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Gedanken zur Betreuung oder warum Kinder die ganze Gesellschaft angehen

Vor nun gut fünf Wochen haben wir festgehalten, dass der Umgang mit der „Corona-Krise“ geschlechtsspezifische Betroffenheit verursachen wird. Überraschend war weder diese Voraussage noch das Eintreten derselben. Denn gerade für die Arbeit, welche Frauen* bzw. weiblich sozialisierten und gelesenen Personen zugeschrieben und überantwortet wird, gilt: „Es war schon vor Corona Notstand!“

von BFS Frauen*/FTIQ Zürich

Insbesondere die Betreuung von Kindern und Jugendlichen wird gesellschaftlich als die „Frauenarbeit“ schlechthin betrachtet. Es wird behauptet, dass diese dem Wesen und der Natur der „Frau“ entspräche: Frauen* würden diese Arbeit „aus Liebe“ leisten. Dass diese Liebe Arbeit bedeutet, übersieht man(n), weil so ein tiefer respektive kein Lohn begründet wird.

Die Betreuung von Kindern und Jugendlichen wird entweder häuslich in der Familie oder ausserhäuslich in Kitas, Horten, Jugendtreffs und der Schule organisiert. Wenn diese Arbeit im privaten Kreis stattfindet, bleibt sie (abgesehen von Nannys oder Babysitter*innen) unbezahlt. Im Lohnarbeitsverhältnis wiederum sind die Berufe in der Betreuung stets unterbezahlt. 

Diese Trennung der Sphären in häuslich-privat und ausserhäuslich-öffentlich scheint symptomatisch für den Umgang mit der Betreuung von Kindern und Jugendlichen auch während Corona. Zwar wird diese als ein sogenannt „systemrelevanter“ Bereich anerkannt. Dieser Einsicht folgt aber weder eine Aufwertung zum gesamtgesellschaftlichen Interesse noch die materielle Anerkennung dieser Arbeit. Vielmehr wird diese Trennung in zwei voneinander getrennte Sphären spalterisch genutzt, um die häusliche und ausserhäusliche Betreuung zu zwei, sich in ihren Forderungen für die aktuelle Situation widersprechenden Interessensgebieten zu erklären. Damit wird versucht, die Einsicht in die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Reorganisation der Betreuung von Kindern und Jugendlichen unter gesellschaftlicher Kontrolle im Keim zu ersticken und den status quo zu sichern. 

Wir dagegen fordern grundsätzlich „Reproduktion vor Produktion! Und um der „Corona-Krise“ in ihrer Ausformung als Care-Krise zu begegnen, gilt es, die Betreuung von Kindern und Jugendlichen ins Zentrum der Gesellschaft zu stellen. Deshalb bleiben die Corona-spezifischen Forderungen auch nach wie vor aktuell – denn sie waren es schon vorher.

„Solidarität heisst Kinderbetreuung Kollektivieren. Gemeinsam gegen Kapitalismus“ Transparent vom 1.Mai 2020

Forderung 1: Überführung der ausserhäuslichen Kinderbetreuung in den öffentlichen Dienst

Es ist momentan schwierig, allgemeingültige Aussagen zur ausserhäuslichen Betreuung von (Klein-)Kindern zu machen, da die Belegung der Kitas sehr verschieden ist.

Zum einen gibt es Kitas, die fast leer sind und die angestellten Betreuungspersonen mit Haushaltsarbeiten oder ähnlichem beschäftigen, was ein unnötiges gesundheitliches Risiko darstellt, oder solche, die Betreuer*innen nach Hause schicken, welche dann Minusstunden machen. Auf der anderen Seite gibt es Kitas, die ‚normal‘ ausgelastet sind, weil die Eltern gezwungen sind weiter zu arbeiten. Dort steigen die Krankheitsausfälle des Personals durch die Ausbreitung des Virus an. 

De facto wird die Betreuung von Kleinkindern so wenig wertgeschätzt, dass nicht einmal dafür gesorgt wird, dass die Schutzmassnahmen eingehalten werden. Es fühlt sich niemand dafür verantwortlich, Betreuer*innen angemessen zu schützen. Der Bund hat die Verantwortung an die Kantone verschoben, welche sie an Gemeinden weitergeben, welche wiederum bloss Empfehlungen anstelle klarer Richtlinien erlassen. Dadurch bleibt die Haftung an den einzelnen Kitas und anderen Betreuungseinrichtungen hängen und setzt die Betreuer*innen einer grossen gesundheitlichen Gefahr aus. 

In den Kitas werden also die schon vor der „Corona-Krise“ prekären Betreuungsverhältnisse und Arbeitsbedingungen noch verschlimmert.  So sind Missstände wie zum Beispiel ein ungenügender Betreuungsschlüssel oder tiefe Löhne unter privatwirtschaftlicher Profitlogik schon lange Alltag. Die „Corona-Krise“ wirkt sich verschärfend auf die bereits bestehende Care-Krise aus. Das Virus macht die schon lange bestehenden, prekären Arbeitsbedingungen nun für alle sichtbar und unbestreitbar.

Corona hat aber auch gezeigt, dass diese Arbeit derart relevant ist für unsere Gesellschaft, dass sie sogar dann geleistet werden muss, wenn die Sicherheitsmassnahmen nicht eingehalten werden können. Betriebe in anderen Branchen können für das Nichteinhalten der Sicherheitsmassnahmen angeklagt werden – Kinder auf zwei Meter Abstand betreuen ist dagegen nun mal einfach nicht möglich.

Die Betreuung wird zwar in der „Corona-Krise“ endlich als „systemrelevant“ anerkannt, und mit Wertschätzung bedacht, indem von Balkonen für die als Held*innen bezeichneten Care-Arbeiter*innen applaudiert wird. Dennoch spiegelt sich das nicht im Lohn wider. Applaus ist schön und gut, zahlt sich aber nicht aus!

Auszahlen tut es sich dagegen gewissermassen für einige Kita-Betreiber*innen. Denn Betreuungseinrichtungen für Kinder im Vorschulalter müssen zwar als „systemrelevante“ Einrichtungen den Betrieb aufrechterhalten. Die Eltern werden aber dazu aufgefordert, ihre Kinder solidarisch zuhause zu betreuen. Unterdessen finanziert das Sozialdepartement der Stadt Zürich rückwirkend ab 16. März 2020 bis vorerst 30. April 2020 die entsprechenden Ertragsausfälle von den privaten (!) Kitas in der Stadt Zürich. Dazu übernimmt die Stadt Zürich die ausfallenden Elternbeiträge von freiwillig nicht in Anspruch genommenen Betreuungsplätzen. 

Paradoxerweise sind diese Unterstützungsleistungen an die privaten (!) Kitas an keinerlei Bedingungen geknüpft – weder in Bezug auf die Arbeits- oder Betreuungsbedingungen noch auf die Profitorientierung.

Diese Regelung gilt aber nur in der Stadt Zürich. In anderen Gemeinden des Kantons ist die Finanzierung der Kitas hingegen ungeklärt. Oft wird gar keine Verantwortung von den Gemeinden übernommen und die Kosten auf die Eltern abgewälzt, die den Betreuungsdienst gar nicht mehr in Anspruch nehmen können/dürfen. 

Einmal mehr zeigt sich, wie wichtig es ist, die ausserhäusliche Betreuung in den öffentlichen Dienst zu überführen. Denn diese Finanzierungsmassnahmen machen deutlich, dass die Kitas absolut zentral für das soziale und wirtschaftliche Funktionieren sind. Sie müssen deshalb unter gesellschaftliche Kontrolle gestellt werden! 

Wandbild in Zürich

Forderung 2: Radikale Arbeitszeitverkürzung bei gleichbleibendem Lohn – Haus- und Sorgearbeit muss der Sollarbeitszeit angerecht werden

Viele Eltern, die Homeoffice machen (können), behalten ihre (Klein-)Kinder aus Solidarität zuhause, obwohl sie die Beiträge für die Kitas immer noch bezahlen, und somit immer noch das Recht hätten, die Kinder abzugeben. Familien mit Kindern im Schulalter haben gar keine andere Wahl als die Kinder zuhause zu betreuen, denn die Schulen sind geschlossen. Das Hortsystem funktioniert nur eingeschränkt für Kinder, deren Eltern in sogenannt „systemrelevanten“ Berufen arbeiten, und diesen nicht im Homeoffice erledigen können. 

Das bedeutet, dass Kinder und Jugendliche, die eigentlich zur Schule gehen, jetzt selbstständig zuhause lernen müssen. Für viele ist es eine enorme Herausforderung, da auf einmal sehr viel Selbständigkeit von ihnen verlangt wird. Dadurch, dass die Schulen geschlossen sind, vergrössern sich die schon vorhandenen ungleichen Bildungschancen, da beispielsweise viele Kinder und Jugendliche keinen oder nur begrenzten Zugang zu einem Computer haben, oder die Eltern ihnen bei den Aufgaben nicht helfen können. Aber auch für viele bzw. alle Eltern stellt es eine Überforderung dar, ihr Kind oder sogar ihre Kinder in allen verschiedenen Fächern und gegebenenfalls unterschiedlichen Stufen gleichzeitig zu unterstützen, denn sie sind ja nicht ausgebildet zu unterrichten.

Die Regierung hatte beschlossen, die Schulen zu schliessen und dabei gleichzeitig die anderen Wirtschaftsbereiche grösstenteils (eingeschränkt) weiterlaufen zu lassen. Dabei blieb unbeachtet, dass viele Eltern so weder die Möglichkeit haben, ihre Kinder betreuen zu lassen, noch sie selbst zu betreuen. 

Die Last der von der Regierung beschlossenen Massnahmen tragen in der Familie zu einem grossen Teil die Frauen* bzw. weiblich sozialisierte und/oder gelesene Personen, denn aufgrund patriarchaler Strukturen wird Betreuungsarbeit überwiegend Frauen* zugeschrieben. Dies hat zur Folge, dass viele Mütter, die sowieso schon überlastet sind (mit Job und unbezahlter Haus-Arbeit zuhause), momentan noch mehr tragen müssen. Die meisten Hilfsangebote, wie die ausserhäuslich-öffentliche Betreuung von Kindern und Jugendlichen in Kitas, Horten, Schulen, Jugendtreffs, etc. fallen weg. Auch die Unterstützung durch Grosseltern ist in diesen Krisenzeiten nicht möglich, da diese selbst zur gefährdeten Gruppe gehören. Deshalb werden wahrscheinlich vermehrt Geschwister – die älteren Schwestern – eingebunden. 

Denn Kinder müssen rund um die Uhr betreut werden. Da sie aktuell nicht mit anderen Gleichaltrigen spielen sollen, muss man sie ständig beschäftigen. Die Betreuung der Kinder ist also nicht getan, indem mensch ihnen ein Blatt Papier und einige Stifte gibt. Kinder brauchen Aufmerksamkeit und Zuneigung. Es muss zugehört, geschlichtet und getröstet werden. Das braucht viel Zeit und Energie. Wenn Eltern – und zwar insbesondere Frauen* wegen der geschlechtsspezifischen Konnotation von Fürsorge – gleichzeitig im Homeoffice arbeiten, sich um den Haushalt und um die Kinder kümmern müssen, gelangen sie schnell an den Rand der Erschöpfung.

Ein Transparent der Trotzphase am 1.Mai 2020

Die häuslich-private Betreuung und weitere Haus-Arbeit stellte schon vor Corona eine hohe Belastung dar. Die Nicht-Anerkennung dieser Betreuung als Arbeit und die daraus folgende Unbezahltheit macht sie unsichtbar und zugleich selbstverständlich. Diese bedingungslose Selbstverständlichkeit von diesen unzähligen Stunden Gratisarbeit, die Frauen* leisten, wird einfach vorausgesetzt. Und mit der „Corona-Krise“ sind sowohl die Stunden als auch deren selbstverständliche Vorausgesetztheit um ein Vielfaches angestiegen, ohne in irgendeiner Weise gesellschaftlich Beachtung zu finden. 

Dabei drängt sich gerade jetzt die Forderung nach einer Umverteilung der Gewichtung von Produktion und Reproduktion ebenso auf wie die gleichmässige Verteilung derselben auf Frauen* und Männer* bzw. alle Geschlechter. Ein erster Schritt dazu ist, mehr Zeit zu haben – ohne existentielle Ängste. Deshalb ist die radikale Arbeitszeitverkürzung bei gleichbleibendem oder besser: mehr (!) Lohn der erste Schritt, damit die Betreuung von Menschen als Zentrum des gesellschaftlichen Lebens anerkannt und zur wichtigsten Arbeit aufgewertet wird. Ein weiterer wäre, die Unternehmen für diese Arbeit zahlen zu lassen, indem sie zum Beispiel dem Sollarbeitspensum angerechnet und entsprechend entlohnt wird. 

Das sind Gedanken dazu, warum die Betreuung von Kindern (und Jugendlichen) die ganze Gesellschaft angeht, und welche konkreten Forderungen einen Anfang darstellen, um den Kampf für eine solidarische Gesellschaft, in der die Reproduktion vor Produktion gestellt wird und die Bedürfnisse der Menschen vor die Zwänge der Wirtschaft gestellt werden, zu intensivieren! 

 

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1 Kommentar

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