Am Donnerstag, dem 22. Oktober 2020, hat das polnische Verfassungsgericht als Teil einer umfassenderen katholisch-konservativen Offensive gegen die Rechte der Frauen fast alle Abtreibungen verboten. Aber das Urteil hat bereits Streiks und Blockaden in ganz Polen ausgelöst – und die Frauen aus der Arbeiterinnenklasse, die sich eine illegale Abtreibung am wenigsten leisten können, führen den Aufstand an.
von Ewa Majewska; aus Jacobin
Das Abtreibungsverbot, das 1993 vom polnischen Parlament eingeführt und 1997 vom Verfassungsgericht als Gesetz verankert wurde, war einer der Meilensteine des Übergangs Polens vom Staatskommunismus zum neoliberalen Kapitalismus.
Das 1997 verabschiedete Gesetz erlaubte eine Abtreibung in drei Situationen: wenn die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung herbeigeführt wurde, wenn sich Leben oder Gesundheit der Frau in grosser Gefahr befand oder wenn beim Fötus das Risiko einer schweren Krankheit oder des Todes bestand. Ein Urteil des Verfassungsgerichts vom 24. Oktober 2020 hat es nun auch für illegal erklärt, in dieser dritten Situation einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen.
Angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der legalen Abtreibungen in Polen aus diesem dritten Grund durchgeführt wurden, bedeutet das Urteil, dass es in Polen fast keine Abtreibungen mehr geben wird – also offiziell. Inoffiziell werden nach Angaben einer der wichtigsten feministischen Organisationen des Landes, der Föderation für Frauen und Familienplanung, jährlich etwa hunderttausend Abtreibungen in Polen vorgenommen.
Verschiedene Organisationen in Polen und im Ausland helfen polnischen Frauen dabei, Abtreibungspillen zu bekommen oder die Schwangerschaft auf andere Weise abzubrechen. Das geltende Gesetz bestraft Frauen nicht für den Schwangerschaftsabbruch – aber dadurch, dass es bis zu drei Jahre Haft für die Hilfe zum Schwangerschaftsabbruch verhängt werden, gefährdet es sowohl die Ärzt*innen als auch die Anbieter*innen pharmakologischer Hilfe.
Die Entscheidung vom vergangenen Donnerstag wurde unter der konservativen polnischen Regierung Recht und Gerechtigkeit (PiS) getroffen. Doch jede politische Option hat es bereits geschafft, die Frauen zu verraten. Da war die Sozialdemokratie, die 2004 die notwendige Mehrheit im Parlament hatten, um das drastische Anti-Abtreibungsgesetz zu ändern, dies aber nicht taten, weil sie die Unterstützung der Kirche für den Beitritt Polens zur Europäischen Union brauchten. Oder nehmen Sie die Liberalen, die behaupten, das 1997 verabschiedete Gesetz sei schon ein „Kompromiss“ gewesen.
Nachdem die Konservativen Polen seit mindestens 2016 in ständiger Sorge um die Abtreibung gehalten hatten, beschlossen sie nun, einen weiteren Schritt zu unternehmen, indem sie sich erneut des Verfassungsgerichts bedienten. Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der regierenden PiS, sagte 2016, dass Frauen Risikoschwangerschaften beibehalten und in jedem Fall gebären sollten, auch wenn der Fötus stirbt.
Den Preis bezahlen
Wie alles hat auch die Abtreibung ihre Klassendimension, die die polnische Gesellschaft im Grunde in diejenigen, die es sich leisten können, und diejenigen, die es nicht können, spaltet. Denn es spielt natürlich eine Rolle, ob man in einem Grossstadtraum oder in Regionen lebt, in denen alle Ärzt*innen einen Schwangerschaftsabbruch aus „Gewissensgründen“ ablehnen.
Einer der populärsten feministischen Slogans lautet heute: „Wir wollen Ärzt*innen ohne Gewissen!“ In den letzten Jahren ist das liberale Narrativ der „Wahl“ durch das der „Notwendigkeit“ ersetzt worden; dies nicht, um den Frauen das Recht zu verweigern, zu wählen, sondern um zu betonen, dass die meisten Frauen keine Wahl haben, wenn es um die Abtreibung geht.
Unabhängig davon, ob man sich für eine Abtreibung in Polen oder im Ausland entscheidet, kostet sie zwischen 50 und 100 Prozent eines Monatsgehalts – je nach Stadt, Form und allgemeiner Zugänglichkeit. Tatsächlich wirbt jede Zeitung in Polen für den Schwangerschaftsabbruch – wenn auch unter dem Namen „Menstruation auslösen“ oder „Menstruationszyklus regulieren“. Viele Ärzt*innen, die sich weigern, Abbrüche in öffentlichen Krankenhäusern durchzuführen, erklären sich bereit, Abtreibungen in privaten Kliniken vorzunehmen. Es ist alles eine Frage des Geldes – und der Verbindungen.
In den letzten Jahrzehnten wurde „der Ausnahmezustand“ allgemein diskutiert, um den aussergewöhnlichen Zustand von Flüchtlingen und Migrant*innen ohne Papiere auszudrücken – die Tatsache, ausserhalb des Gesetzes zu stehen. Necropolitic[1]s, ein von Achille Mbembe geprägter Begriff, zeigt, wie die neoliberale, globalisierte Biopolitik die heutige Welt regiert, indem sie leichtfertig zulässt, dass ganze Gruppen und Bevölkerungen dem Tod ausgesetzt werden.
Ich glaube, dass die Frauen in Polen heute eine solche Gruppe sind, die durch jene, die behaupten, das christliche Erbe in den staatlichen Institutionen Polens und in der katholischen Kirche fortzuführen, dem Todesrisiko ausgesetzt werden. Die Aufrechterhaltung des neoliberalen Paktes der konservativen Werte und des liberalen Marktes nimmt die Form der Unterdrückung der Frauen im Namen der traditionalistischen Werte an.
Widerstand
Aber wo immer es Kontrolle gibt, gibt es auch immer Widerstand. Und polnische Frauen haben das Abtreibungsverbot seit Tag Eins angefochten, untergraben und dagegen gekämpft.
1997 wurden etwa eine Million Unterschriften für ein Referendum über Abtreibung gesammelt. Im April 2016 schlossen sich 100.000 Frauen angesichts der ersten Bemühungen, den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch weiter einzuschränken, umgehend feministischen Gruppen an, die ad hoc online gegründet wurden. Etwa 150.000 marschierten in verschiedenen Städten und Gemeinden Polens in Märschen, die bald darauf als „Schwarze Proteste“ bekannt werden würden, welche zum Frauenstreik und schliesslich zum internationalen Frauenstreik führten.
Dieser Widerstand zeigt sich auch heute wieder. Am Montag, dem 26. Oktober, wurden etwa dreissig Städte und Gemeinden in Polen bei spontanen Protesten für die Rechte der Frauen von Autos, Fahrrädern und Fussgänger*innen blockiert. Am Tag zuvor hatten Bäuer*innen in mehreren Kleinstädten mit ihren Fahrzeugen die Strassen blockiert, um gegen das neu eingeführte Abtreibungsverbot zu protestieren.
Nach den ersten Demonstrationen am Freitag, dem 23. Oktober – dem Tag nach dem Urteil – haben sich die Proteste von Grossstädten auf Kleinstädte und Dörfer im ganzen Land ausgedehnt. Eine grobe Zählung lässt vermuten, dass die Proteste zumindest an siebzig Orten in Polen sowie in etwa zwanzig Städten im Ausland stattfanden.
Für Mittwoch, den 28.Oktober, wurde zu einem Generalstreik ausgerufen (es protestierten eine halbe Million Menschen in ganz Polen, Anm.d.Red.), und viele Betriebe haben bereits damit begonnen, ihre Unterstützung für die Sache der Frauen zu erklären. Ein neues und sehr populäres Element des Protests ist der Besuch von Feminist*innen in Kirchen, um für das Recht auf Abtreibung und Frauenrechte einzutreten. Die Aktivist*innen gehen in Kirchen, um Transparente zu halten und Flugblätter zu verteilen. Dies geschieht gewöhnlich friedlich, ohne gewaltsame Zusammenstösse.
Die gegenwärtigen Proteste scheinen eine etwas andere Stimmung zu haben als die früheren – jetzt sind wir wütend, nicht nur unglücklich, und der Hauptslogan ist ein Schimpfwort, „wypierdalać!“, was mit „verpisst euch von hier!“ übersetzt werden kann.
Wenn sie das täten, hätten der zutiefst unangenehme Kaczyński und seine konservativen Kolleg*innen vielleicht Schwierigkeiten, einen anderen Ort zu finden, wo sie hingehen könnten. Aber Polens Feminist*innen haben mit ernsthafteren Problemen zu kämpfen.
[1] Das Konzept der Necropolitics von Achille Mbembe beschäftigt sich mit dem Phänomen, dass die Politik mit einer für die letzten 50 Jahren ungeahnten Reichweite die Lebensbedingungen von Bürger*innen bestimmt; bis hin zur konkreten Entscheidung, welches Leben gelebt werden soll. (Anm.d.Red.)
Übersetzung durch die Redaktion