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Der feministische Streik wurde nicht von links gekapert, sondern wurde links geboren

Pünktlich auf den 14. Juni 2023 bedauert die Chefredaktorin des Zürcher Tages-Anzeigers Raphaela Birrer in ihrem Leitartikel, dass der feministische Streik angeblich von den Linken gekapert wurde. Ins gleiche Horn blies kürzlich Reza Rafi, der Chefredaktor des Sonntagsblick. Birrer formuliert in ihrem Artikel eine vorzeitige Abrechnung mit dem heutigen Streiktag. Wir rücken die Fakten zurecht.

von BFS Zürich

Raphaela Birrer ist enttäuscht. Wehmütig schaut sie auf den feministischen Streik 2019 zurück und bedauert, dass die feministische Bewegung seither an Breite verloren hätte. Schuld daran trügen die linken Feminist:innen und ihre Streikkollektive, die mit ihrer woken Rhetorik die bürgerlichen Politiker:innen, die Bäuer:innen and what not abschrecken und aussschliessen würden. Die Kollektive hätten den breiten Frauenstreikunter Ausschluss etablierter und überparteilicher Organisationen“ in einen feministischen Streik umgewandelt und damit quasi links gemacht. Dies merke man zum Beispiel am „wilden Potpourri an etatistisch-gewerkschaftlichen Forderungen“ nach einem Mindestlohn und höheren Renten für Frauen…

Raphaela Birrer hat eine Recherche gemacht. „Mitorganisiert haben den Streik [2023] auch zahlreiche Gewerkschaften – die Parolen tragen unverkennbar ihre Handschrift.“ No shit, sherlock. Frau Birrer vergisst (oder verschweigt) hier den entscheidenden Punkt. Wie schon 1991, stammte die Initiative zum feministischen Streik 2019 aus gewerkschaftlichen Kreisen in der Romandie. Im Sommer 2018 entstanden dann auf Initiative von linken Aktivist:innen Streikkollektive in der Deutschschweiz. Die Aktivist:innen der Kollektive und die ihr angeschlossenen Gruppen haben schon 2019 die Hauptlast der Streikorganisation getragen – vielfach bis zum Burnout. Natürlich hatten und haben auch bürgerliche Feministinnen irgendwelche Anliegen. Aber nie würden sie freiwillig den Streik als Mittel zur Durchsetzung dieser Forderungen propagieren. Dazu wurden sie 2019 schlicht und einfach gezwungen, weil sie es sich vor den Nationalratswahlen im Oktober 2019 politisch nicht leisten konnten, abseits der Bewegung zu stehen.

Raphaela Birrer hat sich eine Punchline überlegt. Das Hauptargument, mit dem Birrer die „bedauerliche Übernahme“ der feministischen Bewegung in der Schweiz zu entlarven versucht, seien die Errungenschaften der überparteilichen feministischen Arbeit im Nationalrat. „Die Frauen bewegten was im Bundeshaus.“ Die anschliessende Liste der Erfolge, die Birrer anfügt, ist allerdings eher bescheiden. Den einzigen konkreten Erfolg, den sie tatsächlich aufzählen kann, ist die Revision des Sexualstrafrechts in diesem Jahr. Ansonsten kann Frau Birrer nur aufführen, dass der Druck erhöht und politisches Agendasetting betrieben werden konnte. Den 2021 eingeführten zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub als grossen feministischen Erfolg zu feiern, zeugt auch nicht gerade von revolutionärem Veränderungswillen. Dass die Fortschritte bescheiden blieben, liegt in erster Linie natürlich am patriarchalen Widerstand der Männer und des Bürgertums und nicht am Versagen der liberalen und linken Parlamentarier:innen. Aber als Rechtfertigung für eine politisch „breite Frauenallianz“ und gegen den „von links gekaperten feministischen Streik“ taugt ihr Hauptagument nicht. Viel entscheidender ist allerdings, dass Frau Birrer nicht versteht, dass sowohl die Revision des Sexualstrafrechts und die Telefonberatung für gewaltbetroffene Frauen, als auch die allgemeine Diskursveränderung allesamt Folgen der Basisarbeit der linken, feministischen Kollektive sind, die Parlamentarier:innen ab und zu in Vorstösse im Bundeshaus verwandeln konnten. Nur wegen der unermüdlichen Arbeit der Ni Una Menos-Kollektive und weiteren Aktivist:innen wird in der Schweiz heute über Femizide berichtet. Der fraktionsübergreifende Vorstoss zu einer 24h-Telefonberatung für gewaltbetroffene Frauen geht auf die Initiative des Tessiner Kollektivs Non una di meno zurück. Konkret existiert bis heute nur das von Zürcher Aktivist:innen betriebene «Telefon gegen Gewalt (TGG)». Und auch die Diskursveränderung wäre ohne die feministische Basisarbeit undenkbar.

Raphaela Birrer macht sich die Welt, wie sie ihr gefällt. Es nicht nur eine Verdrehung von Tatsachen, sondern eigentlich eine Frechheit, dass sie die kleinen erkämpften Fortschritte allein der Arbeit der Parlamentarier:innen zuschreiben will. Frauen wie Raphaela Birrer würden nie in die anstrengenden Niederungen der feministischen Organisationsarbeit hinab gehen. Nicht im Traum würden sie auf die Idee kommen, einen Finger für den feministischen Streik zu rühren. Darum steht es ihnen auch nicht zu, der feministischen Bewegung Lehren zu erteilen. „Will die Frauenbewegung weiterhin politischen Einfluss haben, muss sie diese Breite haben.“ Nein, ganz genau nicht. Die feministische Bewegung ist stark geworden, nicht trotz, sondern weil sie links ist, und weil sie die feministischen Tagesforderungen mit „nicht weniger als der Veränderung des «patriarchalen und kapitalistischen Systems»“ verbindet, wie Birrer immerhin korrekt feststellt.

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1 Kommentar

  1. Pingback:Medienspiegel 14. Juni 2023

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