Nach über einem Jahrzehnt neoliberaler Privatisierungs- und Sozialabbaupolitik ist einem Grossteil der israelischen Bevölkerung der Kragen geplatzt. Mehrere Hunderttausend haben ihrem Protest gegen die massive Erhöhung der Lebenshaltungskosten auf der Strasse Ausdruck gegeben. Sie forderten unter anderem «soziale Gerechtigkeit». Leider betreffen die Forderungen der Bewegung nur den jüdischen Bevölkerungsteil des Landes und schon gar nicht die 4 Millionen Menschen in den von Israel besetzten Gebieten.
Mitte Juli protestierten in Israel Hunderttausende, anfänglich gegen Mietpreiswucher, später mit dem Anwachsen der Bewegung auch für Steuersenkungen, Verbesserungen im Gesundheits- und Bildungswesen, Senkung der Preise für Gas und Benzin etc. So ungefähr jeder 20. Israeli war auf der Strasse, die grössten Proteste die Israel seit den Demos gegen die Räumung des Gazastreifens gesehen hat. In den Rabatten des mondänen Rothschild Boulevards von Tel Aviv wurden in den ersten Augustwochen hunderte Zelte der Protestierenden aufgestellt. In mehreren anderen Städten zeigte sich ein ähnliches Bild.
Die Explosion der Wohnungspreise
In den städtischen Zentren sind heute die Wohnungen zwischen 40 und 60 Prozent teurer als vor vier Jahren, in anderen Regionen stiegen die Preise in diesem Zeitraum um 20 bis 50 Prozent. Diese massive Preissteigerung fand statt, obwohl 90% der Baulandreserven auf israelischem Territorium sich in staatlichem Besitz oder im Besitz von parastaatlichen Organisationen wie dem Jewish National Fund1 befinden und von der staatlichen Israel Land Administration verwaltet werden. Land wird in Israel meistens im Baurecht und prinzipiell ausschliesslich an Interessenten, die als jüdisch gelten, vergeben.
Früher waren beim Kauf von Wohneigentum staatliche Darlehen mit einer Laufzeit von bis zu 25 Jahren die Regel, heute ist die Kreditvergabe privatisiert.
Aus Angst vor einer «Immobilienblase», die platzen könnte, wurden staatliche Massnahmen zur Eindämmung der Immobilienspekulation ergriffen. Im Oktober letzten Jahres wurden, nicht zuletzt infolge der wachsenden Zahl zahlungsunfähiger Wohnungsbesitzer, die Regeln für Bankkredite verschärft. Ab einer Kaufsumme von 160‘000 Euro wurden die Eigenkapitalanforderungen von 40 auf 60% erhöht. Nur, die 160‘000 Euro muss man in den Ballungszentren bereits für eine 3-Zimmer-Wohnung auf den Tisch legen. Die Leute in den Zentren können sich folglich den Kauf einer Wohnung kaum mehr leisten.
Auch Mieten stiegen exorbitant
Die Miete eines Studentenzimmers kostet in Tel Aviv etwa 450 Euro. Für 70 Quadratmeter Wohnraum muss mit 1000 Euro gerechnet werden.
So etwas wie einen Mieterschutz gibt es in Israel nicht. Die Regel ist, dass der Preis einer Mietwohnung jährlich neu verhandelt wird. In der Preisgestaltung ist der private Vermieter frei. Deshalb auch die Forderung nach staatlicher Mietpreiskontrolle.
Israel weist eine der höchsten Armuts- und Ungleichheitsraten der OECD-Staaten auf. Das formale Existenzminimum für eine Familie mit 2 Kindern liegt bei ca. 800 Euro. Mehr als die Hälfte der Lohnabhängigen in Israel verdienen weniger als 1700 Euro im Monat. Die Inflation im Land bewegt sich um die 3 % jährlich. Die Preise in Israel liegen etwa auf dem Niveau der Schweiz, einige Güter kosten zwei oder drei Mal so viel wie in einem durchschnittlichen europäischen Land.
Auf der unteren Stufe der sozialen Skala stehen die Angehörigen der palästinensischen Minderheit. Doch nur in den wenigen Ortschaften, wo die Mehrheitsverhältnisse zwischen einheimischen Palästinensern und Juden etwas ausgeglichener sind, in bestimmten Quartieren von Haifa, Jaffa (bei Tel Aviv) und Nazareth (in Galiläa), wurden diese in beschränktem Mass in die Proteste miteinbezogen.
In noch prekärerer Lage sind die importierten Arbeitskräfte aus den Philippinen, Thailand, Rumänien, China und Afrika, die nach der Abriegelung der besetzten Gebiete die entlassenen palästinensischen Arbeiter ersetzen mussten. Diese sind oftmals illegalisiert, weil ihre Anstellung von Agenturen im Auftrag bestimmter Unternehmen erfolgte und sie als Nichtjuden keine Chance auf Niederlassung haben. Verlieren sie aus irgend einem Grund die Stelle, erlischt auch ihr Aufenthaltsrecht. Viele tauchen danach unter, um ihre Arbeitskraft auf einer Art Arbeiterstrich frühmorgens in der städtischen Peripherie Kleinunternehmern anzubieten, die nach billigen Tagelöhnern Ausschau halten.
Die Proteste fordern formal zwar auch «soziale Gerechtigkeit» die ärmsten Schichten Israels und die etwa eine Viertelmillion nichtjüdischen Billigarbeitskräfte aus Übersee spielen dabei jedoch keine Rolle.
Eine unpolitische Bewegung?
Die führenden Kräfte der Bewegung bestehen darauf, es handle sich nicht um einen «politischen», sondern um einen «sozialen» Protest. Sie wollen, wie sie sagen, keinesfalls in die «linke Ecke» gestellt werden. Die Regierung, heisst es, könnte den Protest mittels dieses Etiketts delegitimieren und es sei klar, dass die Öffentlichkeit die Linke hasst. Politisch links zu stehen bedeutet in der öffentlichen Meinung Israels, gegen die Besatzungspolitik zu sein und von den kolonialistischen Bestrebungen des Zionismus Abstand zu nehmen. Dies wird als antiisraelisch gesehen, von vielen mit Nestbeschmutzung oder gar Landesverrat gleichgesetzt. Besonders die Studierendenorganisationen, deren Kader, was nahe liegt, vorwiegend aus Offizieren der Besatzungstruppen bestehen, pochen darauf «unpolitisch» zu bleiben.
Es wird alles getan, um das Thema Besatzungspolitik und den täglichen Terror gegen die palästinensische Bevölkerung herauszuhalten. Die paar vereinzelten palästinensischen Fähnchen und Poster der Anarchists against the Wall, die versuchten, den Zusammenhang der Wohnungsnot mit den gigantischen Aufwendungen für die Besatzungspolitik aufzuzeigen, wurden im Protestcamp unter Gewaltandrohung umgehend entfernt.
Weniger Probleme haben die der Armee nahestehenden zionistischen Scouts, die uniformierten Jugendgruppen der Gewerkschaft Histadrut2, sowie studentische Thora-Gebetsgruppen, die alle ihre Zelte auf dem Rothschild Boulevard haben.
Was hinter der Apartheidmauer liegt, interessiert niemanden. Es bleibt eine jüdische Revolte, für «gleiche Rechte» zwar, aber ohne «Araber». Es bleibt bei der Selbstverständlichkeit der tagtäglich gelebten Apartheid.
Siedlungen als Ausweg?
Auch die Siedler_innenbewegung beteiligte sich, nach anfänglichem Zögern, an den Protesten. Wen wundert es, dass sie als Lösung des Wohnproblems empfiehlt, die Wohnbautätigkeit auf besetztem Gebiet voranzutreiben? Die Regierung ihrerseits hat in den letzten Wochen den Bau von weiteren 5400 Wohneinheiten im Westjordanland, 3600 in Ostjerusalem und 1800 in den Siedlungen um Jerusalem angekündigt.
Der Druck, den massiv subventionierten Wohnraum auf geraubtem und damit kostenlosen Boden zu beziehen, steigt also für diejenigen, die sich eine Wohnung in Israel nicht mehr leisten können. Dies obwohl aus naheliegenden Gründen. Viele Israelis lieber nicht in den besetzten Gebieten wohnen möchten.
Die Tatsache, dass ein grosser Teil der staatlichen Wohnbauförderung in die Siedlungen fliesst und nicht in den sozialen Wohnungsbau auf Israels Territorium, und dass dies wiederum etwas mit der Wohnungsnot zu tun haben könnte, ist tabuisiert und wird nur von einer winzig kleinen Minderheit der Protestierenden thematisiert.
Gegen die neoliberale Politik
Im Kern geht es gegen die mittlerweile schmerzlich spürbaren Auswirkungen der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte. Das Ziel der führenden Kräfte der Bewegung ist eine mindestens graduelle Rückkehr zum sogenannten Wohlfahrtsstaat früherer Zeiten. Doch dies unter Ausklammerung wesentlicher Ursachen, die zur sozialen Misere geführt haben. Die grundsätzlichen Machtverhältnisse sollen nicht angetastet werden. Der Titel des formulierten Forderungspakets der Bewegung lautet denn auch: «Für eine Erneuerung der Beziehungen zwischen den Bürgern Israels und dem Israelischen Staat».
So gehen auch die Medien des Landes erstaunlich vorsichtig mit der Bewegung um und berichten über jede ihrer Regungen. Ja, die Regierung wirft der Presse sogar vor, die Zahlen der Demonstrierenden nach oben frisiert zu haben. In Umfragen stehen etwa 85% der jüdischen Israelis den Protesten wohlwollend gegenüber.
Gegen diese Mittelstandsbewegung, wohlerzogen und unbedrohlich kann die israelische Regierung natürlich nicht mit Waffengewalt vorgehen, wie sie das bei Protesten der palästinensischen Bevölkerung zu tun beliebt.
Zu erwarten war, dass sie versuchen wird, den Konflikt auszusitzen und auf das Ende der Semesterferien zu hoffen.
Was tut die Regierung?
Das Attentat auf den mit Militärs besetzten Bus bei Eilat am 19. August hat der Regierung eine Gelegenheit geboten, durch eine militärische Eskalation die Aufmerksamkeit wieder auf den einigenden bösen Feind von Aussen zu lenken. Ohne Vorliegen klarer Hinweise3, dass die Attentäter aus dem Gazastreifen stammen, wurden die dort eingepferchten Menschen mit einem massiven Bombenhagel eingedeckt und eine neue Eskalation der Auseinandersetzung provoziert.
Einige Kundgebungen wurden zwar aus Sicherheitsgründen abgesagt, doch die Protestierenden bestanden zunächst darauf, ihre Aktionen trotzdem fortsetzen zu wollen. Tendenziell hat sich für kurze Zeit sogar eine Radikalisierung eines Teils der Bewegung abgezeichnet. Im Unterschied zu der dominierenden Studierendenunion, die ein Gesprächsangebot mit einer von der Regierung ernannten Kommission (Trajtenberg commission) akzeptiert hat, verlangte eine Fraktion die Weiterführung der Proteste bis die Regierung ein klares, verbindliches Entgegenkommen zusagt. Doch in der Zwischenzeit hat die Führung der Bewegung eingewilligt, die Zeltstätten nach und nach abzubrechen. Sie erklären, mit anderen Mitteln weiter kämpfen zu wollen.
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1 Der Jüdische Nationalfonds (oder KKL = Keren Kayemet LeYisrael) ist eine parastaatliche Organisation welche in erster Linie, die durch das Gesetz über abwesende Grundbesitzer (absentee law) der palästinensischen Bevölkerung enteignetes Land verwaltet. Eine wesentliche Rolle spielte der JNF dabei, die ehemaligen Dörfer der Vertriebenen dem Erdboden gleich zu machen und auf dem Land Bäume zu pflanzen, wofür die Organisation in aller Welt Gelder sammelt. Nebenbei mag interessieren, dass David Cameron, Premierminister von Grossbritannien, bis vor Kurzem Ehrenvorsitzender der britischen Abteilung des JNF war.
2 Der Gewerkschaftsbund Histadrut rief zunächst, unter dem Druck der Ereignisse auf den 1. August zu einem «Generalstreik» auf, um ihn kurz danach in der Folge von Gesprächen mit der Regierung, wieder ersatzlos abzusagen. Die ideale Methode, eine Bewegung ins Offside zu manövrieren und zu demobilisieren. Histadrut tut auch alles um Rücktrittsforderungen gegenüber der Regierung Nethanyahu/Liebermann zu vermeiden, weil die ihr nahestehende sozialdemokratische Arbeitspartei in der Öffentlichkeit vollkommen diskreditiert ist, in den letzten Jahren einen grossen Teil ihrer Mitglieder verloren hat und damit derzeit keine Wahlalternative mehr sein kann. Sie befürchtet also, dass der rechtsradikale Rassist Liebermann bei den Wahlen im November 2013 Hauptprofiteur der Krise sein wird.
3 Israel bombardierte den Gazastreifen während einer Woche als Rache für den Anschlag von Eilat, doch bis heute weiss keiner, wer die Attentäter waren und ob sie wirklich aus Gaza stammten. Amira Hass schrieb in der Tageszeitung Haaretz vom 25. August 2011: «Gazans doubt responsibility of Popular Resistance Committees and their military wing; Egypt newspaper identifies three of attack planners as Egyptians.»