Am 13. Juni – wohl nicht zufällig am Vortag des feministischen Streiks 2023 – veröffentlichte der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV) eine von ihm finanzierte HSG-Studie, die vorgibt, es mit wissenschaftlichen Standards ernst zu meinen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass die Studie weniger angelegt war, um Missstände in der Lohnungleichheit aufzudecken, als vielmehr, um Unternehmen das erwünschte Qualitätssiegel lohngerechter Firmen zu bescheinigen. Bei kritischer Betrachtung erweist sich die Studie ironischerweise dennoch als äusserst aufschlussreich: sie zeigt, zu welchen Winkelzügen das Unternehmer:innentum bereit ist, um feminisierte Überausbeutung und strukturelle Benachteiligung von Frauen aufrechtzuerhalten. (Red.)
von Jean-François Marquis; aus alencontre.org
Am 13. Juni (welch Überraschung!) veröffentlichte der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV) die triumphale Mitteilung, dass 99,3 % der Unternehmen die Lohngleichheit einhielten. Soweit zumindest das Ergebnis und die Propaganda mit sowjetischen Untertönen.
Das Problem: Die vom SAV finanzierte Studie der Universität St. Gallen sagt nicht das, sondern praktisch das Gegenteil. Tja, dumm gelaufen.
1. Die Umfrage basiert auf den Ergebnissen von 463 Unternehmen, die insgesamt rund 487’000 Personen beschäftigen. Laut den Urheber:innen der Studie entspricht dies nicht einmal 10% der Unternehmen, die mit mindestens 100 Beschäftigten zu einer Lohnanalyse verpflichtet wären. Die Bereitschaft der Arbeitgeber:innen, Daten zu liefern, die dem SAV Recht geben, scheint also relativ bescheiden zu sein. Oder waren etwa ihre Ergebnisse nicht vorzeigbar? Gerechnet auf die 61’000 Unternehmen, die mindestens 10 Angestellte beschäftigen, würden diese 463 Unternehmen sogar lediglich 0,8% ausmachen (!) … ein läppisches Staubkorn der 600’000 erfassten Unternehmen. Vom genannten Problem mit der Repräsentativität ganz zu schweigen haben gerade einmal 18 – und kein einziges mehr – Unternehmen aus dem Hotel- und Gaststättengewerbe an der Studie teilgenommen. So sehr scheint die Qualität der Ergebnisse also gewährleistet. Um es kurz zu machen: Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass der aktuelle Mechanismus der Lohnanalyse völlig ineffizient ist, dann hat ihn die vom SAV finanzierte Studie selbst geliefert. Herzlichen Dank an die Chefs!
2. Im Durchschnitt dieser 463 Unternehmen liegt der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen, wenn man die standardisierten Löhne für eine Vollzeitstelle (mit 13. Monatslohn, Prämien usw.) vergleicht, je nach Region zwischen 13,5% und 20,7%. Diese Ergebnisse liegen somit nahe an den vom Bundesamt für Statistik (BFS) veröffentlichten Zahlen (19,5 % im Jahr 2020 auf nationaler Ebene im Privatsektor).
Und mögen diese Ergebnisse von den Unternehmer:innen auch noch so angeprangert werden. Der Lohnunterschied wurde im Fall des SAV auf der Ebene der einzelnen Unternehmen gemessen, im Fall des BFS auf der Ebene der gesamten Wirtschaft, mit allen Unterschieden, die dies mit sich bringt. Damit lässt sich also getrost schlussfolgern: Die Daten, auf die sich Frauen seit Jahrzehnten stützen, um die Lohndiskriminierung anzuprangern, sind absolut aussagekräftig. Herzlichen Dank an die Chefs!
3. Zudem würde der tatsächliche “unerklärte” Lohnunterschied nicht wie in der Studie behauptet im Durchschnitt 0% betragen, sondern 3,3%. Zum genaueren Verständnis: Wenn bei einem Grossverteiler die besser bezahlten Kaderstellen deutlich häufiger von Männern als von Frauen besetzt werden, gilt in der Studie der daraus resultierende Lohnunterschied erstaunlicherweise als “erklärt” … und fällt nicht etwa unter die 3,3%. Und wenn dieselben Grossverteiler die Reinigung an spezialisierte Firmen auslagern, die hauptsächlich Frauen mit sehr tiefen Löhnen beschäftigen, fallen diese Frauen sogar gänzlich aus dem Vergleich und aus den 3,3 % heraus…
Man führe sich aber mal zu Gemüte, dass diese 3,3 Prozent, nur noch gerade derjenige Betrag sind, der übrig bleibt, wenn man alle Hauptursachen für Lohndiskriminierung wie Niedriglohnbranchen und -berufe oder die gläserne Decke eliminiert hat. Das ist dann enorm viel. Zur Erinnerung: Die „unerklärte“ Lohndifferenz beträgt laut BFS im Privatsektor 8,8 %, wenn man die gesamte Wirtschaft betrachtet. Das Ergebnis der Unternehmer:innen widerlegt also überhaupt nichts – im Gegenteil. Herzlichen Dank an die Chefs!
4. Der beinah schon nach sowjetischer Propaganda klingende Wert von 99% der Unternehmen, die die Lohngleichheit vorgeblich einhalten, wird auch nur dank der „Toleranzschwelle“ von 5% erreicht, die in den Lohnanalysen vorgesehen ist. Diese Toleranzschwelle hat jedoch keine statistische Grundlage: Die Analysen enthalten bereits Vertrauensintervalle, die die Unsicherheiten in den Daten berücksichtigen.
Diese Toleranzschwelle hat auch keine gesetzliche Grundlage: Weder die Verfassung noch das Gleichstellungsgesetz besagen, dass eine Lohnungleichheit von 5% akzeptabel ist. Es ist ein reines Zugeständnis an die Unternehmer:innen.
Eine Studie, die das Waadtländer Gleichstellungsbüro im Jahr 2022 zu diesem Thema veröffentlicht, spricht Bände über die Auswirkungen solcher Toleranzschwellen. Basierend auf den Daten der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE), die bei rund 35’000 Unternehmen (im Vergleich zu den 463 des SAV) erhoben wurden, zeigte diese Studie, dass bei einer Toleranzschwelle von 5% nur 19% der Unternehmen ein nicht mit der Lohngleichheit konformes Ergebnis erzielen, während dieser Anteil bei einer Toleranzschwelle von Null auf 50% ansteigt. Die vom SAV in Auftrag gegebene Studie bestätigt diese Ergebnisse: Die Toleranzschwelle dient nur dazu, das Ausmass der Lohndiskriminierung zu verschleiern. Herzlichen Dank an die Chefs!
Zusammenfassend zeigt die vom Schweizerischen Arbeitgeberverband (SAV) finanzierte (wohl eher gut investierte!) Studie, dass 1.) die Lohnungleichheit tatsächlich das von Feminist:innen und Gewerkschaften angeprangerte Ausmass aufweist, und dass 2.) die aktuelle Methode der Lohnkontrolle mit einer Toleranzschwelle von 5% sowie praktisch keiner Verpflichtung völlig unwirksam ist, um die Lohngleichheit voranzutreiben. Herzlichen Dank an die Chefs!
Publiziert auf Französisch am 14. Juni 2023. Übersetzung durch die Redaktion.