nur an die Art und Weise, wie die AfD auf ihre Niederlage bei der Wahl zum Oberbürgermeister in Nordhausen reagieret hat. In gewissen Kreisen war von Wahlfälschung durch Briefwahl die Rede. Die Voten per Briefwahl hätten merkwürdigerweise dafür gesorgt, dass der Vorsprung des AfD-Kandidaten überwunden wurde. Hohe AfD-Funktionäre wie Björn Höcke schüren dieses Narrativ, um die eigene Wahl betrogen worden zu sein eigenhändig mit.[7] Im Nachhinein hatte die AfD vor der Landtagswahl in Hessen sogar eine grossangelegte Kampagne gegen Wahlbetrug lanciert. Per App oder Website konnten Formulare runtergeladen werden, um Wahlergebnisse einzutragen, die man als freie:r Wahlbeobachter:in gesehen hat.[8] Das spricht sehr dafür, dass die AfD den erweckten Eindruck, die etablierten Meinungsmacher:innen wollten die ehrliche AfD aus dem Wettbewerb lügen, propagandistisch kultivieren möchte.
Schöne neue Medienlandschaft: Die Etablierung einer rechtsextremen Alternative zur Wahrheit
Alle Zeichen stehen darauf, dass die politische Rechtsextreme und Deutschland die Weichen stellen will, um Gegenwahrheiten zu etablieren und zu kultivieren. Solche Gegenwahrheiten schaffen, wie wir bereits bei Trump sehen, die Immunität dagegen, der Lüge überführt zu werden. Und solche Gegenwahrheiten bündeln Menschen, die den Mainstream-Diskursführungen ohnehin misstrauen, weil sie die etablierten Medien (und Wissenschaft) als Teil einer Institutionslandschaft sehen, von der sie materiell nichts mehr zu erwarten haben, die sie abgehängt hat. Die AfD könnte sich so in weiten Teilen der Bevölkerung den Nimbus als diejenige schaffen, die endlich die Wahrheit spricht, die tatsächliche Wahrheit spricht, sozusagen der Robin Hood des Klartextes.
Wenn meine Befürchtungen sich als übertrieben herausstellen sollten, umso besser. Aber vielleicht überschreiten wir gerade einen gesellschaftlichen Kipppunkt, der ungeahnte Fliehkräfte entfaltet und nicht mehr so einfach rückgängig zu machen sein wird. Wäre nicht das erste Mal, dass die politische Rechtsextreme ihre eigene Sicht der Dinge als Wahrheit, später als Mythos behauptet hat, um sich erfolgreich zu profilieren.
von João Woyzeck (BFS Zürich)
[1] Kölner Stadt-Anzeiger (2023): Erste Details zu Chrupallas Diagnose – AfD veröffentlicht Arzt-Schreiben, abrufbar unter: https://www.ksta.de/politik/tino-chrupalla-details-diagnose-afd-arzt-schreiben-injektion-kein-gift-staatsanwaltschaft-statement-660326 (06.10.2023).
[2] Naumann, F., Dillmann, D., Hyun, B. (2023): Nach Chrupalla-Vorfall: Neue Wende im Nadelstich beim AfD-Chef, abrufbar unter: https://www.fr.de/politik/afd-chrupalla-klinik-ingolstadt-wahlkampf-bayern-vorfall-zr-92558696.html (07.10.2023).
[3] Deutschlandkurier (2023): Tino Chrupalla: Steckt der ukrainische Geheimdienst SBU hinter dem Giftspritzen-Anschlag auf den AfD-Chef?, abrufbar auf: https://deutschlandkurier.de/2023/10/tino-chrupalla-steckt-der-ukrainische-geheimdienst-sbu-hinter-dem-giftspritzen-anschlag-auf-den-afd-chef/ (06.10.2023).
[4] CompactTV (2023): Putin zu Chrupalla-Angriff: “Nazi-Methoden”, abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=9UDQai9UBbI (06.10.2023).
[5] CompactTV (2023): Alice Weidel über Chrupalla: “Das war ein Attentat”, abrufbar auf: https://www.youtube.com/watch?v=jbHPAhROFic(10.10.2023).
[6] Koydl, W. (2023): Wer’s glaubt: Medien spekulieren, die Anschläge auf Weidel und Chrupalla seien nur vorgetäuscht – als würden sich die AfD-Chefs auf den letzten Metern für die Wahlen in Bayern und Hessen einfach ausklinken, abrufbar auf: https://weltwoche.ch/daily/wers-glaubt-medien-spekulieren-die-anschlaege-auf-weidel-und-chrupalla-seien-nur-vorgetaeuscht-als-wuerden-sich-die-afd-chefs-auf-den-letzten-metern-fuer-die-wahlen-in-bayern-und-hessen/ (07.10.2023); Weltwoche (2023): Terror gegen die AfD: Medien verharmlosen weiter – Weltwoche Daily DE, 06.10.2023, abrufbar auf: https://www.youtube.com/watch?si=1LVBpZPAMgBWBFlH&v=ruskN1ZxKOE&feature=youtu.be (06.10.2023).
[7] Hasselmann, G. (2023): Nordhausen: Wo am Ende der Auszählung die Stimmen für Buchmann herkamen, abrufbar auf: https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/nord-thueringen/nordhausen/ob-wahl-briefwahl-zahlen-100.html (27.09.2023).
[8] Alternative für Deutschland (2023): Alternative für deutschland (2023): Stärken Sie unsere Demokratie als Wahlbeobachter in Ihrer Gemeinde, abrufbar unter: https://www.afd.de/wahlbeobachtung/ (o.J.)