Seit Mitte Juni gehen fast täglich tausende und abertausende BrasilianerInnen auf die Strasse, um gegen Korruption und für besser öffentliche Dienstleistungen zu protestieren. Es scheint, die brasilianische Bevölkerung sei aus ihrer Lethargie, welche für die Z
eit unter Präsident Luiz Inácio Lula da Silva so typisch war, ausgebrochen. Allerdings
infiltrieren
Brasiliens Rechte und ihre Medien die Proteste auf Straßen mit Nationalismus und demagogischen Parolen. (Red.)
Von Peter Steiniger
Die Bilder sind grandios. Auf dem bisherigen Höhepunkt der Proteste am letzten Donnerstag wurden in Brasilien weit mehr als eine Million Demonstranten gezählt. Ihren Ausgangspunkt hatte die Welle vor gut zwei Wochen in Aktionen gegen höhere Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr von São Paulo. Die dem Bundesstaat São Paulo unterstellte Polícia Militar (PM) – militärisch organisierte Polizeieinheiten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung – ging mit großer Brutalität vor und verletzte zahlreiche Menschen, darunter Presseleute. An der Spitze des bevölkerungsreichsten Teilstaates steht mit Gouverneur Geraldo Alckmin einer der führenden Köpfe des rechtsliberalen PSDB (Partei der brasilianischen Sozialdemokratie). Die Öffentlichkeit reagierte, der Funke des Protests sprang über.
»Wenn der Preis nicht sinkt, bleibt die Stadt stehen« – die von der linken basisdemokratischen Bewegung für den Nulltarif (Movimento Passe Livre – MPL) ausgegebene Losung bewahrheitete sich von Protesttag zu Protesttag an immer mehr Orten. Während eine große Mehrheit friedlich demonstrierte, kam es in Rio, Brásilia und anderen Städten zu Krawallen, zum Teil mit Übergriffen und Provokationen der Polizei. Die Politik mußte auf den Druck von unten reagieren. Eilig wurden in etlichen Metropolen Fahrpreiserhöhungen rückgängig gemacht oder die Tarife sogar gesenkt. Doch längst reichten die Themen und Forderungen des immer breiteren Spektrums der Demonstranten über Ticketpreise für Bus und U-Bahn hinaus. Die Wut über die vielen Milliarden, die in Großprojekte für Fußball-WM und Olympia fließen, zum Teil in dunklen Kanälen versickern und für andere dringliche Aufgaben wie das Bildungs- und Gesundheitssystem fehlen, bricht sich Bahn. Angeprangert werden die Korruption und ein geplanter Verfassungszusatz, der die Befugnisse der Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung der damit verbundenen Delikte einschränken würde.
Aufschwung gebremst
Der Aufstand der Brasilianer zur schönsten Fußballzeit – parallel zum Confed-Cup, einem Testturnier vor der FIFA-WM im kommenden Jahr – überraschte die meisten. Dabei hatte es durchaus Vorbeben gegeben: Im Mai hatte ein Gerücht genügt, das Sozialhilfeprogramm »Bolsa Familia« würde eingestellt, daß Tausende Ärmere die staatlichen Auszahlstellen belagerten. Da ist einiges unter dem Deckel: Nach Jahren des Booms der sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt hat die Inflation angezogen. Millionen Menschen, die zur unteren Mittelschicht stießen, fürchten um den bescheidenen neuen Wohlstand. 700‘000 Familien leben noch immer in extremer Armut. Die kapitalistische Modernisierung, mit der Überwindung der Hyperinflation schon vor den Linksregierungen eingeleitet unter dem Präsidenten Fernando Henrique Cardoso, hat nicht mit den alten korrupten Eliten gebrochen. Die Militärdiktatur wurde kaum aufgearbeitet. Die versprochene Landreform stagniert, Agrokonzerne bedienen den Export. Die Arbeiterpartei (PT) besitzt aber auf nationaler Ebene keine Mehrheit und ist auf Kompromisse und Koalitionen mit der Rechten angewiesen, der Einfluß klerikaler Fundamentalisten reicht weit.
Es ist bezeichnend, daß São Paulo das Epizentrum war. Die bedeutendste Wirtschafts- und Finanzmetropole Lateinamerikas steht am Rande des Infarkts. 1,6 Millionen Pkw sind dort im letzten Jahrzehnt hinzugekommen, von Verkehrsfluß kann kaum die Rede sein. Die Mobilitätskrise senkt die Lebensqualität und trifft die Wirtschaft. »Von der Verkehrssituation zu reden, bedeutet, von der Situation der Stadt zu reden«, betonte ein MPL-Vertreter gegenüber der linken Wochenzeitung Brasil de Fato.
Unter die Bilder des politischen Erwachens und des Kampfes für ein gerechteres Brasilien mischen sich andere. »Viele, die da jetzt mitlaufen, haben noch nie einen Posto de Saude (öffentliche Gesundheitseinrichtung) von innen gesehen«, berichtet eine Aktivistin aus Brasília.
Es gibt viele, für die die Demonstrationen eine Art Kirmes oder Event sind. Und Trittbrettfahrer propagieren immer massiver mit nationalistischen Symbolen die »Rettung des Vaterlandes« vor der Korruption – und der Linken. Eine besondere Rolle bei der Durchsetzung der Protestbewegung mit irreführenden Parolen kommt den marktbeherrschenden Medien der rechtslastigen Gruppe Rede Globo zu. Von anfänglicher Kriminalisierung der Demonstranten schwenkte Globo um zum Versuch ihrer Vereinnahmung und Beeinflußung.
Rechte macht mobil
Die nationalistischen Angriffe richten sich besonders gegen Dilma Rousseff, die für die PT im Palácio do Planalto, dem Präsidentenpalast in Brasília, sitzt. Trotz Einbußen in den Umfragen steht nach wie vor eine klare Mehrheit der Brasilianer hinter »Dilma« und ihrer Politik. »Antiparteilich« ist das rechte Schlagwort, das seine Popularität dem allgemeinen Verdruß über die Parteien verdankt. Die politische Landschaft ist zersplittert, die Politik stark personalisiert und von Klientelismus und persönlicher Bereicherung geprägt. Auch die Arbeiterpartei gilt in Teilen als verbürokratisiert und abgehoben. Der Ruf »Keine Parteien« richtet sich einzig gegen die Parteien der Linken als natürliche Verbündete der sozialen Bewegungen. Neben Aktivisten aus kleineren Linksparteien oder den Kommunisten der PCdoB ist es gerade auch die Basis der pluralen Arbeiterpartei – mit einem sozialdemokratischen Zentrum, Wurzeln in der Arbeiterbewegung und verankert in progressiven kirchlichen und linksbürgerlichen Kreisen –, die sich hier einbringt.
»Antiparteiliche« griffen zuletzt, besonders massiv in São Paulo, Demonstranten mit den Symbolen linker Parteien verbal und physisch an, entwendeten und verbrannten rote Fahnen. Vertreter der Linkskräfte sprechen von einer gezielten Unterwanderung der Demonstrationen durch den PSDB, Polizeiprovokateure und faschistische Schlägertrupps. Der MPL zog sich wegen solcher »Trittbrettfahrer der Bewegung« vorübergehend von weiteren Demonstrationsaufrufen zurück. Doch die Linke gibt die Straße noch längst nicht verloren. Landesweit wird an einer gemeinsamen Strategie gearbeitet, um die rechte Unterwanderung zu stoppen.
Aus: Junge Welt, 25.6.2013