Hunderttausende Frauen* und solidarische Männer haben auch diesen 8. März am feministischen Streik anlässlich des Frauenkampftags im Spanischen Staat teilgenommen. In vielen Städten waren die Frauen* seit dem frühen Morgen auf den Strassen und Plätzen präsent und haben den Tag zu einem eindrucksvollen Zeichen ihres Kampfes für die Gleichberechtigung, gegen männliche Gewalt, gegen Feminizide und gegen Rassismus gemacht. Wir haben mit der Aktivistin Vicky über die Ereignisse des Tages und deren Bedeutung gesprochen. (Red.)
mit Vicky gesprochen hat Milo Caplero
Vicky, was hat dich persönlich am diesjährigen feministischen Streik im Spanischen Staat besonders beeindruckt?
Während des Streiks haben mich viele Sachen beeindruckt. So wurden zum Beispiel während des Streiks Treffpunkte geschaffen, wo kollektiv Sorgearbeit geleistet wurde. Dort wurden neue Formen des Zusammenlebens praktiziert. Es war sehr eindrücklich Menschen zu sehen, die in Parks oder Gärten sitzen und sich kennenlernen. Denn Madrid gleicht in der Regel einem Dschungel; die Leute sind ständig gestresst. Madrid ist eine kapitalistische Stadt. Deshalb war es sehr eindrücklich, diese festliche Stimmung zu beobachten – zu sehen, wie die Leute auf der Strasse sassen, Essen von selbstverwalteten Kollektiven assen und eine neue Form des Konsumierens erprobten.
In Bezug auf die Demonstration bin ich immer wieder aufs Neue überrascht, wie verschiedene Generationen gemeinsam auf die Strasse gehen. Die Diversität der Menschen, die an der Demonstration teilnahmen, beeindruckt mich immer sehr.
Eine letzte Sache, die ich nennen möchte: An der Demonstration gab es viele Schilder, auf denen sich die Menschen bei den Feministinnen bedankt haben. Das hat mich sehr berührt. Auch wenn Spanien weiterhin ein sehr machistisches Land ist und sich auf der gesetzlichen Ebene noch nichts verändert hat, konnte man dennoch sehen, dass eine Bewusstseinsveränderung stattgefunden hat. Die Frauen haben das bemerkt und sich dafür bedankt.
An der Demonstration gab es viele Schilder, auf denen sich die Frauen bei den Feministinnen bedankt haben.
Ihr habt das Ziel verfolgt, einen allgemeinen Streik zu organisieren. Inwiefern unterscheidet sich diese Streikform von einem klassischen Arbeitsstreik?
Wir sagen, dass der feministische Streik ein allgemeiner Streik ist, weil er alle Bereiche des Lebens betrifft. Das ist der Unterschied zu einem klassischen Streik. Der klassische Streik ist ein Werkzeug, um die Stärke der Lohnarbeitenden zu zeigen. Die Arbeit wird in der produktiven Sphäre niedergelegt. Der feministische Streik hingegen ist ein Streik in vier Bereichen: Lohnarbeit, Sorgearbeit, Konsum, Bildung. Am wichtigsten ist aber der Bereich der Sorgearbeit. Der Streikt richtet sich somit auf die Reproduktion des Lebens. Es ist also eigentlich ein echter Generalstreik, weil alles stillsteht.
Was war der Einfluss des feministischen Streiks auf die Gewerkschaftsbewegung?
Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass der feministische Streik – so unglaublich es klingen mag – nicht von der Gewerkschaftsbewegung organisiert wurde. Um das zu verstehen, müssen wir in die Vergangenheit blicken. Im Spanischen Staat gibt es die zwei grossen Gewerkschaften UGT und Comisiones Obreras sowie kleinere Gewerkschaften, die in einzelnen Sektoren oder Regionen aktiv sind. Die Glaubwürdigkeit dieser Gewerkschaften hat im Zuge der Krise von 2008 enorm gelitten. Als Reaktion auf die Krise verabschiedete nämlich die Regierung 2011 eine neoliberale Arbeitsmarktreform, die von den Gewerkschaften unterstützt wurde. Die Gewerkschaften sind deshalb mitverantwortlich für Prekarisierung und Arbeitslosigkeit.
Das hatte zwei Auswirkungen: Einerseits schwand die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften, andererseits führte die Prekarisierung dazu, dass ein Grossteil der Menschen zunehmend in Bereichen arbeitet, in denen die gewerkschaftliche Organisierung sehr schwach ist. Als Folge dessen repräsentieren die grossen Gewerkschaften fast niemanden mehr. Die kleinen Gewerkschaften haben zwar Sympathien bei der Bevölkerung, aber die Menschen haben keine stabile Anstellung, um Mitglieder dieser Gewerkschaften zu werden.
Nachdem wir den feministischen Streik in Argentinien gesehen haben, versuchten wir 2018 einen 24-stündigen Streik zu organisieren. Deshalb haben wir die Gewerkschaften kontaktiert. Denn wir wussten, dass sie zum Streik aufrufen müssen, damit die Streikenden arbeitsrechtlich abgesichert sind.
Die kleinen Gewerkschaften, die klassenkämpferischer eingestellt sind, haben daraufhin zum Streik aufgerufen. Die Grossen hingegen haben es nicht gemacht. Durch die grossen Mobilisierungen konnten wir jedoch Druck aufbauen und schlussendlich haben sie dann für einen zweistündigen Streik aufgerufen. Ihre Argumente und Forderungen waren allerdings sehr beschränkt. Sie kritisierten die gläserne Decke, die Lohnungleichheit etc., aber unsere grosse Bandbreite an Forderungen haben sie nicht aufgegriffen.
Nach dem riesigen Erfolg des Streiks von 2018 war die Situation in diesem Jahr anders. Auch die Gewerkschaften riefen zu einem 24-stündigen Streik auf, wenn auch nur im öffentlichen Sektor. Es gab somit einen Fortschritt, aber wir haben immer noch Konflikte mit den grossen Gewerkschaften.
Dahinter steht auch eine andere Analyse als die der Gewerkschaften. Für uns ist wichtig, dass der feministische Streik eine Aktion ohne Partei- oder Gewerkschaftszugehörigkeit ist. Die Gewerkschaften hingegen versuchen, diesen Streik zu vereinnahmen.
Hat der feministische Streik auch zur Entstehung von neuen Arbeitskämpfen beigetragen?
Der feministische Streik hat weniger zu neuen Arbeitskämpfen geführt, als vielmehr zu einer grösseren Sichtbarkeit derjenigen Kämpfe, die schon seit längerer Zeit stattfinden.
Was wir auch beobachten können, sind neue Organisationsformen. So zum Beispiel bei den Hausangestellten. Diese arbeiten in einem Anstellungsverhältnis, das die traditionelle gewerkschaftliche Organisierung erschwert.
Ein weiteres Beispiel sind die Putzkräfte, welche für Hotels arbeiten. Diese Frauen bekommen einen äusserst geringen Lohn: Wenn ich mich richtig erinnere bekommen sie 2 Euro pro gereinigtes Hotelzimmer. Du musst also 4-5 Zimmer pro Stunde reinigen, um einen Lohn von 8-10 Euro zu erhalten. Man stelle sich das einmal vor. Diese Frauen arbeiten über Leiharbeitsfirmen, weshalb die Anstellungsbedingungen besonders prekär und die gewerkschaftliche Organisierung besonders schwierig ist. Wir sehen, dass nun die Gewerkschaften versuchen, neue Wege zu finden, diese Frauen zu organisieren.
Bei euren Aktionsformen bietet es sich auch an, Verbindungen zu ökologischen Forderungen herzustellen. Wie habt ihr das konkret gemacht?
Zuerst möchte ich festhalten, dass es nicht auf der einen Seite Umweltaktivist*innen gibt und auf der anderen Seite Feminist*innen. Die Frauen, die am feministischen Streik teilnehmen, sind sowohl Umweltschützerinnen als auch Studentinnen, Feministinnen und so weiter. Im Streikkomitee in Madrid arbeiten Umweltaktivistinnen von der Gruppe «Ecologistas en Acción» sowie auch Ökofeministinnen mit. Das verdeutlicht die Vielfalt von Stimmen innerhalb des feministischen Streiks.
Diese Umweltaktivistinnen haben sehr viele Werkzeuge und Analysen mitgebracht. Ausserdem haben wir enge Beziehungen zu Gruppen, die alternative Konsumformen vorschlagen. Wir haben somit nicht nur eine nicht-nachhaltige Wirtschaftsform kritisiert, sondern auch Alternativen vorgeschlagen.
Im Zentrum eurer Analyse steht der Widerspruch zwischen Kapital und Leben. Kannst du das erklären?
Verschiedene Feministinnen haben über diesen Widerspruch geschrieben. Damit ist gemeint, dass der Kapitalismus schon immer viele Menschen ausgeschlossen und ausgebeutet hat. Wir sind jetzt aber an einen Punkt angelangt, wo der Kapitalismus, metaphorisch gesprochen, einen Genozid verübt.
Der Widerspruch zwischen Kapital und Leben beschreibt damit einerseits die ökologische Zerstörung, andererseits aber auch die Tatsache, dass der Kapitalismus uns und unsere Gesundheit zerstört. Der Widerspruch äussert sich somit auf verschiedenen Ebenen: Auf der individuellen, wo unsere Körper und Gesundheit zerstört werden, wie auf der globalen Ebene, wo die Natur zerstört wird.
Im deutschsprachigen Raum gibt es viele Diskussionen über den etwas abstrakten Gegensatz von «Identitätspolitik» und «Klassenpolitik». Wie geht ihr damit um? Wie verbindet ihr diese zentralen Fragen der Anerkennung mit einer sozialen und ökonomischen Analyse?
Die Antwort liegt wiederum beim Widerspruch zwischen Kapital und Leben. Selbstverständlich gibt es im feministischen Streik sogenannte «Identitätspolitik». Es geht sehr viel um das Recht, so zu sein, wie jede sein möchte. Denn die Heteronormativität tötet, das darf nie vergessen werden. Man denke nur an die tiefe Lebenserwartung von Transmenschen.
Bei dieser Politik der Anerkennung geht es darum, denen eine Stimme zu geben, die immer zum Schweigen gebracht wurden.
Aber es geht nicht nur darum, den Schaden aufzuzeigen, der durch diese Normen den Menschen zugefügt wird. Es geht auch um die Wurzeln des Problems. Und da ist eine sozio-ökonomische Analyse unumgänglich. Es geht eben nicht nur darum, lieben zu können, wen wir lieben möchten, sondern auch darum zu zeigen, dass dieses System nicht möchte, dass eine Frau eine Frau liebt. Das System möchte, dass wir eine Familie gründen, Kinder haben und so weiter.
Der Kapitalismus spielt mit Fragen der Anerkennung, um uns zu spalten. Er gibt zum Beispiel homosexuellen Männern einige Privilegien, aber dies auf Kosten einer Unterdrückung von anderen Menschen. Wenn beispielsweise schwule Paare das Recht besitzen Kinder zu haben, kann dies auf Kosten von Frauen sein, die als Leihmütter ausgebeutet werden. Auch wenn die Frage der Identitäten wichtig ist, können wir es nicht dabei belassen. Natürlich liegt in der Anerkennung der Diversität ein Grundstein für eine erfolgreiche Organisierung, aber dieser Kampf kann nicht ohne sozio-ökonomische Analyse geführt werden.
Wie siehst du die aktuelle politische Situation im Spanischen Staat? Was denkst du von der Diskrepanz zwischen einer äusserst starken feministischen Bewegung und einer Rechtsentwicklung, die sich beispielsweise durch den Wahlerfolg der rechtsextremen Partei Vox in Andalusien äussert?
Die Rechtsentwicklung ist Ausdruck einer konservativen Gesellschaft. Die rechten Parteien geben vor, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen. Mit einer Wirtschaftskrise, wie sie in Spanien stattgefunden hat, und dem Elend, das dadurch entstanden ist, kann ein migrationsfeindlicher Diskurs die Menschen ansprechen.
Ausserdem ist die Linke in einer sehr schwierigen Lage. Die Sozialistische Partei hat an Glaubwürdigkeit verloren, weil sie dieselbe Austeritätspolitik gemacht hat wie die Rechte. Auch Podemos konnte ihre Position nicht konsolidieren. Podemos ist es nicht einmal gelungen, die Angriffe gegen die Lohnabhängigen abzubremsen.
Es braucht eine riesige Allianz unterschiedlicher Bewegungen, die gegen diese politische Entwicklung kämpfen.
Auf der sozialen Ebene gibt es also diese starke feministische Bewegung. Auf der politischen Ebene hingegen fehlen glaubwürdige Alternativen. Und genau diesen Schwachpunkt nutzt die extreme Rechte.
Wir stehen vor einem Wahlzyklus. Sowohl Europawahlen als auch regionale und nationale Wahlen werden in diesem Jahr durchgeführt. Was aber in Andalusien mit dem Wahlerfolg von Vox geschehen ist, ist sehr speziell. Durch die Wahlen in Andalusien gelangte die faschistische Rechte in die staatlichen Institutionen. Andalusien wurde während 40 Jahren von der PSOE regiert – eine Partei, die nicht auf die Bedürfnisse der Menschen einer der ärmsten Regionen Spaniens einging. Cádiz ist eine der ärmsten Städten Europas mit einem der höchsten Arbeitslosenquoten. Wir erleben in Andalusien eine vergleichbare Situation wie in den 1960er Jahren in ganz Spanien, als ganz viele Menschen das Land verlassen mussten.
Dieses Problem stellt sich aber auch auf der internationalen Ebene. Was in Spanien geschieht, ist nicht anders als das, was in Brasilien mit Bolsonaro oder auch in europäischen Ländern wie Italien geschieht. Auch auf der internationalen Ebene haben wir eine Rechtsentwicklung, die meiner Ansicht nach Ausdruck der Unfähigkeit der Linken ist, Alternativen zu bieten.
Einige Leute meinen, der Feminismus müsse die Verantwortung für eine antikapitalistische Bewegung übernehmen. Das schmeichelt uns natürlich. Aber es gibt auch Genossinnen, die sagen, dass die Verantwortung nicht nur bei uns liegt. Es braucht eine riesige Allianz unterschiedlicher Bewegungen, die gegen diese politische Entwicklung kämpfen.