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Türkei: Die Gezi-Park-Bewegung als Vorbotin zukünftiger Klassenkämpfe

Die Gezi-Park-Bewegung ist eine neue, eigenständige soziale Bewegung. Mit über 8000 Verletzten, mehreren Tausend Verhafteten, zwölf Erblindeten und vier Toten hat sie viele Opfer zu beklagen. Diese neue Bewegung stellt auf Grund ihrer Eigenständigkeit, Vielfältigkeit und Kreativität nicht nur die konservativ-islamistische Regierung vor neue Herausforderungen, sondern auch die Linke.
(Der folgender Hintergrundartikel stammt von der Revolutionären Initiative Ruhrgebiet (RIR) und ist auf der Webseite des NaO-Prozesses (Neue Antikapitalistische Organisation) in gekürzter Fassung erschienen.)


Drei Jahrzehnte Wirtschaftsaufschwung
Die Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft hat in den letzten sieben Jahren die Kräfteverhältnisse drastisch zu Gunsten Chinas verschoben. Das ökonomische Gewicht der USA nahm stark ab, das der EU stetig. Die im Vergleich zu den imperialistischen Blöcken kleine Türkei entwickelte sich entgegen dem europäischen Trend. Ausdruck ihres sei drei Jahrzehnten anhaltenden Wirtschaftsaufschwungs ist ihr wachsender Anteil an der Weltwirtschaft (von 1,2 % im Jahr 2007 auf 1,35 % 2012). Während sich seit 1980 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der BRD und in Frankreich vervierfachte und in Spanien verfünffachte, hat es sich in der Türkei verzehnfacht. Dort brachte die Periode von 1980-2000 prozentual die höchsten Wachstumsraten, als sich durch den Militärputsch 1980, der die ArbeiterInnenbewegung zerschlug, die Ausbeutungsrate erhöhte.
 
Auch der Anstieg des BIP in der Periode Erdogans übertraf die Wachstumsraten der BRD, Frankreichs und Spaniens. Unter der neoliberalen Erdogan-Regierung stieg das Interesse ausländischer KapitalistInnen an Direktinvestitionen in der Türkei sprunghaft an, die zu 80 Prozent aus der EU stammen, wobei das Kredit-und Finanzwesen den größten Sektor bildet. Noch im letzten April empfahlen Investmentbanken die Türkei als Paradies für KapitalanlagerInnen, die meinten, mit kurzfristigen Investitionen hohe Gewinne einstreichen zu können. Doch die wirtschaftlichen Widersprüche häufen sich und können ebenso plötzlich aufbrechen wie die politischen. Das Leistungsbilanzdefizit der Türkei stieg von 15,5 Milliarden Dollar im Jahr 2002 auf 105,9 Milliarden Dollar im Jahr 2011. Zwischen 2006-2010 wuchsen die Kreditvergaben jährlich um fast 20 Prozent. Der Konsum stieg wiederum schneller als das Wirtschaftswachstum, die Sparquote fiel in den letzten sieben Jahren um 7 Prozent. Während in Griechenland seit 2007 durch die schwere Krise immer größere Schichten des Kleinbürgertums und der ArbeiterInnenklasse aus dem Wirtschaftsprozess ausgeschlossen wurden und verarmten, hat in der Türkei während des lang anhaltenden Wirtschaftswachstum die ArbeiterInnenklasse neue Kräfte schöpfen können und ihr das Gefühl gegeben, gebraucht zu werden. Das führte noch nicht zu umfangreichen offenen Klassenkämpfen, kann sich doch die Bourgeoisie auf den Kemalismus stützen, der erhebliche Teile der ArbeiterInnenklasse im Zaum hält. Die Gezi-Park-Bewegung hat nicht nur die Immobilienspekulanten in Istanbul aufgeschreckt, sondern auch das Vertrauen des Kapitals in eine „friedliche Zukunft“ ohne Klassenkämpfe erschüttert. Der Index der Istanbuler Börse fiel um 10 Prozent. Die Investoren verkauften Rententitel. Die Zinsen für türkische Staatsanleihen stiegen. Die türkische Lira verlor an Wert.
Privatisierung als Programm
Die Ursprünge der islamistischen Regierungspartei AKP liegen in der türkischen Provinz. Vor dem Militärputsch 1980 konzentrierte sich die Bourgeoisie im Wesentlichen auf die Städte Istanbul, Ankara und Izmir. In den 1980er-1990er Jahren entstand in den Provinzstädten der Westtürkei eine neue, exportorientierte Bourgeoisie, die den Staatsapparat vom alten kemalistischen Großbürgertum besetzt fand. Die erfolgversprechendste Möglichkeit neoliberale wirtschaftliche Ziele durchzusetzen, sah die Provinzbourgeoisie im Aufbau einer konservativ-islamistischen Bewegung. Nach deren Wahlerfolgen setzte die Mehrheit der Bourgeoisie auf Erdogan.
Schon vor der AKP-Regierung wurden staatliche Anteile in Land-, Forst und Bauwirtschaft, in der Chemie-, Textil-, Eisen-und Stahlindustrie verkauft. Nachdem 2002 die AKP die Regierung übernommen hatte, privatisierte Erdogan staatliche Anteile an Häfen, Dünger-, Landmaschinen-, Zucker-, Metall- und Papierfabriken, Chrom- und Silberminen, Petrochemie- und Raffinerieunternehmen und Luftfahrtgesellschaften. Das staatliche Alkohol-und Tabakmonopol fiel. Die Istanbuler Wertpapier- und Goldbörse, Staatsbanken, die Staatslotterie und zwei Bosporus-Brücken wurden privatisiert und staatliche Kraftwerke, Stromnetze, Telekom und Autobahnen verscherbelt. Davon profitierte die Bourgeoisie. Auch das türkische Rentensystem wurde abgeschafft und dem der EU angepasst d.h. verschlechtert. Dagegen gab es nur wenig Widerstand.
Großbaustelle Türkei
Heute gleicht die Türkei einer Großbaustelle. Vielerorts entstehen Fabriken, Häuserblöcke und Straßen, auch die Eisenbahn wird ausgebaut. Kein Fluss bleibt ohne Staudamm und ohne Kraftwerk. Berge werden abgetragen und in Baustoffe verwandelt. In Istanbul sind es vor allem ausländische Käufer, die die Immobilienpreise in die Höhe treiben. In internationalen Investmentkreisen herrscht Angst vor einem Platzen der Immobilienblase in der Türkei. Eine geplante Stadtentwicklung steckt in den Kinderschuhen. Ein landesweiter ArchitektInnenkongress fand zum ersten Mal im letzten Jahr statt. Notwendige Maßnahmen gegen den anschwellenden Autoverkehr in den Großstädten werden oft übergangen, der Schutz archäologischer Schätze vernachlässigt wie z.B. Hasankeeyf, das durch den Ilisudamm überflutet werden soll. Zu den Kapitalkreisen, die die AKP-Regierung unterstützen, gehört die boomende Bauwirtschaft. Dazu passen Erdogans Bauphantasien wie beim Gezi-Park, wo ein Einkaufszentrum im Stil einer otomanischen Kaserne gebaut werden sollte. Dabei sollten nicht nur ein paar Bäume einem Bauprojekt weichen, sondern es geht auch um das Verhältnis zur Geschichte, zu Islamisierung und zum Laizismus. Die Gezi-Park-Bewegung thematisierte nicht nur die Umweltzerstörung im weitesten Sinne in der Gesellschaft, sondern ist Ausdruck einer allgemeinen Unzufriedenheit mit der Regierung Erdogan. Sogar der Kampf gegen nationale Unterdrückung spielt in der Bewegung eine Rolle, da sich an ihr die BDP beteiligt.
Schleichende Islamisierung
Der lang anhaltende Wirtschaftsaufschwung wird in der veröffentlichten bürgerlichen Meinung der AKP-Regierung gut geschrieben, die z.B. den türkischen Lira stabilisiert, das Gesundheitswesen und die Landwirtschaft in der Westtürkei modernisiert habe. Auch wenn vom Aufschwung vor allem die Großbourgeoisie und die 15 Millionen kleinen und mittleren Unternehmer, Ladenbesitzer und Selbstständigen profitierten, so erhöhte sich auch der Lebensstandard für bestimmte Schichten der ArbeiterInnenklasse. Neues mit Altem verbindend, angelehnt an die us-amerikanischen Neocons, kombinierte die Regierung Erdogan ihre neoliberale Wirtschaftspolitik mit einer schleichenden Islamisierung der türkischen Gesellschaft. Erdogans „erfolgreiche“ Politik hat die Türkei in den letzten zehn Jahren nicht nur „moderner“, sondern zugleich erheblich konservativer werden lassen. Die Auswirkungen reichen vom Bau der 3. Brücke in Istanbul, die nach dem Schlächter von 40.000 Aleviten, Sultan Yavuz Selim I., benannt werden soll, über die Islamisierung des Schulwesens mit Benachteiligung von SchülerInnen, die religiösen und nationalen Minderheiten angehören, bei Prüfungen; bis zum Verbot des Alkoholverkaufs nach 22 Uhr und zum Ausblenden von Bier und Zigaretten in Fernsehfilmen selbst der 1960er Jahre. Vor allem förderte die Regierung den Bau von Moscheen, deren Zahl in den letzten zehn Jahren um 10 Prozent anstieg und durch religiöse Schulen ergänzt wird. Damit hat die AKP ihre politische und soziale Basis erheblich erweitert. In jeder Provinzstadt gibt es neben den AKP-Büros eine Vielzahl von Moscheen, die politische Zentren für die Unterstützung Erdogans sind. Dagegen ist die größte religiöse Minderheit in der Türkei, die Aleviten, noch immer nicht offiziell als Religionsgemeinschaft anerkannt. Nicht zuletzt wurde in den zwölf Jahren AKP-Regierung die Polizei islamisiert – während Armee, Luftwaffe und Marine in ihrem Kern (noch) kemalistisch-laizistisch sind. Dass die AKP immer noch türkische Industrielle, Großgrundbesitzer, KleinbürgerInnen, Schichten der ArbeiterInnen und sogar der städtischen Armut zu einem Ganzen vereinen kann, belegt die Zurückgebliebenheit der offenen Klassenkämpfe. Erst bei deren Zuspitzung kann die Hülle der religiösen Einheit zerbrechen.
Der kurdische Befreiungskampf
Die politische Lage in der Türkei wurde und wird vor allem vom Kampf der nationalen Minderheit der KurdInnen um Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung geprägt. Während die Regierung Erdogan den KurdInnen ein paar seichte Reformen anbot, deren Umsetzung sie nicht einmal eingehalten hat, setzten die kemalistischen Streitkräfte, die CHP und die faschistische MHP auf eine militärische Lösung. Doch 2008 scheiterte der Versuch der Armee, in einer Großoffensive das Hauptquartier der PKK im Irak einzunehmen. Diese entscheidende militärische Niederlage bestärkte die Regierung Erdogan darin, gegen die Armeeführung – die Bastion des Kemalismus in der Gesellschaft – vorzugehen. Die Verhaftung eines Teils des Offizierskorps in Folge des Ergenekon-Skandals und die Ersetzung der Militär- durch die Zivilgerichtsbarkeit waren die zweite große Niederlage des kemalistischen Militärs. Durch den Bürgerkrieg in Syrien hat sich die Frontlinie zur kurdischen Befreiungsbewegung von 350 km zum Irak um weitere 900 km zu Syrien verlängert. Die KämpferInnen der PKK konnten nicht nur eine türkische Provinzstadt erobern und tagelang halten; es entstanden befreite kurdische Gebiete in Syrien unter Kontrolle des kurdischen Nationalrates. Die Erdogan-Regierung war aber vor allem deshalb zu offiziellen Friedensverhandlungen mit den „Terroristen“ gezwungen, weil die kurdische Befreiungsbewegung Syriens fast alle dort in kurdischem Gebiet liegenden Grenzübergänge zur Türkei kontrolliert. Die türkische Regierung will ungehindert den Nachschub für ihre Verbündeten „al Nusra Front“ und „der Islamische Staat des Iraks und Syriens“ durch die kurdischen Kontrollposten bringen. Die kurdische Befreiungsbewegung führt jedoch den härtesten Kampf gegen die Islamisten, die versuchen die kurdischen Gebiete zu erobern. Dass es hier zu einer Einigung zwischen Erdogan und der PYD kommt, ist mehr als unwahrscheinlich. Der Abzug der kurdischen KämpferInnen aus der Türkei ist der erste Schritt eines Friedensabkommens. Dafür durfte die kurdische Bewegung offiziell das Newroz-Fest feiern, das mit 1 Millionen TeilnehmerInnen in Istanbul und mit über 1 Mio. TeilnehmerInnen in Diabakyr überaus beeindruckend ausfiel – eine riesige eigenständige Bewegung, die angeführt wird von der BDP, aber nicht identisch mit ihr ist. Der kurdische Befreiungskampf hat der ganzen Türkei gezeigt, dass es möglich ist, sich gegen die Herrschenden durchzusetzen. Die Gezi-Park-Bewegung brauchte erst gar nicht nach dem Vorbild der arabischen Revolution zu schauen, sondern fand das erfolgreichste Beispiel für Widerstand im eigenen Land.
Parlamentarische Demokratie mit auroritären Zügen
In der Türkei existieren Gewerkschaften, politische Vorfeldorganisationen revolutionärer Parteien (die selbst illegal sind), revolutionäre ArbeiterInnenvereine, linke Zeitungen, Druckereien und Verlage usw. Dass die Arbeiterdemokratie ständig erheblichen Einschränkungen, Verboten und Repressalien ausgesetzt ist, liegt nicht an der Heftigkeit der Klassenkämpfe, sondern an der besonderen Repression des bürgerlichen Regimes gegenüber der kurdischen Befreiungsbewegung. Obwohl in der Türkei eine parlamentarische Demokratie vorhanden ist, führen gleichzeitig Bürokratie, Polizei und Streitkräfte einen permanenten Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung, der die ganze Gesellschaft prägt. Das ergibt eine Kombination von bürgerlich-parlamentarischer Demokratie mit stark autoritären Zügen. Sie hält hiesige Politiker weder davon ab, die Türkei als „Demokratie“ zu preisen, noch die Ausnahmegesetze für türkische und kurdische revolutionäre Organisationen auf die BRD auszudehnen. Mit dieser im Unterschied zur BRD oder selbst zu Griechenland erheblich autoritäreren Grundstruktur wurde die Gezi-Park-Bewegung konfrontiert. Sie wurde von der Erdogan-Regierung ohne Zögern als linke Protestbewegung identifiziert und angegriffen, auch wenn sie sich selbst nicht so sah. Bilder, die darauf ein Schlaglicht werfen, zeigen das Piano eines Musikers, das für zwei Tage beschlagnahmt wurde, weil er auf dem Taksim-Platz gespielt hatte, und den die DemonstrantInnen behandelnden Arzt, der in Handschellen abgeführt wurde. Unter solchen Unterdrückungsverhältnissen kann der Kampf um demokratische Rechte eine ungeahnte politische Sprengkraft entwickeln. Während die Gezi-Park-Bewegung mit Schlagstöcken, Tränengas, Wasserwerfern, Schusswaffen, Messern, Verhaftungen und Versammlungsverboten attackiert wird, bekamen Erdogans Anhänger für seine Großkundgebungen von ihren Unternehmern frei, wurden umsonst mit Bussen und Schiffen angekarrt und von der Polizei zur Kundgebung geleitet. Dort hetzte der Regierungschef vor mehreren Hunderttausend AnhängerInnen gegen die DemonstrantInnen als „Vagabunden“ und „Terroristen“. Doch jede seiner Kundgebungen machte den Gegensatz zu den Demonstrationsverboten sichtbarer. Auf seiner Seite hat Erdogan die bürgerlichen Medien. Die vielen türkischen Fernsehsender berichten im Sinne der AKP, d.h. anfangs überhaupt nicht oder zeigten wie CNN-Türk Tierfilme mit Pinguinen. Die Presse übt weitgehend Selbstzensur, wenn sie z.B. Konzernen der Bauwirtschaft gehört oder im Energiebereich tätig ist, also von Aufträgen der Erdogan-Regierung abhängig ist. Gleichwohl haben vier Fernsehsender umfangreich über die Gezi-Park-Bewegung berichtet, wie das bei den „demokratischen“ Sendeanstalten der Bundesrepublik kaum möglich wäre, und mussten für „einseitige Berichterstattung“ Geldstrafen zahlen. Auch ist in der Türkei (und in Deutschland) mit Yol-TV ein wirklich linker Fernsehsender zu empfangen, wie es ihn in der deutschsprachigen Fernsehlandschaft nicht gibt. Gefährlich sind die Messerattacken von Anhängern der AKP auf DemonstrantInnen in Istanbul und anderswo, der Sturm von AKP-Anhängern auf ein CHP-Büro in Istanbul und der Angriff eines Mobs auf eine griechische Schule in Istanbul, die im Beisein der Polizei ungehindert niedergebrannt wurde. Hier organisiert sich unter den Unterstützern Erdogans eine Terrorbande, die in der Wut vieler Geschäftsleute über die starken Umsatzeinbußen durch die Proteste ihren Rückhalt findet und die schon morgen Pogrome gegen religiöse und nationale Minderheiten anzetteln könnte. Die Repression zeigt aber auch eine gewisse Hilflosigkeit der Regierung auf, die mit der Gezi-Park-Bewegung nicht fertig wird.
Die Gezi-Park-Bewegung
Die Gezi-Park-Bewegung begann ursprünglich mit 50 Protestierenden. Die Bewegung zog schnell breite Kreise. Selbst Fans der großen Istanbuler Fußballvereine schlossen sich an. Nach drei Tagen nahmen auch die linken Organisationen an der Bewegung teil. Das half, die Angst gegenüber der Polizei zu überwinden. Gegenseitige Hilfe war selbstverständlich, niemand wurde zurückgelassen. Anfangs waren die Mehrheit der Teilnehmenden unter 30 Jahre alt, überwiegend Jugendliche der 1990er-Generation. Viele kamen aus Mittelstandsvierteln. Früher hatten sie vor dem Fernseher gesessen oder im Internet gesurft. Jetzt gingen sie in dem Gefühl auf die Straße, im Recht zu sein und wurden darin noch von ihren Eltern bestärkt, was früher in vielen Familien undenkbar gewesen wäre. Die meisten waren StudentInnen, darunter viele Graduierte, die in Istanbul zu 20-25 % erwerbslos sind. Im Kern ist die Gezi-Park-Bewegung eine Bewegung der kritischen Intelligenz, die besonders unter dem erstickenden Klima der Unfreiheit und der Intolleranz leidet. Die Gezi-Park-Bewegung ist keine „linke Bewegung“ oder Aktionseinheit, wie sie z.B. zum 1. Mai von linken Organisationen gebildet wird. Sie ist eine eigenständige, demokratische, soziale (Massen)bewegung, die neue Formen der Aktion und der Diskussion fand, die nicht den herkömmlichen Gepflogenheiten der linken Organisationen entsprachen. Viele TeilnehmerInnen demonstrierten zum ersten Mal in ihrem Leben. Gegen den massiven Polizeiterror wurden „asymmetrische“ Protestformen genutzt, wie Musikkonzerte, demonstratives Schweigen als „stehender Mensch“, Tee, Blumen und Ansprache wie „ich habe auch Dich zur Welt gebracht“ an Polizisten; die Staatsfahne mitgeführt, was nicht nur die Polizei, sondern auch viele Linke verstörte. Mit ihren neuen Protestformen konnte die Bewegung Hunderttausende und Millionen im ganzen Land mobilisieren. Gleichzeitig tauchten radikale Aktionsformen wie z.B. Bau von Barrikaden auf, um sich gegen die Polizeigewalt zu verteidigen. Hier traf sich die revolutionäre Linke mit Teilen der 1990er-Generation. UnterstützerInnen der kemalistischen CHP demonstrierten „Schulter an Schulter“ neben denen der kurdischen BDP, um die beiden politischen Pole zu benennen. Nach der Räumung des Gezi-Parkes bildeten sich zeitweise in 15 Istanbuler Parks „Kommunen“ mit bis zu viertausend TeilnehmerInnen. Alles war selbst organisiert. Oft wurde im Internet um Hilfe gebeten, die prompt von außen eintraf. Es gab vieles von der medizinischen Versorgung bis zum Gebetszelt, vom Helm bis zur Gasmaske. Alle DemonstrantInnen einte die Forderung nach Rücktritt der Regierung Erdogan. Jeden Tag wurde vier Stunden auf Volksversammlungen diskutiert und demokratisch entscheiden, welche Aktionen am nächsten Tag unternommen werden, wie Nahrungsmittel beschafft werden, wie mensch sich gegen die Polizei wehrt usw. Nach ein paar Tagen wurden die bisherigen älteren Sprecher, die nicht die Stimmung der Masse der jungen TeilnehmerInnen trafen, ersatzlos abgelöst und alle Entscheidungen basisdemokratisch von der Vollversammlung getroffen. Die Bewegung empfand sich selbst weder als laizistisch noch kommunistisch, sondern als „demokratisch“. Viele organisierte Linke, die zu den Treffen kamen, mussten erst einmal zuhören. Doch die Radikalisierung der Bewegung wird unweigerlich viele ihrer jungen TeilnehmerInnen zu linken Positionen und Organisationen führen. Die Gezi-Park-Bewegung verfügte im Internet über einen Radio-, zwei Fernsehsender und eine Zeitung, kommunizierte über facebook und SMS (die von der Polizei überwacht und für Verhaftungen genutzt wurden). Mit ihrer Hilfe verbreiteten sich die Proteste über die ganze Türkei. Die Bewegung war nicht mehr von der Regierung zu kontrollieren. So sollen anfangs in Antalya ca. 100.000 DemonstrantInnen demonstriert haben. Selbst in kleinen Provinzstädten in Zentralanatolien fanden Kundgebungen mit ein paar Tausend TeilnehmerInnen statt, wenn auch nur für wenige Tage. In den meisten Städten erschienen 2-3 Wochen lang am Abend tausende Menschen auf Balkonen, um durch das Schlagen von Kochlöffeln auf Töpfen, das An-und Ausschalten des Lichts und mit Trillerpfeifen ihre Solidarität mit der Gezi-Park-Bewegung zu bekunden. Bisher führte die Erdogan-Regierung Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung und bekämpfte das kemalistische Militär. Mit der Gezi-Park-Bewegung trat eine neue Gegnerin auf die politische Bühne. Es ist nicht die Bewegung einer sozialen Klasse, sondern im Kern eine Bewegung der kritischen Intelligenz. So wie die KurdInnen demokratische Rechte und Gleichberechtigung verlangen, so braucht die Intelligenz ein Klima von Freiheit, um atmen und denken zu können.
Repression gegen Frauen
Viele der Teilnehmenden der Gezi-Park-Bewegung sind junge Frauen, die öffentlich für die Bewegung Stellung nehmen. Die Reaktion auf das Engagement von Frauen waren nicht nur sexistische Übergriffe der Polizei gegen verhaftete Demonstrantinnen, die auch durch die bürgerlichen Medien gingen. Erdogans Antwort auf ihre Proteste war, dass er seine Aufforderung an Frauen, drei Kinder zu gebären, zurücknahm, um sie nun aufzufordern, fünf Kinder zur Welt zu bringen. Die Gebühren für Kindertagesstätten waren bereits verdoppelt worden. Im Kern ist darin Erdogans reaktionäres Weltbild enthalten: Die Frau gehört an den Herd – und mit drei oder fünf Kindern kann keine Frau gleichzeitig berufstätig sein. Das passt nicht unbedingt zu den Anforderungen des Kapitals. Immerhin stieg der Anteil der berufstätigen Frauen von 22,3 Prozent aller Frauen im Jahr 2005 auf 28,7 Prozent 2012, wobei AKP-nahe Unternehmer häufig nur Frauen mit Kopftuch einstellen.
Gezi-Park-Bewegung und ArbeiterInnenbewegung
Viele Menschen zogen in den letzten Jahrzehnten vom Land in die Städte, wo sie Arbeit fanden. Der Anteil der Beschäftigten im Agrarsektor sank von der Hälfte aller Beschäftigten im Jahr 1980 auf ein Drittel im Jahr 2004. Die ArbeiterInnenklasse in der Westtürkei umfasst heute 25 Millionen ArbeiterInnen und Angestellte, zu denen noch 10 Millionen Beamte hinzukommen. Daneben existiert die städtische Armut. Eines der wichtigsten Ergebnisse der Gezi-Park-Bewegung war der Funke, der auf die organisierte ArbeiterInnenbewegung übersprang. Die Gewerkschaftsverbände DISK und KESK, unterstützt von den Berufsvereinigungen TMMOB, TTB und TDB, mobilisierten am 17. Juni nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 1 Millionen und 10 Millionen Menschen. Demonstrationen und Kundgebungen gab es in allen größeren Städten der Türkei. Dabei wurde z.B. die GewerkschafterInnen in Istanbul eingekesselt und die öffentlichen Verkehrsmittel (Metro, Busse) von der Stadtregierung eingestellt, um die GewerkschafterInnen nicht zu ihrer Kundgebung kommen zu lassen. Die Verbindung der Gezi-Park-Bewegung mit der organisierten ArbeiterInnenbewegung war nur ein Anfang. Zwischen europäischen Sozialprotesten und arabischer Revolution könnte die ArbeiterInnenklasse in derTürkei beides miteinander verbinden. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte könnte der Protest der kritischen Intelligenz zur Vorbotin zukünftiger Klassenkämpfe werden.
 

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