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Soziale Reproduktion im Kapitalismus (Teil 2)

Im ersten Teil dieses Artikels erklärt die Autorin die Theorie der Sozialen Reproduktion. Im zweiten Teil zeichnet sie nun mithilfe dieser Theorie die historische Entwicklung der Frauenarbeit nach. (Red.)

von Ronda Kipka; aus marx21.de

In einem kapitalistischen System wird die mehrheitlich von Frauen geleistete Reproduktionsarbeit abgewertet und nur insoweit berücksichtigt, als es für das ökonomische Ziel, möglichst hohe Profite zu erzielen, von Bedeutung ist. Je nach historisch spezifischen Rahmenbedingungen der Produktionsweise wandeln sich jedoch die Strategien der Herrschenden, mit dem Dilemma der Reproduktion umzugehen. Zu Marx’ Zeiten war die Vergesellschaftung von Reproduktionsarbeit noch vollkommen unterentwickelt. Krankenhäuser oder Altersheime existierten nicht oder nur in Ansätzen. Frühkindliche Erziehung durch qualifiziertes Personal war das Privileg einer winzigen bürgerlichen Schicht. Die Reproduktion der Arbeiterklasse spielte sich fast ausschließlich in der Familie ab. Solange Bevölkerungswachstum und Nachschub an Arbeitskräften durch massenhaften Zuzug vom Land gewährleistet waren, machten sich weder Staat noch Kapital viele Gedanken über die Reproduktion der Arbeiterklasse. In den Fabriken schufteten längst nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder. Die Kindersterblichkeit war extrem hoch, die durchschnittliche Lebenserwartung sehr gering.

Doch mit den wachsenden Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitskräfte und durch den Druck der Auswanderung angesichts miserabler Lebensbedingungen entwickelte sich im Laufe der Zeit ein wachsendes Interesse der Herrschenden, die Reproduktion der Arbeiterklasse nicht sich selbst zu überlassen. So schreibt Marx, dass in England die Emigration der für die Produktion zentralen Maschinenarbeiter bei schwerer Strafe verboten war. Doch nicht nur die Auswanderung wurde als Bedrohung für einen reibungslosen Ablauf der Produktion und damit die Profite des Kapitals betrachtet. So schrieb der Handelsminister der USA im Jahr 1913: »Ein Arbeiter, der morgens schlecht gefrühstückt den Betrieb betritt, arbeitet bedeutend weniger effizient als einer, dem – wie den Amerikanern im Unterschied zu den Immigranten – seine Frau vor der Arbeit ein kräftiges Frühstück zubereitet hat.« Die Herrschenden erkannten also zunehmend, dass der Wert der Ware Arbeitskraft nicht unendlich nach unten gedrückt werden kann.

Die Rolle des Staates

Die einzelnen Kapitalisten stehen jedoch in Konkurrenz zueinander und haben im Zweifelsfall nur die unmittelbare Ausbeutungsrate vor Augen. Solange sie genug Nachschub an Arbeitskräften bekommen, muss es sie nicht interessieren, ob diese überleben. Die Balance zwischen günstiger, jedoch ausreichender Reproduktion zu halten, ist daher Aufgabe des Staates, der sich als »ideeller Gesamtkapitalist« denjenigen allgemeinen Belangen der Einzelkapitalien annimmt, die von diesen selbst nicht wahrgenommen werden können. In Form von Gesetzen und deren Überwachung wird dafür gesorgt, die Reproduktion der Arbeitskräfte und deren Bereitstellung für den Arbeitsmarkt zu gewährleisten.

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich in den westlichen kapitalistischen Ländern mit dem »Alleinverdienermodell« ein Reproduktionsmodell durch, in dem Frauen die Reproduktionsarbeit in der Familie unter nicht warenförmigen Bedingungen übernahmen. Im Gegenzug erhielten die meist männlichen »Ernährer« einen Lohn, der die Alimentation der Ehefrau wie auch der Kinder erlaubte. So konnte sich damals ein Großteil der männlichen Beschäftigten den freiwilligen oder erzwungenen Verzicht von Frauen auf Berufstätigkeit im wahrsten Sinne des Wortes leisten. Individuelle und soziale Risiken wie Krankheit, Berufsunfähigkeit, Erwerbslosigkeit und Altersversorgung waren durch beitragsfinanzierte Sicherungssysteme und damit verbundene staatliche Sozialleistungen zumindest rudimentär abgesichert.

Der Mann galt als »Ernährer« und die Frau sollte den Haushalt erledigen. Ideologisch wurde dies auf allen Ebenen untermauert. So galten arbeitende Mütter als egoistisch, ihre Kinder als verwahrloste »Schlüsselkinder«. Frauenzeitschriften und Werbung propagierten das Bild der »idealen Hausfrau« als aufopfernd, liebend, zurückhaltend und fürsorglich. Die Rolle der Frau war klar umrissen: Sie muss dafür sorgen, dass die männliche Arbeitskraft zufrieden und erholt am nächsten Tag wieder ausgebeutet werden kann. Wie es der Frau geht, ist nebensächlich, zentral ist die Wiederherstellung der »produktiven«, männlichen Arbeitskraft.

Das Ende des »Ernährermodells«

Mit den sich seit Mitte der 1970er-Jahre verschärfenden Wirtschaftskrisen zeigte sich jedoch, dass der »Familienlohn« sowie die damit verbundenen Sozialausgaben zur Absicherung aller Familienmitglieder für die Kapitalverwertung mit verhältnismäßig hohen Kosten verbunden sind. Auch aufgrund der sinkenden Geburtenrate wurde aus der Sicht der Kapitalakkumulation die alte stereotype Familie zunehmend unrentabel. Frauen leisteten jetzt mehr Arbeit im Haus als unbedingt nötig, um Arbeitskräfte für das System zu reproduzieren. So wurde das Reproduktionsmodell des »Familienernährers« nicht nur von der zweiten Frauenbewegung bekämpft, sondern verlor seit den 1980er-Jahren auch aufgrund seiner hohen ökonomischen Kosten schrittweise an Bedeutung. Der britische Marxist Chris Harman schrieb: »Aus der Sicht des Spätkapitalismus ist eine Frau, die zu Hause bleibt und nur zwei Kinder und ihren Ehemann versorgt, eine Vergeudung potenziellen Mehrwerts. Die Tatsache, dass sie den ganzen Tag schuftet, ist kein Trost für das System; ihre Arbeit ist Arbeit, die effizienter getan werden könnte, wodurch sie für die Lohnsklaverei freigesetzt werden könnte.«

Einerseits waren es zwar die berechtigten Emanzipationsbestrebungen vieler Frauen, die zu einem kontinuierlichen Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit beitrugen, gleichzeitig konnten sich jedoch auch immer mehr Menschen das »Ernährermodell« aufgrund sinkender Reallöhne und der Durchlöcherung des Sozialsystems schlicht nicht mehr leisten.

Reproduktion im Neoliberalismus

Heute ist ein Doppelverdienstmodell das Leitbild, bei dem alle erwerbsfähigen Personen – unabhängig von Geschlecht, Familienstatus und der Anzahl der zu betreuenden Kinder und Angehörigen – durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft für ihren eigenen Lebensunterhalt aufkommen müssen. Mit dieser Entwicklung verliert das traditionelle Konzept der Hausfrau an Bedeutung. Das bedeutet jedoch nicht, dass Frauenunterdrückung eine weniger zentrale Funktion einnehmen oder die Verteilung der Reproduktionsarbeit zwischen den Geschlechtern gerechter würde.

Zwar gab es, einhergehend mit dem Anstieg der Frauenerwerbsquote, auch einen Ausbau der staatlichen Kinderbetreuung. Allerdings macht sich der Staat auch hier das Rollenbild der Frau zu eigen, um die Kosten hierfür möglichst gering zu halten – dementsprechend schlecht sind die Löhne und die Arbeitsbedingungen. Außerdem bleibt ein großer Teil der Reproduktionsarbeit nach wie vor an den Familien und damit zumeist an den Frauen hängen. So ist sowohl der Anteil der teilzeitbeschäftigten Frauen als auch der Frauen in geringfügiger Beschäftigung stark gestiegen. Der Vorteil für das Kapital: Frauen in Teilzeit dienen als billige Arbeitskräfte und können dennoch zusätzlich unbezahlte Reproduktionsarbeit zu Hause leisten. Beispielsweise wurden im Jahr 2015 von insgesamt 2,9 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland über 2 Millionen in privaten Haushalten versorgt, davon 1,4 Millionen von Angehörigen ganz ohne Unterstützung ambulanter Pflegedienste. Knapp die Hälfte aller Pflegebedürftigen wird also allein von Angehörigen gepflegt.

Ökonomisierung von Reproduktionsarbeit

Deutschland setzt heute auf eine große und flexible, aber prekäre Arbeiterklasse. Das bedeutet im Kern auch eine gezielte Familienpolitik zu entwickeln, die sowohl die generationelle Reproduktion im Blick hat, als auch der Frauenerwerbstätigkeit nicht im Wege steht. So heißt es in einem Gutachten des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: »Die Zahl der Erwerbstätigen bestimmt das Produktionspotenzial und der Anteil der Erwerbspersonen an der gesamten Bevölkerung bestimmt maßgeblich die Leistungsfähigkeit umlagefinanzierter, sozialer Sicherungssysteme. Die Erwerbspersonenzahl wird durch die Generationennachfolge erhalten. Die Familie erfüllt insofern eine gesellschaftlich relevante Reproduktionsfunktion.« Hier wird der komplexe Zusammenhang zwischen staatlicher Sozialhilfe unter Kostendruck und Familien-, Wirtschafts- und Bevölkerungspolitik deutlich.

Auch im öffentlichen Sektor finden wir die Maxime des Kostendrucks. So wird beispielsweise eine Gesundheitspolitik verfolgt, die sich daran bemisst, ob sie effizient und möglichst kostengünstig Arbeitskräfte »repariert«. Gesundheit wird zur Ware, Pflege wird auf das Minimum rationalisiert. Der gesamte Sektor des Gesundheitswesens muss sich aus Sicht des nationalen Kapitals daran messen, dass er möglichst günstig die Arbeitskraft wiederherstellt.

Gleichzeitig erleben wir in den letzten Jahren auch eine unmittelbare Ökonomisierung von Reproduktionsarbeit durch privatwirtschaftliche, warenförmig organisierte Angebote. Die Privatisierung von Staatsfunktionen, etwa die Übernahme von öffentlichen Krankenhäusern, findet jedoch nur dort statt, wo das Kapital Profite erwartet. So reduzieren privatisierte Krankenhäuser die Liegezeiten und spezialisieren sich beispielsweise auf Knie- oder Hüftoperationen, da diese wie am Fließband profitabel abzuwickeln sind.

Bedeutung des Reproduktionssektors

Durch die prekäre Form der Vergesellschaftung von Reproduktionsarbeit ist jedoch auch ein riesiger Wirtschafts- und Beschäftigungssektor entstanden. Schon heute arbeiten über eine Million Menschen in Krankenhäusern, darunter eine halbe Million Pflegekräfte. Hinzu kommen weitere 427.000 im stationären und 215.000 im ambulanten Pflegebereich sowie etwa 600.000 in der Altenpflege. 724.000 Beschäftigte arbeiteten im Jahr 2018 bundesweit in einer Kindertageseinrichtung. Zum Vergleich: In der Automobilindustrie, dem Schlüsselsektor der deutschen Industrie, waren 2017 ungefähr 820.000 Menschen beschäftigt.

Die Bedeutung des Reproduktionssektors wird weiter zunehmen. In keinem anderen Bereich ist das Beschäftigungswachstum größer. Gleichzeitig werden sich auch die Angriffe auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten sowie auf die Reproduktionsbedingungen insgesamt weiter intensivieren, da Ökonomisierung und Rationalisierungsdruck stetig wachsen.

Die Tatsache, dass Reproduktionsarbeit zunehmend in Form von Lohnarbeit organisiert ist, gibt den Kämpfenden jedoch auch neue Machtmittel zur Hand. Das zeigen die Streiks in Krankenhäusern, Kitas oder im Reinigungsgewerbe. Hier tut sich also für die Gewerkschaften ein großes Feld auf, in dem zunehmend Konflikte zu erwarten sind. Die Klassenkämpfe in der hauptsächlich von Frauen getragenen Reproduktionssphäre haben zudem das Potenzial, den feministischen Kampf um Gleichberechtigung neu zu beleben.

Neue Widersprüche und Machtmittel

Die Theorie der sozialen Reproduktion zeigt uns, dass die Art und Weise, wie im Kapitalismus die Reproduktion strukturiert wird, Einfluss auf die Mehrwertrate hat. Das bedeutet, dass die Umstrukturierung des Sektors in marktkonforme Prozesse neue Widersprüche entstehen lässt. Arbeitskämpfe in diesen Bereichen rütteln an genau jenen Stellschrauben.

Das Spezifische an diesen Auseinandersetzungen ist, dass sich die Beschäftigten beim Streik oft in einer besonderen sozialen Situation befinden: Streiken sie, betrifft es zuallererst die Patienten, die Kinder, die Eltern usw. Dies bedeutet zum einen eine größere Hürde, in den Arbeitskampf zu treten, zum anderen aber auch ein Potenzial für die Solidarisierung der Bevölkerung, die auf jene Arbeiten angewiesen ist. Klassenkämpfe im Bereich der Reproduktion sind daher als gesellschaftliche Kämpfe zu führen – gegen ein kapitalistisches System, das selbst unsere elementaren Bedürfnisse der Profitmaximierung unterwirft, und für eine Gesellschaft, in der Fürsorge für andere und uns selbst nicht der Ausbeutung, sondern unserem Wohlbefinden dient.

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