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Ukraine: Neoliberale Schocktherapie

Nimmt man die bisherigen Äußerungen von Funktionären des Internationalen Währungsfonds (IWF) für bare Münze, dann müssen die Bürger der Ukraine künftig wohl neue Löcher in ihre Gürtel bohren, um sie noch enger zu schnallen als bisher ohnehin üblich. Er sei von dem Reformeifer der neuen Machthaber „positiv überrascht“ worden, erklärte der Chef der Europa-Abteilung des IWF, Reza Moghadam, nach einer Ukrainevisite Anfang März. Die neuen Autoritäten in Kiew seien wild entschlossen, eine „Agenda wirtschaftlicher Reformen“ in Angriff zu nehmen, so Moghadam.


Tomasz Konicz, Telepolis
Was hierunter zu verstehen ist, machten Mitglieder der Übergangsregierung schon kurz nach dem Umsturz in Kiew deutlich. Ende Februar kündigte Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk „unpopuläre Maßnahmen“ an, mit denen die Ukraine „aus der finanziellen Krise geführt“ werden solle. Hierunter verstand Jazenjuk konkret Einsparungen im Staatshaushalt, die durch Entlassungen und Lohnkürzungen im Öffentlichen Dienst und im Beamtenapparat realisiert werden sollen.
Anfang März, kurz vor der Visite des IWF-Funktionärs in Kiew, wurde Jazenjuk noch deutlicher, indem er eine totale Unterordnung der Übergangsregierung unter die Weisungen des Währungsfonds ankündigte. Seine Administration werde „alle Auflagen des IWF erfüllen“, erklärte der Regierungschef wenige Stunden vor dem Eintreffen der Delegation des Währungsfonds laut einem Bericht der Financial Times (FT). Diese servile Haltung ist nach Jazenjuk auf einen einfachen Grund zurückzuführen: „Wir haben keine anderen Optionen.“ Hierbei brachte der Ministerpräsident die geschwächte Verhandlungsposition der neue Übergangsregierung zur Sprache, die nicht mehr zwischen Ost und West lavieren kann, sondern die Forderungen des Westens erfüllen muss, um politisch zu überleben.
Der ukrainische Regierungschef machte diese Bemerkungen laut FT vor einem „Treffen europäischer Geschäftsleute in Kiew“, die offensichtlich bereits die Möglichkeiten für Investitionen und Aufkäufe in der Ukraine aus erster Hand ausloten wollten. Jazenjuk war offenbar entschlossen, seine illustre Zuhörerschaft nicht zu enttäuschen. Er werde die „Privatisierung von Teilen des Erdöl- und Gassektors der Ukraine“ in Erwägung zeihen, beteuerte der Ministerpräsident. Hierbei handele es sich immerhin um „strategische Aktivposten der Ukraine“, bemerkte die FT.
Die Übergangsregierung der Krim will einem Bericht der „Stimme Russlands“ zufolge bereits erste Details dieser Privatisierungswelle erfahren haben. Demnach würde das ukrainische Gasnetz an den US-Konzern Chevron gehen, während deutsche Konzerne sich in die ostukrainische Schwerindustrie einkaufen sollen. Zudem solle die Aufhebung des Verkaufsverbots landwirtschaftlicher Nutzflächen an Ausländer es westlichen Investoren ermöglichen, schnell Zugriff auf die weltweit besten Schwarzerdeböden zu erhalten. Eine Stellungnahme der ukrainischen Übergangsregierung zu diesen – unbewiesenen – Behauptungen der Führung der Krim liegt nicht vor.
Neben dem Kahlschlag im öffentlichen Dienst und dem Ausverkauf staatlicher „strategischer Aktivposten“ im Energiesektor beharrt der IWF auf der Aufhebung des festen Wechselkurses zwischen der ukrainischen Währung und dem US-Dollar. Ein dadurch ausgelöster Währungsverfall käme einer Enteignung der Sparguthaben in der Ukraine gleich, da die Inflation rasch anschwellen dürfte. Zudem würde hierdurch die Übernahme von ukrainischen Staatsbetrieben, Agrarflächen, Immobilien und Unternehmen für westliches Kapital viel billiger werden. Je weiter die ukrainische Währung gegenüber dem Euro verfällt, desto günstiger können sich deutsche und europäische Konzerne dort einkaufen, da für gewöhnlich die Immobilien- und Bodenpreise einer raschen Inflationsentwicklung immer etwas hinterherhinken.
Das Sparprogramm in der Ukraine wird angesichts des Haushaltsdefizits von 7,2 Prozent (2012) hart ausfallen, da nachfrageorientierte Politikansätze (wie Konjunkturpakete) für den Währungsfonds nicht infrage kommen. Die ärmsten Bevölkerungsschichten werden durch die bereits als sicher geltende Abschaffung der Subventionen für Erdgas am stärksten belastet werden. Die Energiesubventionen in der Ukraine funktionieren genau spiegelverkehrt zu denen in Deutschland: Während Unternehmen den vollen Gaspreis zu zahlen haben, müssen Privathaushalte nur 16 Prozent der tatsächlichen Kosten tragen. Schließlich werden die Rentner der Ukraine entweder Kürzungen ihrer ohnehin mageren Renten hinnehmen oder die Bevölkerung wird sich auf ein höheres Renteneinstiegsalter gefasst machen müssen.

Neoliberale Schocktherapie

Dass bei der Durchsetzung dieses Sozialkahlschlags und Ausverkaufs ein an eine neoliberale „Schocktherapie“ erinnerndes Tempo eingeschlagen werden soll, wird an der überstürzten Ankündigung der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU deutlich. Dieses soll schon in der kommenden Woche unterzeichnet werden.
Dies haben offensichtlich Kanzlerin Merkel und der polnische Ministerpräsident Tusk in Warschau beschlossen, was übrigens ein bezeichnendes Licht auf die Entscheidungsprozesse in der „Europäischen Union“ wirft. Als ein Zeichen des „guten Willens“ hat Brüssel bereits jetzt die Zölle gegenüber der Ukraine ausgesetzt.
Mit der überstürzten Abschaffung der Zölle und der Einführung des Freihandels dürften „viele Bereiche der ukrainischen Wirtschaft extrem unter Druck geraten“, wie es etwa die Nachrichtenagentur AP vorsichtig formulierte. Viele ukrainische Unternehmen werden tatsächlich der europäischen Konkurrenz schlicht nicht gewachsen sein; sie werden entweder Bankrott gehen oder zu einem Spottpreis von ihren westlichen Konkurrenzen übernommen werden. Die östliche Ukraine würde so mit Deindustrialisierung und rasch anschwellender Arbeitslosigkeit konfrontiert, um hiernach zu einer verlängerten Werkbank westlicher Konzerne zugerichtet zu werden. Ähnliche Prozesse dürften auch im Agrarsektor ablaufen.
Sollte dieser Austeritätskurs in der sich abzeichnenden Brutalität tatsächlich umgesetzt werden, dürfte er überdies die zunehmenden separatistischen Tendenzen in der Ostukraine befeuern und den drohenden Zerfall des krisengeschüttelten Landes wahrscheinlicher machen. Die verarmte Bevölkerung in der deindustrialisierten Westukraine hat kaum noch was zu verlieren, während im Osten der große Kahlschlag mitsamt massiven Entlassungswellen droht, die einen enormen Verelendungsschub auslösen dürften.
Es scheint wahrscheinlich, dass die Übergangsregierung möglichst viele der sozialen Grausamkeiten und Weichenstellungen bis zum Wahltermin im Mai durchpeitschen wird, da keiner der derzeitigen Akteure im Kabinett langfristige politische Ambitionen hegt und diese Regierungsmannschaft folglich nach dem Urnengang einfach auf die politische Müllhalde entsorgt werden wird. „Ich werde wahrscheinlich der unbeliebteste Ministerpräsident der Geschichte sein“, witzelte Jazenjuk kurz nach Regierungsantritt. Zudem dürfte die kommende Regierung hierdurch in vielen Politikbereichen vor vollendete Tatsachen gestellt werden.

Folgen der Rosskur sind in Ost- und Südeuropa zu sehen

Was auf die ukrainische Industrie zukommt, kann am Beispiel der mittelosteuropäischen EU-Länder begutachtet werden. Sie verfügen über keine nennenswerte heimische Industriebasis mehr, sondern dienen als Billiglohnstandorte westlicher – insbesondere deutscher – Konzerne (Deutsch-Mittelost). Polen, das als osteuropäischer Musterschüler unter den Transformationsländern gilt, weist immer noch eine Arbeitslosenrate von 14 Prozent aus.
Umfassende Haushaltskürzungen, Belastungen von sozial Schwachen, überstürzte Privatisierungen – diese verhängnisvolle Rosskur „kommt einem bekannt vor“, stellte das Wall Street Journal fest. Man sollte die „Kalte-Kriegs-Rhetorik ignorieren“. Die Situation in der Ukraine erinnere „an Griechenland im März 2010 und Zypern Anfang 2013“, hieß es in dem Blogbeitrag. Alle „Hilfen“ seien mit der „berüchtigten Konditionalität“ versehen, die Kredite an Haushaltskürzungen und Strukturreformen geknüpft habe.
Die Ergebnisse dieser Rosskur in Südeuropa sind bekanntlich desaströs. Tatsächlich scheinen die Parallelen zwischen Ukraine und Südeuropa unübersehbar, da auch der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble sich mit den üblichen Forderungen nach harten Sparmaßnahmen gemeldet hat. „Voraussetzung für Hilfen sind immer die notwendigen Reformen, die die Ukraine auf den Weg bringen muss. Für diese Konditionalität als Voraussetzung für Hilfen steht der IWF. Insofern ist es Position der Bundesregierung, dass es in diesem Prozess einer starken, koordinierenden Rolle des IWF bedarf“, sagte der Sprecher des Finanzministeriums, Hans Joachim Narzynski, während einer Pressekonferenz am 28. Februar.
Alle scheinbar großzügigen Finanzierungsversprechen, die bislang der Ukraine gemacht wurden, sind an diese eine Voraussetzung gebunden: den Abschluss eines Strukturanpassungsprogramms mit dem IWF. Dies gilt etwa für die von der EU-Kommission angebotenen Kredite in Höhe von 11 Milliarden Euro, die laut Reuters „vielleicht zufällig der Summe entsprechen, die Russland der Ukraine angeboten hatte, bevor die Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch“ gestürzt wurde.
Diese „Hilfen“ würden nur im Fall der Durchführung „umfassender Reformen und der Unterzeichnung eines Deals zwischen der Ukraine und dem Internationalen Währungsfonds“ ausgezahlt. Ähnlich äußerte sich die Weltbank, die im Gegenzug für „Reformen“ einen Kredit von drei Milliarden US-Dollar zusagte.
Dabei haben der IWF und Kiew schon eine längere, von Spannungen und Brüchen gekennzeichnete Geschichte aufzuweisen. Nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise musste die Ukraine, wo 2008 eine von europäischen Banken befeuerte Schuldenblase platzte, auf Kredite des IWF im Umfang von 16,4 Milliarden US-Dollar zurückgreifen, um die Eskalation der damaligen Schuldenkrise abzuwenden. Das Programm wurde nach einem Jahr wieder eingefroren, weil sich Kiew – damals noch unter der Regierung Julia Timoschenko – weigerte, die Bedingungen des IWF zu erfüllen.
Auch damals ging es um eine Abschaffung der Gassubventionen und um die Freigabe der Währung. Einen ähnlichen Verlauf nahm ein zweites Kreditprogramm, dass 2010 zwischen Janukowitsch und dem IWF abgeschlossen wurde. Beim dritten Anlauf schient nun der IWF am Ziel.

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