In der Debatte rund um #MeToo werden immer wieder Vorwürfe der Rachesucht oder des Rufmordes laut. Männer, aber auch Frauen, haben das Gefühl öffentlich gemachte Vorfälle (ab-)werten zu müssen oder gar die Betroffenen selbst zu beschuldigen. In der Zeitschrift «Neues Deutschland» erschien am 29. Januar 2018 ein Interview mit Christina Clemm, Fachanwältin für Straf- und Familienrecht, über sexualisierte Gewalt, Unschuldsvermutungen und Beweislast. (Red.)
von Elsa Koester und Samuela Nickel; aus Neues Deutschland
In der #Metoo-Debatte wird öffentlich über konkrete Vorfälle sexualisierter Gewalt diskutiert – etwa im Fall des US-Comedian Aziz Ansari. Es wird die Frage gestellt, ob es sich juristisch überhaupt um Vergewaltigung handelt.
Christina Clemm: Ich kenne die Vorwürfe gegen Ansari nicht im Detail.
Eine junge Frau wirft ihm sexuelle Übergriffe bei einem Date vor. In ihrer Beschreibung heißt es, er habe ihr die Finger in den Hals und in die Vagina gesteckt und ihre Hand an seinen Penis geführt. Sie habe seine Hand immer wieder weggedrückt und Widerwillen gemurmelt.
Juristisch handelt es sich bei dem sexuellen Eindringen in eine Körperöffnung um einen sexuellen Übergriff im schweren Fall.
Es ist also Vergewaltigung, wenn ein Mann einer Frau gegen ihren Willen den Finger in den Mund steckt.
Das würde juristisch diskutiert werden. Auf jeden Fall aber wäre es das Eindringen mit Fingern in die Vagina, wenn sie ihren Widerwillen erkennbar gemacht hat.
Welche Fragen müssen da genau geklärt werden?
In erster Linie geht es um Beweisbarkeit. Der Beschuldigte könnte behaupten, er habe den Widerwillen nicht erkannt und aufgrund ihres Gesamtverhaltens gedacht, sie wolle die sexuellen Handlungen. Es gibt zwei Fragen: War das Nein für den Beschuldigten tatsächlich erkennbar und kann bewiesen werden, dass es für ihn erkennbar war.
Die Beweislast liegt also auf der betroffenen Person.
Nicht bei der Betroffenen, aber natürlich muss jemandem eine Straftat bewiesen werden, wenn er verurteilt werden soll. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Ab wann geht es juristisch überhaupt um sexualisierte Gewalt?
Straffällig wird, wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser vornimmt oder von ihr vornehmen lässt. Seit der Reform des Sexualstrafrechts ist auch die sexuelle Belästigung strafbar – bis zu zwei Jahre Freiheitsstrafe oder Geldstrafe, wenn jemand eine andere Person «in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt.»
Bei den Vorwürfen gegen den Regisseur Dieter Wedel steht die eidesstattliche Aussage der Frauen gegen die eidesstattliche Aussage des Regisseurs, der sagt, die Übergriffe hätten nie stattgefunden. Aussage gegen Aussage – was macht man da?
Diese Problematik kommt ja in den allermeisten Fällen vor. Ganz selten gibt es weitere Zeug*innen oder Beweise. Im Strafverfahren werden die Aussagen von Staatsanwaltschaft und Gericht geprüft und wenn es einen berechtigten Zweifel an der Anschuldigung gibt, dann wird nicht angeklagt – oder im Prozess eben freigesprochen.
Wie werden die Aussagen geprüft?
Es wird etwa gefragt: Ist die Aussage konsistent, gibt es einen Grund für eine Falschbelastung, ist sie schlüssig? Beleuchtet werden die gesamten Umstände: Wie ist es zu dieser Anzeige gekommen, was hat die Person direkt nach dem Übergriff gemacht, warum zeigt sie erst fünf Tage oder zwei Jahre später an etc.?
Die in der #MeToo-Debatte öffentlich gemachten Vorwürfe gegen prominente Männer werden stark kritisiert – es wird befürchtet, dass es zum Rufmord kommt, zur Vorverurteilung ohne Prozess. Muss man deshalb die Vorwürfe verschweigen?
Nein, der Umkehrschluss hieße ja, dass über Taten, die verjährt sind – wie etwa bei den sogenannten Missbrauchsskandalen in Institutionen – nicht gesprochen werden darf. Ich gehe davon aus, dass die Frauen es sich gut überlegt haben, bevor sie mit den Vorwürfen an die Öffentlichkeit gegangen sind und dass gut und ordentlich recherchiert wurde. Ansonsten könnte es für sie erhebliche juristische Konsequenzen haben, sie könnten mit erheblichen Geldforderungen und Unterlassungsverfügungen konfrontiert sein.
Dennoch haben die Vorwürfe für die Beschuldigten erst einmal große Konsequenzen. Medienmacher wurden gefeuert, Politiker mussten zurücktreten.
Das stimmt. Gegen eine ungerechtfertigte Kündigung kann man arbeitsrechtlich vorgehen, aber den Ruf wiederherzustellen wird schwer. Diese Problematik gibt es aber nicht nur bei Vorwürfen sexueller Übergriffe – sondern immer, wenn jemand falsch einer strafbaren Handlung bezichtigt wird, z.B. auch wenn es um Steuerhinterziehung geht.
Bei Steuerhinterziehung geht man aber nicht davon aus, dass es sich bei dem Vorwurf um eine Falschanschuldigung handelt. Wieso ist diese Befürchtung bei Sexualdelikten so groß?
Die Mär der hohen Falschanschuldigungsquote bei sexualisierter Gewalt gibt es schon immer. Als 1997 die Vergewaltigung in der Ehe strafbar wurde, wurde gesagt: Jetzt wird jede Ehefrau falsch ihren Ehemann anzeigen. Ebenso bei «Nein heißt Nein».
Was steckt hinter dieser Befürchtung?
Ich denke das Bild der rachsüchtigen, lügenden Frau, die einen Vorteil daraus zieht, einen Mann zu Unrecht zu belasten. Aber es gibt Unterschiede in der Bereitschaft, Frauen zu glauben. Bei der Vergewaltigung auf der Straße durch einen Fremdtäter ist man relativ gewillt dazu – wenn sie weiß, deutsch, gebildet ist und sich zu einer «angemessenen» Zeit auf der Straße bewegt hat.
Oder wenn der Täter ein Geflüchteter muslimischen Glaubens ist?
Die Vorstellung, sexualisierte Übergriffe kämen von «außen», ist Teil eines verbreiteten Abwehrmechanismus: »‘Wir‘ tun so was nicht». Rechte Parteien nutzen diesen Mechanismus für sich und stellen sich plötzlich in den Dienst von Frauenrechten. Das ist rassistisch und verlogen. Die Zahlen zeigen, dass sexualisierte Gewalt ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, das immer noch meist im nahen Bekanntenkreis vorkommt.
Eine Falschanschuldigung wird also eher vermutet, wenn es sich um einen weißen, deutschen, «gutbürgerlichen» Mann handelt?
Ja, oder wenn die Betroffene nicht weiß oder körperlich oder psychisch beeinträchtigt ist, wenn sie häufig wechselnde Geschlechtspartner hat oder wenn es sich um Gewalt am Ende einer Paarbeziehung handelt – dann geht man eher davon aus, dass die Betroffene ein Falschverdächtigungsmotiv habe. Ich finde das absolut nicht nachvollziehbar.
Warum nicht?
Sie will den Ex-Partner loswerden, sich nicht in einem Strafverfahren intensiv mit ihm beschäftigen müssen. Welchen Vorteil gäbe es aus einer Falschbezichtigung? Rache ist ein Motiv, das ich bei meinen Mandantinnen nicht erlebe, viel mehr Angst und Verunsicherung. Ich habe in meiner Praxis mit sehr vielen Personen zu tun, die sexuelle Übergriffe nicht anzeigen, da sie große Bedenken gegen eine strafrechtliche Verfolgung haben. Nicht mit lügenden rachsüchtigen Personen.
Was bringt jemanden dazu, eine sexuell übergriffige Person anzuzeigen?
Es gibt unzählige verschiedene Gründe. Wenn nicht sofort nach der Tat angezeigt wird, ist es häufig ein längerer Prozess sich für oder gegen eine Anzeige zu entscheiden. Mehrfach habe ich erlebt, dass Personen einen sexualisierten Übergriff erlebt haben und sich erst in den darauffolgenden Tagen bewusst werden, wie sehr sie dieser belastet. Oft geht es zunächst darum, dass der Täter damit konfrontiert wird, wie schwerwiegend sein Verhalten war. Häufig gibt es erstmal einen Chat-Verkehr.
Wie im Fall Aziz Ansaris – dort berichtet die Betroffene auch von einer längeren Nachricht, die sie dem Moderator im Anschluss schickte.
Wenn dann die Reaktion so negierend oder abwertend ist, dass die betroffene Person befürchtet, der Täter werde sein Verhalten nicht ändern, dann entschließen sich manche zu einer Strafanzeige. Auch um ihr Recht zu bekommen, wobei es natürlich die große Frage ist, ob Gerechtigkeit im Strafprozess zu bekommen ist. Die Situation einer Zeugin in einem Verfahren wegen Vergewaltigung ist schlimm.
Inwiefern leiden die Betroffenen unter dem Verfahren?
Um nur einiges zu sagen: Opfer von Sexualstraftaten müssen im Strafverfahren sehr viele Aussagen über sich ergehen lassen, werden über intimste Details ihres Lebens befragt, werden zum Teil beschimpft und erneut erniedrigt. Und wie das Verfahren ausgeht, ist unklar.
Die Frauenrechtsorganisation «Terre des Femmes» gibt an, dass der Anteil von Falschanschuldigungen bei etwa drei Prozent liegt. Wie lässt sich die Wahrnehmung ändern, dass darin eine große Gefahr liege?
Es muss klar werden und nicht mehr bagatellisiert werden, dass sexualisierte Gewalt tatsächlich und häufig vorkommt – es ist keine Erfindung der Frauen, die den Männern übel mitspielen möchten. Wenn deutlich wird, dass fast jede Frau irgendwann mal einen sexuellen Übergriff erlebt hat, ändert sich das Denken. Dafür ist #MeToo gut, wenn ich auch die Skandalisierungen für bedenklich halte.
Schaffen diese Skandalisierungen nicht erst eine öffentliche Debatte über sexualisierte Gewalt?
Schon. Aber gleichzeitig muss gesagt werden, dass solche Übergriffe täglich und andauernd vorkommen und in allen gesellschaftlichen Schichten. Wir wären einen großen Schritt weiter, wenn sich auch Täter in die Debatte einmischen würden, dann gerne anonym. Wenn sie ihr sexuell übergriffiges Verhalten thematisierten oder das von anderen, das sie miterlebt haben und auch für einen Änderungsprozess eintreten würden. Und sexualisierte Gewalt muss als gesamtgesellschaftliches Problem erkannt werden, vor allem auch als Instrument der Macht.
Kritiker von #MeToo befürchten, dass Gerichte über immer mehr intime Details einer Sexualbeziehung entscheiden. Geht bei der juristischen Perspektive auf Sexualität die Intimität verloren?
Das Private ist schon immer politisch. Es geht hier nicht um Sex, es geht nicht um Flirts. Es geht um Gewalt und Macht. Der Spruch «Zuhause ist der gefährlichste Ort für eine Frau» trifft leider zu: Studien zeigen, dass ein Großteil der sexuellen Übergriffe oder physischer Gewalt in Paarbeziehungen oder der Familie und im nächsten Bekanntenkreis stattfinden. Dabei wird Gewalt gegen die Partnerin meist bagatellisiert und geringer bestraft wird als gegen eine fremde Person. Völlig unverständlich!
Warum?
Die Traumatisierung ist meist größer, wenn die Gewalt im geschützten Bereich stattfindet. Ich hoffe sehr, dass sich hier das Denken verändert und denke, dies kann unter anderem mit der Istanbul-Konvention durchgesetzt werden. Denn ab dem 1. Februar 2018 können sich Betroffene vor Gericht auf die europäischen Vereinbarungen zum Schutz vor Gewalt berufen.
Wird das nicht die Befürchtung stärken, dass bald nur noch Gerichte über Flirts entscheiden und die Erotik verloren geht?
Nein. Bei den Kämpfen von #MeToo geht es gerade darum, sexuelle Freiheit zu ermöglichen! Es geht darum, dass nicht mehr die sexuellen Interessen von Männern gegen die der Frauen, von Mächtigen gegen Abhängige durchgesetzt werden. Gut ist, wenn Personen, welchen Geschlechts auch immer, miteinander freie selbstbestimmte Sexualität leben können. Gut wäre, wenn wir irgendwann das Sexualstrafrecht nicht mehr bräuchten.