Seit dem Amtsantritt der konservativ-liberalen Regierung (2010) erlebt Grossbritannien eine Reihe von Protestbewegungen. Der grosse Streik vom 30. November war der vorläufig letzte Höhepunkt. Es ist wichtig, die in den Medien bereits wieder vergessenen Jugendunruhen von Anfang August vor dem Hintergrund der sozialen Krise zu betrachten, die sich auf der Insel verschärft.
Am 30. November haben in Grossbritannien über zwei Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst gestreikt. Laut Gewerkschaftsangaben blieben 80 bis 90 Prozent der öffentlichen Schulen geschlossen. In den Spitälern wurden Tausende nicht dringender Operationen aufgeschoben. Das Bildungs- und Gesundheitswesen waren die aktivsten Bereiche der Mobilisierung, gut organisierte Streikposten waren allenthalben zu sehen. Es war der grösste Streik seit Jahrzehnten.
Widerstand gegen Rentenabbau…
Viele Beschäftigte haben zum ersten Mal in ihrem Leben nicht nur gestreikt, sondern überhaupt an Streik gedacht. In der Zeitung The Guardian kommt eine Physiotherapeutin zu Wort: «Ich finde es schrecklich zu streiken. Aber du gibst alles in deinem Job, und ständig musst du neue Rückschläge einstecken. Es ist einfach keine Wertschätzung da.» Mit Bezug auf die Pläne der Regierung, das Rentenalter auf 67 Jahre anzuheben, fügt sie an: «Ich werde nicht mehr stark genug sein. Leute aus dem Bett holen und ins Bett bringen, sie beim Gehen unterstützen… Ich weiss nicht, ob ich das mit 67 noch kann.»1
Der Streik richtete sich gegen die Pläne der Regierung im Bereich der Altersvorsorge für die Angestellten des öffentlichen Sektors. Wenn es nach Premierminister Cameron geht, sollen die Beschäftigten gleich drei Mal zur Kasse gebeten werden: Erstens durch eine Erhöhung der Beiträge an die Altersvorsorge; zweitens durch eine Umstellung des Mechanismus, mit dem die Teuerung ausgeglichen wird2; und drittens durch die Erhöhung des Rentenalters. Der Gewerkschaftsdachverband TUC beruft sich darauf, bereits in früheren Verhandlungen Verschlechterungen akzeptiert zu haben.3 TUC-Generalsekretär Brendan Barber ist nun offensichtlich zum Schluss gekommen, dass seine Glaubwürdigkeit auf dem Spiel steht, wenn er die Regierungspläne einfach so akzeptiert.
…und gegen den Ausverkauf der öffentlichen Dienste
Die Proteste richten sich aber nicht nur gegen die Rentenpläne der Regierung. Seit die konservativ-liberale Koalition unter David Cameron letztes Jahr die Regierungsgeschäfte übernommen hat, wurden massive Abbaumassnahmen und Restrukturierungen im öffentlichen Sektor angekündigt. Weder das Bildungswesen noch die Gesundheitsversorgung oder die Sozialhilfe werden verschont. Sogar die öffentlichen Wälder sollten privatisiert werden. Zudem wurde die Bevölkerung durch den Skandal um den Medienzar Rupert Murdoch aufgerüttelt. Als bekannt wurde, dass Verantwortliche seines Konzerns News Corporation in illegale Abhörpraktiken verwickelt waren, wurde nicht nur klar, dass die Polizei dabei – mit oder ohne Bestechungsgelder – beide Augen zugedrückt hatte. Es wurde auch thematisiert, dass sich alle hochrangigen Politiker des Landes an gesellschaftlichen Anlässen vergnügt hatten, die Murdoch durchführen liess. Vor diesem Hintergrund wurde im letzten Juli der geplante Verkauf des Fernsehsenders BSkyB an Murdoch gestoppt.
Entsteht ein neuer Protestzyklus?
Dem Streiktag vom 30. November ist eine Reihe wichtiger Mobilisierungen vorausgegangen. 2010 protestierten die Studierenden gegen die massive Erhöhung der Studiengebühren. Im November 2010 wurde die Coalition of Resistance gegründet, ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Hilfswerken und linken Gruppierungen. Am 26. März 2011 haben eine halbe Million Menschen in London gegen die Regierung protestiert; dies war der Höhepunkt einer Reihe von Demonstrationen seit Beginn des Jahres. Anfang August schliesslich wurden London und weitere britische Städte durch heftige Jugendunruhen erschüttert, auf welche die Regierung ähnlich brutal zu reagieren versuchte wie Sarkozy (damals noch als Innenminister) 2005 in Frankreich (siehe den folgenden Artikel).
Studentische Proteste, Massendemonstrationen, Jugendunruhen und Streiks im öffentlichen Sektor: Das sind sehr unterschiedliche Protestformen. Die einen entstehen eher spontan von unten, die anderen stehen weitgehend unter der Kontrolle der Gewerkschaften. Dennoch stellt sich die Frage, ob in Grossbritannien ein neuer Protestzyklus entsteht, in dem verschiedene Sektoren der Bevölkerung gemeinsame Interessen entdecken könnten. Um die Heftigkeit und die Reichweite der Proteste zu verstehen, ist ein Blick zurück angebracht.
Als Finanzminister Osborne einen Tag vor dem Streik im öffentlichen Sektor ankündigte, dass die Regierung auch in den kommenden Jahren Budgetkürzungen vornehmen müsse – auf dem Programm stehen zum Beispiel Kürzungen bei Steuerkrediten für einkommensschwache Familien, auf Grund derer etwa 100’000 Kinder unter die Armutsgrenze fallen werden – schrieb Larry Elliot in der Zeitung The Guardian, Grossbritannien stehe heute schlechter da als in den 1970er Jahren.4 Er bezieht sich auf die Zeit, als die Labour-Regierung vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und eines spekulativen Angriffs der Finanzmärkte auf das britische Pfund durch den Internationalen Währungsfonds skizzierte Massnahmen umsetzte und der konservativen Revolution unter Premierministerin Margaret Thatcher (1979-1990) den Weg bereitete.
Neuauflage der Schockstrategie
Die Iron Lady hat zu Beginn ihrer Amtszeit nicht nur einen offenen Klassenkampf gegen die Gewerkschaft der Minenarbeiter ausgefochten, sondern auch wichtige Privatisierungen in die Wege geleitet (allen voran die Eisenbahn und die Post). Nach dem Schock der konservativen Revolution konnte Tony Blair (1997-2007) mit seiner Neuerfindung der Sozialdemokratie (New Labour) den Anspruch erheben, eine auseinander brechende Gesellschaft zu reparieren. Auf den offenen Klassenkampf von oben erfolgte das Social Engineering mit dem Ziel, die britische Arbeiterklasse neu zu erziehen und an die Globalisierung anzupassen. So hat New Labour zwar einen gesetzlichen Mindestlohn und neue Sozialhilfeleistungen eingeführt, aber die Probleme am Arbeitsmarkt nicht gelöst und die Privatisierungsagenda in der Form von Public Private Partnerships weitergeführt. Die neue konservativ-liberale Regierung ist sich in vielen Punkten einig mit New Labour.5 Aber sie sieht sich mit einer neuen Wirtschaftskrise konfrontiert, setzt harte Sparmassnahmen an und spricht eine andere Sprache, welche ältere Menschen an den Thatcher-Schock erinnert und Jüngere provoziert.
Laut dem Institute for Fiscal Studies wird das durchschnittliche Haushalteinkommen in Grossbritannien zwischen 2009/10 und 2012/13 um 7.4 Prozent sinken; seit 1974-77 hat es keinen vergleichbaren Rückgang gegeben.6 Die Erwerbslosenquote hat mit 8.3 Prozent den höchsten Stand seit 1996 erreicht. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 21.9 Prozent; über eine Million junger Menschen sind erwerbslos7 und es gibt eine öffentliche Diskussion über die Entstehung einer dauerhaft verfestigten Unterklasse.8 Auf dem Papier ist es also einfach, einen Zusammenhang zwischen den Jugendunruhen und den Streiks im öffentlichen Dienst herzustellen. Ob sich in der gesellschaftlichen und politischen Realität eine entsprechende Dynamik abzeichnet, kann hingegen noch nicht gesagt werden.
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1 «Public sector strike rookies in a tangle of emotions and convictions.» The Guardian 30.11.2011
2 Die Regierung will sich in Zukunft nicht mehr auf den Einzelhandelspreisindex (RPI) stützen, sondern auf den Konsumentenpreisindex (CPI), um die Renten an die Teuerung anzugleichen. Mit dieser scheinbar technischen Änderung wird das Rentenniveau über die Jahre hinweg um bis zu 15 Prozent gesenkt.
3 «The Case for Pensions Justice». TUC Day of Action 30 November
4 «Osborne’s autumn statement shows a Britain worse than it was in the 1970s.» The Guardian 30.11.2011
5 Zwei Beispiele für Kontinuitäten der Regierungspolitik: Die Privatisierung einzelner NHS-Spitäler wurde von der Labour-Regierung unter Brown vorbereitet und nun durch die konservativ-liberale Regierung begonnen. Die Initiative zur Gründung «freier Schulen», die durch Private finanziert und verwaltet werden können, baut auf die Schaffung der Akademien im Jahr 2000 unter Tony Blair auf; es ging damals darum, einen Teil der Schulen der Kontrolle durch lokale öffentliche Verwaltungen zu entziehen.
6 «The big squeeze: warning over incomes as Britain goes on strike.» The Guardian 1.12.2011
7 «Youth unemployment hits 1 million.» The Guardian 16.11.2011
8 «Permanent underclass is emerging in UK, businesses warn.» The Guardian 17.11.2011
9 «Andrew Lansley’s NHS is all about private sector hype.» The Guardian 11.11.2011
10 Die Chartisten-Bewegung kämpfte Mitte des 19. Jahrhunderts für soziale und politische Reformen in England. Sie gilt als erste Massenbewegung der Arbeiterklasse in der Geschichte des Kapitalismus. Engels beschreibt diese Bewegung in seinem Text «Die Lage der arbeitenden Klasse in England» (1845).