Weshalb verrichten Frauen einen Grossteil der Hausarbeit und arbeiten hauptsächlich in sozialen Berufen? Die Theorie der Sozialen Reproduktion gibt auf diese Frage eine Antwort, indem sie die Zusammenhänge zwischen der Reproduktion der Arbeitskräfte und der Produktion von Waren erklärt. (Red.)
von Ronda Kipka; aus marx21.de
Wenn in den letzten Jahren in Deutschland gestreikt wurde, war es in den seltensten Fällen der klassische Fabrikarbeiter, der in den Ausstand trat. Im Gegenteil: Größere Streikbewegungen gab es vielmehr in den sogenannten Frauenberufen, wie den Sozial- und Erziehungsdiensten oder in der Krankenhauspflege. Galten diese Bereiche lange als »nicht streikfähig« und »schwer organisierbar«, so ist inzwischen der Fachbereich Gesundheit einer der wenigen Sektoren, in dem die Gewerkschaft ver.di Mitgliederzuwächse zu verzeichnen hat und neue, lebendige Streikbewegungen entstehen. Was ist passiert? Wieso sind es gerade diese »weiblichen« Berufe, in denen Arbeitskämpfe stattfinden, und wie sind diese einzuordnen? Welche gesellschaftliche Bedeutung hat es, wenn Erzieherinnen streiken? Und was hat das alles mit Frauenunterdrückung, unbezahlter Arbeit und sogenannter Care-Arbeit zu tun?
Die Theorie der Sozialen Reproduktion
Um diese Fragen geht es in der von der amerikanischen Marxistin Lise Vogel entwickelten Theorie der Sozialen Reproduktion (englisch: Social Reproduction Theory, SRT). Ausgehend von Marx’ »Kapital« untersucht Vogel, wie die Reproduktion der Ware Arbeitskraft im Kapitalismus vonstatten geht, welche Widersprüche sich hier auftun und was das für den Klassenkampf und den Kampf um die Befreiung der Frau bedeutet.
Das Hauptziel der SRT ist es, aufzuzeigen, dass im Kapitalismus ein grundlegender Zusammenhang zwischen der Reproduktion der Arbeitskräfte und der Produktion von Waren besteht. Schon für Marx war dieser Punkt zentral. In Das Kapital (Band I) schreibt er: »Sowenig eine Gesellschaft aufhören kann zu konsumieren, kann sie aufhören zu produzieren. In einem stetigen Zusammenhang und dem beständigen Fluß seiner Erneuerung betrachtet, ist jeder gesellschaftliche Produktionsprozeß daher zugleich Reproduktionsprozeß. Die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der Reproduktion.« Diesen Gedanken von Marx will die SRT vertiefen und darauf aufbauend untersuchen, wie die soziale Reproduktion sich im heutigen Kapitalismus darstellt und welche Widersprüche und Widerstandsperspektiven sich daraus ergeben.
Doch was bedeutet soziale Reproduktion? Zur sozialen Reproduktion zählen alle Arbeiten, die notwendig sind, um unsere Arbeitskraft (wieder)herzustellen. Die Reproduktion der menschlichen Arbeitskraft umfasst ein weites Feld: Herstellung, Zubereitung und Konsum von Lebensmitteln, das Aufziehen von Kindern, um eine neue Generation von Arbeitskräften hervorzubringen, aber auch die eigene Aus- und Weiterbildung. Die Theorie der Sozialen Reproduktion fragt nun: Unter welchen Bedingungen findet diese Reproduktion statt?
Mehr als Hausarbeit
Bei Betrachtung der oben genannten Tätigkeiten wird deutlich, dass auch in industriell hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften ein erheblicher Teil der Reproduktion nach wie vor im Privaten, also im Haushalt, stattfindet. Wir bereiten unsere Mahlzeiten zuhause zu, waschen unsere Wäsche und kümmern uns um Kinder und Angehörige. Aber reproduktive Tätigkeiten finden bei weitem nicht nur zuhause statt: Es gibt auch eine Vielzahl an vergesellschafteten Prozessen, Aktivitäten und Institutionen, die allesamt dafür Sorge tragen, dass die Arbeitskraft der Lohnabhängigen erhalten und die nächste Generation an Arbeitskräften »reproduziert« wird. Hierzu zählen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Universitäten, aber auch Krankenhäuser, Pflegeheime, Kantinen, Beratungsstellen, das ganze System der Sozialleistungen und viele andere Dienstleistungen.
Soziale Reproduktion kann in einer kapitalistischen Gesellschaft also unterschiedlich realisiert werden. In der Regel wird sie mit einem Mix aus unbezahlten Tätigkeiten innerhalb des Haushalts einerseits sowie staatlichen und privatwirtschaftlichen Dienstleistungen andererseits ausgeführt. Zugleich ist sie eng verwoben mit der kapitalistischen Produktion: Die Lebensmittel, die wir zuhause zubereiten, haben wir in der Regel nicht selbst produziert, sondern zuvor im Supermarkt gekauft.
Hier wird bereits deutlich, dass die Art und Weise, wie soziale Reproduktion im Kapitalismus vonstatten geht, einem stetigen Wandel unterliegt. Es gibt jedoch eine wichtige Konstante: den Widerspruch zwischen ökonomischer Profitmaximierung einerseits und Reproduktion der Arbeitskraft andererseits.
Das Dilemma der Reproduktion im Kapitalismus
Nach Marx ist die menschliche Arbeitskraft die Profitquelle für den Kapitalismus. Wenn es keine Arbeiterinnen und Arbeiter gibt, gibt es auch keinen Profit. Um zu überleben, brauchen die Lohnabhängigen Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, Bildung, Gesundheitsdienste und vieles mehr. Der Kapitalismus muss sich zu einem gewissen Grad dieser Bedürfnisse annehmen, denn wenn all diese Grundbedürfnisse nicht berücksichtigt werden, wird auch keine auszubeutende Arbeitskraft zur Verfügung stehen.
Doch diese Beziehung ist unter kapitalistischen Bedingungen widersprüchlich. Denn aus Sicht des Kapitals ist die Reproduktion der Arbeitskraft ein Kostenfaktor, der direkt oder indirekt zu Lasten der Mehrwertproduktion geht. Investitionen in ein gutes öffentliches Gesundheitswesen, in Sozialwohnungen, Schulen oder Kindergärten mindern unmittelbar den Gesamtprofit der Kapitalisten. Das bedeutet, dass die Herrschenden darauf angewiesen sind, Strategien zu entwickeln, die Reproduktion »ihrer« Arbeitskräfte möglichst günstig und effizient zu gewährleisten. Anders gesagt: Es wird versucht, den Wert der Ware Arbeitskraft gering zu halten, denn je weniger Arbeitszeit für die Reproduktion aufgewendet werden muss, desto mehr Zeit bleibt für Ausbeutung. Benötigt werden hoch kompetente, mobile Arbeitskräfte zu möglichst geringen Löhnen und Gehältern, ohne dass für deren Reproduktion und Bereitstellung zu hohe Kosten entstehen. Der Kapitalismus steht also vor einem ständigen Dilemma, weil er einerseits von der Lebenskraft der Arbeiterinnen und Arbeiter abhängt, aber andererseits nicht zu viel in diese investieren will. Die SRT analysiert diese zentrale und widersprüchliche Beziehung.
Hierbei wird deutlich, dass die soziale Reproduktion eingebettet ist in die Kapitalakkumulation und dass der kapitalistische Staat im Rahmen der Reproduktion eine zentrale Rolle spielt. Der Staat greift unmittelbar in den Prozess der Reproduktion der Arbeiterklasse ein – durch Finanzierung sozialstaatlicher Fürsorge, aber auch durch Gesetze, die die Reproduktionssphäre direkt betreffen, wie etwa die Frage des Schwangerschaftsabbruchs oder die Ehe-Gesetzgebung.
Soziale Reproduktion und Frauenunterdrückung
Wie die soziale Reproduktion organisiert wird, wandelt sich. Konstant ist im Kapitalismus jedoch die ständige Tendenz, die Reproduktionsarbeit abzuwerten, um den Wert der Arbeitskraft zu senken und die Mehrwertrate zu steigern. Und es gibt noch eine weitere Konstante: Es sind Frauen, die den Großteil der reproduktiven Arbeit leisten – ob bezahlt oder unbezahlt, ob privat im Haushalt und der Familie oder in staatlichen oder privatwirtschaftlichen Institutionen wie Krankenhäusern, Kindertagesstätten oder Pflegeheimen. So leisten Frauen in Deutschland laut einem Gutachten des Familienministeriums aus dem Jahr 2017 täglich 52 Prozent mehr unbezahlte Arbeit für Kinder, Haushalt, Pflege und Ehrenamt als Männer. Gleiches gilt für die reproduktiven Arbeiten in Form von Lohnarbeit, bei denen es sich häufig zudem um prekäre Arbeitsverhältnisse handelt. So lag im Jahr 2010 der Frauenanteil bei Krankenpflegerinnen und Hebammen bei 86,2 Prozent, bei den Erzieherinnen sogar bei 95,8 Prozent. Ähnlich verhält es sich bei den Reinigungskräften mit einem Frauenanteil von 87,5 Prozent sowie in der sozialen Arbeit mit 80,2 Prozent.
Aber warum fallen diese reproduktiven Tätigkeiten meist Frauen zu? Wäschewaschen, Kinder erziehen und Kranke pflegen, das können schließlich auch Männer. Tatsächlich ist diese Arbeitsteilung nicht naturgegeben und es gibt keinen objektiven Grund, warum gerade Frauen die Hauptlast der Reproduktionsarbeit tragen müssten. Erst mit der Entstehung von Klassengesellschaften führte der Umstand, dass einige produktive Arbeitsbereiche sowie die Jagd und Kriegsführung männlich dominiert waren, zur Verdrängung von Frauen aus bestimmenden gesellschaftlichen Positionen. Mit Herausbildung der Kernfamilie als vorherrschender Lebensform setzte sich diese Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern fest, wobei der Frau die Tätigkeiten in der Reproduktionssphäre zugeschrieben wurden. Diesen historischen Prozess, der seinen markantesten Ausdruck darin fand, dass die Erbschaftsfolge männlich definiert wurde, nannte Friedrich Engels die »weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts«.
Keine rein ideologische Frage
Im Prinzip sind die unterschiedlichen Rollen von Frauen und Männern in der Reproduktion der Arbeitskraft von begrenzter Dauer und spielen nur während der Monate der Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit eine Rolle. In Klassengesellschaften führt die biologisch beschränkte Periode der Schwangerschaft, in der die Frau das Kind austrägt und der Mann oder andere Personen für die Frau sorgen, jedoch tendenziell zur Bekräftigung der historisch tradierten Arbeitsteilung, die sich institutionalisiert und verfestigt. Zugleich erhalten »produktive« Arbeiten eine übergeordnete Stellung gegenüber Tätigkeiten, die kein Mehrprodukt schaffen, wie das Kinderkriegen oder das Pflegen von anderen Menschen. Auf dieser historisch gewachsenen Arbeitsteilung und der Abwertung der Reproduktionssphäre erwächst zudem ein gewaltiger ideologischer und politischer Überbau mit festgeschriebenen Rollen- und Geschlechterbildern.
Frauenunterdrückung ist also keine rein ideologische Frage, sondern fußt auf den realen, materiellen Bedingungen und Strukturen in der Gesellschaft, die wiederum dazu führen, dass Staat und herrschende Klasse Frauen eine gewisse Rolle und gewisse Arbeiten zuschreiben. Der Grund, weshalb der Kapitalismus also weiterhin auf Frauenunterdrückung angewiesen ist, besteht darin, dass das Kapital ein Interesse daran hat, dass jene »weiblichen« Tätigkeiten, sowohl das Gebären als auch andere für die Reproduktion notwendigen Aufgaben, möglichst kostengünstig erledigt werden. Frauenunterdrückung reproduziert sich so tagtäglich aufgrund der Strukturlogik des kapitalistischen Akkumulationsprozesses.
Der 2. Teil des Artikels findet ihr hier.
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