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Zürich Pride: Rede von Franziska Schutzbach

Die Geschlechterforscherin und Soziologin Franziska Schutzbach erklärte in ihrer Rede an der diesjährigen Zürich Pride am 16. Juni 2018, warum sie für die ‚Homosexualisierung‘ der Gesellschaft ist, warum es nicht ‚totalitär‘ ist, Chancengleichheit herzustellen und was neoliberale Differenz-Konzepte mit Sozialdarwinismus und völkischem Denken zu tun haben. (Red.)

von Franziska Schutzbach

Liebe Menschen,

ich fühle mich geehrt, dass ich heute hier sprechen darf. Und dass Ihr mir zuhört. Es ist nicht selbstverständlich, eine Stimme zu haben, sie erheben zu können und gehört zu werden. Gerade die Stimmen von Frauen*, insbesondere von lesbischen oder Frauen of Color wurden historisch immer wieder ausgelöscht. Marginalisiert.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer ist, dass sie eine tiefschürfende Herausforderung für bestehende Verhältnisse sind. Ja, sie sind explosiv, weil sie Veränderung bedeuten. Würden diese Stimmen weitläufig gehört und akzeptiert, wäre die Gesellschaft eine grundlegend andere. Sie werden also nicht marginalisiert, weil sie schwach sind, sondern weil sie so stark sind. Weil sie ein grosses Sprengpotential haben.

Wir müssen uns klar sein: Sollten lesbische, schwule und queere, transgeschlechtliche, non-binäre usw. Lebensweisen dereinst wirklich als gleichwertig gelten, wenn es also kein Stigma mehr gibt, werden noch viel mehr Menschen als jetzt ihre queeren Seiten entdecken. Noch viel mehr Menschen als jetzt werden dann den Mut haben, verschiedene Sexualitäten auszuprobieren, zuzulassen. Die Gesellschaft wird ‚homosexualisiert’, genau! Das konservative Schreckgespenst, nämlich die Homosexualisierung, trifft zu: Selbstverständlichwerden mehr Menschen ihre queere Seite entdecken, wenn all das total erlaubt und normal ist! Die heterosexuelle Norm bleibt im Falle einer tatsächlichen Gleichberechtigung und Ent-Stigmatisierung von Queerness nicht einfach bestehen. Sie erodiert. Sie verliert den Status der Norm.

Meine Lieblingsthese in Bezug auf den aktuellen reaktionären Backlash ist, an guten Tagen, dass er unter anderem eine Reaktion auf progressive Entwicklungen ist: Weil minorisierte Menschen lauter geworden sind, sich zeigen, mitreden, Dinge fordern, gibt es so heftige Reaktionen. Der Ruf nach Re-Traditionalisierung, der Antifeminismus, die aufkeimenden rassistischen sowie LGBTIQ-feindlichen Ressentiments und Attacken, die Forderung nach starken nationalen Grenzen oder das Beharren auf Leitkultur sind ein Zeichen dafür, dass alte Gewissheiten tatsächlich ins Wanken geraten sind.

Das ‚weisse Hetero-Patriarchat‘ liegt in den letzten Zügen. Das ist nicht ungefährlich. Mit dem Heteropatriarchat ist es wie mit einem angeschossenen Tier: Es ist im angekratzten Zustand besonders gefährlich. Wie das alles ausgeht ist, angesichts des Erfolges autokratischer Politikstile nicht ausgemacht. Eine Strategie dieser Politikstile ist es, die Forderungen von Minorisierten lächerlich zu machen oder als antidemokratisch und autoritär zu brandmarken. Behauptet wird, Dinge seien nicht mehr sagbar, freie Meinung würde verhindert – nur, um im gleichen Atemzug genau diese Dinge zu sagen. Frauenfeindlichkeit, rassistische, homo- oder transfeindliche Aussagen – sie sind keine Tabus, sondern täglich zu hören, zu lesen, zu spüren.

Gefahr droht nicht von Transgender-Toiletten

Es wird so getan, als wäre es der Untergang des Abendlandes, eine Gefahr für die Freiheit, wenn es transgender-Toiletten gibt oder eine gendergerechte Sprache. Verzerrt wird damit, dass solche Neuerungen zwar die Gesellschaft verändern, dass aber die Gefahr, also das Potential für ‚Untergang‘ und Freiheitsbeschneidung aus einer anderen Ecke kommt. Nicht vom „Sternchen-i“ (ein AfD-Politiker warnte jüngst vor dem „Sternchen-i“ (sic!)), nicht von einer Handvoll Feministinnen. Die Gefahr kommt vielmehr von kulturellen (und biologischen) Reinheitsphantasmen und Leitkulturideologien, von der Vorstellung, Heterosexualität sei die einzige Gott gewollte Lebensweise. Gefahr droht von Akteuren, die Sexualkunde-Unterricht verhindern wollen und nicht nur verhindern, dass Kinder einen offenen und selbstbewussten Umgang mit Sexualität lernen, sondern Kindern damit auch wichtige Informationen vorenthalten – zum Beispiel, wie sie sich vor Gewalt schützen.

Gefahren drohen von jenen, die nationale Grenzen dicht machen und Flüchtlingskonventionen ausser Kraft setzen, die soziale Absicherungen und Wohlfahrtsstaatlichkeit abschaffen und torpedieren, von jenen, die Gleichstellungsbüros oder Menschenrechtskonventionen abschaffen wollen, die demokratische Institutionen angreifen und unterwandern, Universitäten kaputt sparen und kritische Wissenschaften verhindern. Nicht zuletzt von Leuten, die Kunstförderung und alles wegsparen, was jenseits reiner Nutzenkalkulationen steht.

Eine freie und demokratische Gesellschaft ist unter anderem darüber definiert, dass sie in Dinge investiert, die nicht an Zweck und Nutzen ausgerichtet sind, in Dinge, die eine freie Entfaltung von Denken und künstlerischem Schaffen ermöglichen. Eine freie Gesellschaft ist darüber definiert, dass sie nicht bloss auf Technokratie und Marktlogik, sondern auch auf Experimentierfreudigkeit und auf Fehlertoleranz beruht. Eine Gesellschaft, in der die Poesie abgeschafft wird, ist in Gefahr.

Es ist nicht totalitär, Chancengleichheit herzustellen

Unsere Verfassung sieht vor, die Gleichstellung von minorisierten Menschen nicht nur auf dem Papier festzuhalten, sondern auch umzusetzen, das heisst Ressourcen dafür bereitzustellen. Die Demokratie hat sich dazu verpflichtet, nicht nur Rechte auf dem Papier zu formulieren, sondern Chancengleichheit herzustellen. Das ist nicht totalitär, vielmehr ist es ur-demokratisch dafür zu sorgen, dass Menschen ihre Rechte auch nutzen können.

Die anti-etatistische Propaganda hat die vollkommen verquere Meinung salonfähig gemacht, demokratische Grundgedanken und eine inklusive Gesellschaft seien totalitär. Die Folge dieser epistemischen Offensive ist, dass Ideen der Gleichheit und Gerechtigkeit – auch wenn sie noch so bescheiden sind – zunehmend als ungehörige Eingriffe in die Natur, in den Markt, in die Vorlieben des so genannten „Volkes“ oder in den Plan Gottes empfunden werden. Veränderung wird mit Gefahr, mit Diktatur und Verbot gleichgesetzt. Angst geschürt wir vor den angeblich zu hohen Risiken sozialer und politischer Veränderung. Dieser Argwohn gegenüber den Möglichkeiten menschlichen Handelns oder Eingreifens schafft letztlich die Voraussetzung, um asymmetrische Herrschafts-Ordnungen zu stabilisieren und legitimieren.

Die Rhetorik der Denkverbote, der Tabus und politischen Korrektheit ist dabei zentral. Sie legt nahe, dass es eine ‚Befreiung’ brauche, ein ‚Schweigen, das gebrochen’, ein ‚Denken, das befreit’, ‚Verbote, die aufgehoben werden’ müssten. Das Feindbild der Political Correctness ist ein Einfallstor, mi dem bestimmte Kräfte sich als Befreier stilisieren und dabei Ressentiments und Vorurteile sagbar machen. Unter dem Motto ‚Kampf der politischen Korrektheit’ ist sagbar geworden, dass Minderheitenschutz überflüssig, dass Ungleichheit legitim sei.

Was wir dem reaktionären Backlash entgegensetzen können

Aber ich wollte ja ermutigen. Wichtig scheint mir: Machen wir weiter, weiter, weiter. Lassen wir uns unsere Visionen nicht wegnehmen. Es geht nicht darum, alles richtig zu machen. Wir können auf der falschen, aber nie sicher auf der richtigen Seite stehen. Es gibt nicht die eine Gesamtlösung, die richtige Revolution oder Strategie. Dennoch gibt es vieles, was wir dem reaktionären Backlash entgegensetzen können. Zum Beispiel können wir aufzeigen, dass es Alternativen gibt – nicht perfekte. Aber es gibt welche. Wir sollten sie noch mehr in Umlauf bringen. Nicht, um diejenigen zu überzeugen, die bereits von Ressentiments getrieben sind und in Abwehr stehen. Vermutlich ist das vergebliche Liebesmüh. Vielmehr geht es darum, für diejenigen sichtbar und hörbar zu sein, die offen, noch unentschlossen sind, die sich gerade erst politisieren. Sie müssen sehen, hören und spüren, dass es andere Möglichkeiten gibt als auf den Zug der Menschenfeindlichkeit aufzuspringen.

Die italienischen Diotima-Philosophinnen plädieren dafür, nicht nur den Standpunkt der Unterdrückung stark zu machen, sondern auch den Standpunkt der Freiheit zu betonen, das heisst von der Frage auszugehen: Selbst wenn vieles zu unseren Ungunsten läuft – wo ist der Punkt, an dem wir Freiheit leben und umsetzen? Wenn wir darauf achten, was das Anders-Sein, was also Minorisierung auch an Möglichkeiten bietet, tut sich neben Leid und Verletzung auch ein Horizont auf. Wer anders ist als das, was als Massstab für Normalität gesetzt wurde, hat die Möglichkeit, mehr zu wissen und die Welt anders wahrzunehmen.

Wir sollten zeigen, dass eine andere Welt ein Stück weit längst da ist und ein Reichtum an alternativen Existenzweisen bereits besteht. Wir sollten diesen Reichtum zeigen und multiplizieren, ihn in Umlauf bringen. Benachteiligung glaubhaft zu vermitteln zwingt einen oft, vor allem Diskriminierungen aufzuspüren und über die positiven Seiten einer Situation zu schweigen. Verloren geht der Blick auf die Alternativen, die längst da sind.

Die feministische Forschung hat gezeigt: Frauen kommen zwar nicht in den offiziellen Geschichtsbüchern vor, aber das heisst nicht, dass sie nichts beigetragen, nichts getan hätten. Frauen haben einen Beitrag zur Geschichte geleistet. Vielleicht waren sie dabei nicht in den so genannten Zentren der Macht. Aber es gibt ein Anderswo der Geschichte, ein reichhaltiges Anderswo des Politischen und der Existenz – das gilt es, in Umlauf zu bringen und es den Feinden der offenen Gesellschaft entgegenzusetzen.

Wider die Vulgärpluralisierung

Es geht mir nicht um das unkritische Abfeiern von Differenz und Pluralismus. Wir sind alle immer verstrickt in Machtverhältnisse, mal auf der Seite der Diskriminierten, mal auf der Seite der Privilegierten. Das Betonen von Unterschiedlichkeit kann nichts Starres sein. Wir können nicht die gleichen Fehler machen wie die Normen, die wir bekämpfen. Die Position der Andersheit muss durchlässig bleiben, immer im Prozess der Veränderung. Es ist wichtig, eine Idee von Differenz zu entwickeln, die nicht auf einer starren Identität beruht. Sondern eine, die die eigene Positionierung immer wieder abgleicht und hinterfragt. Die Ambiguitäten nicht auslöscht.

Auch muss uns klar sein: Diversity ist zu einem neoliberalen Modewort geworden. Differenz lässt sich zu Zwecken der Wirtschaft anwenden und vermarkten. Widerständige Positionen werden heute locker vom Markt abgeschöpft und integriert. Klar, lasst uns heute feiern – ich liebe feiern! – und nicht alles was Markt ist oder im Mainstream ankommt, ist schlecht. Gleichwohl denke ich, dass wir unsere Vorstellungen von Vielfalt gegen die Vereinnahmung durch eine neoliberale Vulgärdiversity verteidigen müssen.

Wir sollten einer oberflächlichen Pluralisierung entgegenhalten, die letztlich vertuscht, dass Menschen derzeit in Europa und weltweit mit dem Abbau von Sozialsystemen massenweise sich selbst überlassen werden. Wir können nicht ja sagen zu einer Diversity, von der nur bestimmte Menschen profitieren, nämlich jene, die ohnehin privilegiert sind. Wir können nicht zulassen, dass die Prämisse der Vielfalt missbraucht wird, um die Prekarisierung am Arbeitsmarkt, die Entsicherung von Menschen zu tarnen.

Das Betonen von Unterschiedlichkeit und Pluralismus kann nicht darüber hinweg täuschen, dass wir es mit einem Marktliberalismus zu tun haben, der sich Homosexualität oder Feminismus als Markenbotschaft problemlos einverleiben kann, und Menschen gleichzeitig in der Armut versinken lässt. „Be different“ wurde als neoliberaler Slogan annektiert. Er lautet: Sei anders, individuell – aber Armut und Chancenungleichheit, das musst du schon selber hinkriegen. Sei ein flexibler Mensch, mit multiplen Identitäten! Immer schön geschmeidig und immer schön fluid – ungeachtet dessen, dass kaum je ein Arbeiterkind Schichtgrenzen wirklich durchquert und zum Beispiel Professorin wird.

Neoliberale Konzepte der Differenz sind sozialdarwinistisch

Die marktliberale Diversity-Logik lautet: Sei flexibel und geschmeidig, die harten Grenzen und gläsernen Decken, die sollst du mit einem Glitzer-T-Shirt überwinden. Das glitzernde Erfolgssubjekt schafft alles allein (beziehungsweise mit der Erbschaft vom Papi, wenn wir ehrlich sind). Der Markt säuselt uns ins Ohr: Du kannst alles schaffen. Alles!!! Der Punkt ist: Wenn es nicht klappt, bist du selber schuld.

Neoliberale Konzepte der Differenz sind sozialdarwinistisch. Das Dogma der konkurrenzgebundenen Freiheit der Märkte ist: Nur einige packen es, die Gewinner*innen eben, meistens diejenigen, die ohnehin gute Voraussetzungen haben. In einer Konkurrenzbasierten Differenzgesellschaft gibt es Gewinner und Verlierer – und dieser Umstand wird als Naturgesetz idealisiert. Der Markt will nicht wirklich für Diversität aufkommen, er will die Voraussetzungen, unter denen Menschen different sein können, nicht gerecht verteilen. Aufrecht erhalten wird das Märchen, man könnte alles allein mit Fleiss schaffen, Erfolg wird als individuelle Leistung idealisiert, um behaupten zu können: Es braucht keine soziale Absicherung, es braucht keine Investition in Chancengerechtigkeit, in kollektive Gesundheitsversorgung, Care oder Kinderbetreuung. Der Mensch wird zum Übermenschen stilisiert, der nichts braucht und alles allein schafft.

Neoliberale Diversity ist kompatibel mit einer völkischen Vorstellung von Differenz

Kurzum: die neoliberal überformte Diversity soll individualisierte Superheld*innen erzeugen und letztlich das Spreu vom Weizen trennen. Das kapitalistische Pluralismus-Märchen produziert eine zutiefst hierarchische Differenzierung, in der manche Subjekte es schaffen, sich von anderen abzuheben. Letztlich ist das neoliberale Subjekt des Erfolgs auch mit rechtspopulistischen Ideen von Differenz kompatibel (siehe Jule Govrin und Andreas Gerlach): Neoliberale Diversity ist kompatibel mit einer völkischen Vorstellung von Differenz, die eine hierarchische Anordnung, eine natürliche Ordnung der Ungleichheit nahe legt. Eine Vorstellung, der zufolge manche sich durchsetzen, in der manche ein angeblich natürliches Vorrecht auf Dominanz und Herrschaft haben. In der es Unter- und Übermenschen gibt.

Das sollten wir vor Augen haben, wenn wir Differenz feiern. Wir müssen uns den Differenzbegriff und unsere Ideen von Pluralismus immer wieder neu erarbeiten. Wir sollten ihn verteidigen gegen neoliberale und reaktionäre Vereinnahmungen, die Diversity missbrauchen, um eine hierarchische Abstufung von Menschen zum Programm zu machen.

Bringen wir also das Anders-Sein in Umlauf. Eines, das wirklich inkludierend ist.

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