Corbyn hat gesagt, dass es in seiner Kampagne darum geht, die Labour Partei in eine soziale Bewegung zu verwandeln. Dies ist die einzige Chance, die er hat.
Jeremy Corbyn, der dem linken Flügel der Labour Party angehörende Abgeordnete aus Islington, wurde in der ersten Runde mit 59.5 Prozent zum Parteivorsitzenden gewählt.
Genauso bemerkenswert: die strikte Blairistin, Liz Kendall, welche als Kandidatin von den rechten Medien unterstützt wurde, erhielt nur 4.5 Prozent der Stimmen. Die Labour Party hat jetzt den am stärksten linksgerichteten Parteivorsitzenden seit George Lansbury im Jahr 1930.
Das ist weitaus besser als alles, was wir hätten erwarten können. In der ersten Rede von Corbyn als Parteivorsitzender gab er einen durchweg linken Ton an. Er hiess die neuen wie auch die alten Mitglieder willkommen, welche durch den Blairismus vertrieben wurden. Er griff die Anti-Gewerkschaftsgesetze der Tories an, setzte sich für den Sozialstaat ein, attackierte das Murdoch-Imperium und verteidigte Geflüchtete. Sein erster Akt als Parteivorsitzender war die Teilnahme an einer Pro-Flüchtlingsdemo im Zentrum Londons, bei welcher er begeistert willkommen geheissen wurde.
Für den Moment beruhen viele der Reaktionen auf ein völlig gerechtfertigtes Tränenvergiessen der Blairist/innen. Deren gesamte Tyrannei, moralische Erpressung und Herablassung vermochten weder ihre Angst zu verbergen, noch die Parteimitglieder zu entmutigen, welche durch eine einmalige sowie unerwartete Möglichkeit angezogen wurden und es gründlich satt haben, dass der undemokratische, geschäftsleitende Pöbel an der Spitze der Labour Partei von oben herab über sie spricht.
Jetzt ist Zeit zu feiern. Das ist unser Oxi. Oxi zu Austerität, Oxi zum Blairismus, Oxi zur gelenkten Politik, Oxi zu den Medien, welche sich der Angstmacherei zuwandten, als Corbyn plötzlich Chancen zugerechnet wurden. Oxi zu Rassismus und Politiker*innen, welche ihn salonfähig machen, Oxi zum neoliberalen Konsens.
All dies war vor einigen Monaten noch buchstäblich undenkbar. Anfänglich hatte Corbyn keinen Grund zu erwarten, dass er gewinnen würde. Die allgemeine Meinung an der Spitze der Partei war, dass die Wähler*innen Ed Miliband abgelehnt haben, weil er zu weit links stand. Dies war der Konsens, welcher der “Blue Labour“ Apparatchik Jon Cruddas vor ein paar Monaten pseudowissenschaftlich zu bekräftigen versuchte.
Warum aber hiessen die Labour Abgeordneten Corbyn überhaupt erst als Kandidaten gut und nahmen ihn auf den Stimmzettel? Wegen der Scottish National Party (SNP) und den Grünen. Wegen der Furcht davor, dass Grossbritannien seine eigene Syriza oder Podemos Partei erhalten könnte. Durch die Nominierung von Corbyn wollte die Labour Partei demonstrieren, dass sie noch immer eine heterogene Partei sei, welche der Linken einen Platz bietet.
Wie Paul Mason aufzeigt, hatten sie die Wut und die Untergrundradikalisierung der Basis unterschätzt. Sie glaubten zu sehr an ihren eigenen Unsinn, dass die Wähler*innen an den rechten Positionen festhalten würden. Der Hauptgrund für die Niederlage von Ed Miliband 2015 war, dass vornehmlich junge Wähler*innen aus der Arbeiterklasse, die im Vorfeld sagten, sie würden an den Wahlen teilnehmen und für Labour stimmen, dies schliesslich doch nicht taten.
Wenn sie überhaupt wählen gingen, dann wählten sie die Grünen oder Plaid Cymru (Party of Wales) oder die SNP oder eine der anderen alternativen und reformistischen Parteien.
Es wird oft von Marxist*innen angenommen, dass kapitalistische Krisen polarisierende Ereignisse seien. Dies ist nicht immer ganz zutreffend. Im britischen Kontext war der dominierende Reflex, eine beruhigende Mitte zu suchen und das Vertrauen in eine korrekte , moderate Figur zu stecken, welche zumindest einigermassen ehrlich und gerecht in der Handhabung der Krise sein würde.
Das war die Grundlage für den kurzlebigen und bedauernswerten Cleggasm, welcher die Liberalen in eine Koalitionsregierung trieb. Mit der Beschleunigung und Vertiefung der Austerität wurde die Polarisierung jedoch bald deutlich sichtbar: Zunächst einmal mit der Student*innenbewegung von 2010 und anschliessend mit dem Rechtsruck in Folge der Krawalle in England im Jahr 2011.
In den folgenden Jahren wurde die Linke erstickt, unterstrichen durch eine fortlaufende moralisierende Panik und ein rasantes Anwachsen der Wähler*innenstimmen für die rassistische Formation UK Independence Party (UKIP). Erst jetzt, acht Jahre nach der Finanzkrise, nach der am längsten anhaltenden Abnahme des Lebensstandards seit dem Krieg, nach Jahren der Leistungskürzungen, insbesondere bei den jungen Menschen, welche weiter anhalten werden, hat die Polarisierung die Linke begünstigt.
Dieser Gewinn beruht darauf, dass der rechte Flügel von Labour seine eigene inhärente Zerbrechlichkeit unterschätzt hat, etwas, dass sowohl situativ (die Niederlage in Schottland schwächte sie massgeblich), als auch strukturell (die traditionellen Strukturen der politischen Führung verlieren in allen kapitalistischen Demokratien an Boden) bedingt ist. Die Zerbrechlichkeit erklärt, warum ein kleiner Riss in der Rüstung der Rechten ausreichend war, um es Corbyn zu ermöglichen, bis zum Sieg gebracht zu werden.
Es liegt nicht daran, dass die Linke stark ist, es liegt daran, dass die Rechte in Labour ideologisch nichtssagend und historisch sinnlos ist. Es gab eine Zeit, als die Blairist*innen wie eine dynamische Kraft in der Labour Partei erschienen und einige Aspekte ihrer Rhetorik über die Demokratisierung und Reformierung der Partei ein wirkliches Problem zu berühren schienen. Jetzt wirken sie nur noch arrogant und monoton.
Jede*r welche*r die Debatten zwischen den führenden Kandidat*innen gesehen hat, konnte feststellen, wie brav, trostlos und substanzlos der rechte Flügel der Labour Partei geworden ist.
Ein anderer Faktor ist Corbyn selbst, dessen einmalige Kombination von Tugenden ihm in diesen Wahlen Vorteile verschaffte. Er ist nicht der charismatischste Redner, aber er ist auf charmante Weise frei von Ego. Aufgrund seiner dezenten Art neigen Interviewer dazu, ihn zu unterschätzen, aber er hat Dekaden an Erfahrungen als Parlamentarier, was sich in seinen Medienauftritten zeigte.
Seine Jahrzehnte an Aktivismus machen ihn buchstäblich “unwählbar“ für das Westminster Establishement, aber es bedeutet auch, dass er in einer Form der populären Politik versiert ist, welche von der alten Elite der Partei, geführt von professionellen und bezahlten politischen Söldnern, aufgegeben wurde.
Jetzt, da Corbyn gewonnen hat, haben die Blairist*innen bereits begonnen zurückzuschlagen. Mehrere Mitglieder der ehemaligen Fraktionsspitze sind entweder zurückgetreten oder haben klar gemacht, dass sie nicht Teil eines Corbyn-Kabinetts sein wollen. Labour Apparatchiks und Experten jammern von ihren Kanzeln aus über den Untergang.
So erklärt Andy McSmith, ein Journalist, welcher der Labour Hierarchie nahesteht, ihre Perspektive:
„Die Kritik an Corbyns Labour hat sich bis jetzt verhältnismässig zurückhaltend geäussert. Sie sagen, dass sie nichts gegen Jeremy persönlich haben, dass er ein netter Typ ist und sie nur seiner Politik widersprechen. Wie auch immer, sie sind keine drei Pfund Ausflügler, deren Vorstellung von politischem Engagement darin besteht, sich anzumelden, für Corbyn zu stimmen und es ihren Kolleg*innen via Facebook zu erzählen; Sie sind professionelle, welche ihr Arbeitsleben in die Labour Partei investiert haben. Sie wollen wieder in die Regierung.“
Dabei muss gesagt werden, dass diese Leute, welche das System – in dem man sich als “Unterstützer*innen“ registrieren lassen kann und eine Stimme bei den Wahlen hat – ausgearbeitet haben, dieses jetzt verhöhnen und die Wähler*innen als blosse Klickaktivist*innen verspotten.
Die Wahrheit ist, dass sie darüber wütend sind, dass diese Wähler*innen eben gerade nicht blosse Klickaktivist*innen sind. Sie stimmen nicht nur “like“, “retweet“ und “share“. Ihre Onlineaktivitäten leiteten eine landesweite Kampagne von Massenkundgebungen und Agitation ein, welche zeitweise einer sozialen Bewegung glich.
Und das ist das Problem: Die “Professionellen“, welche die Labour Partei gekidnappt haben, wollen keine aktiven Mitglieder; sie wollen eine passive Mitgliederbasis, welche die Labour Position fest in der Rechten verankert und in der Parteimaschine als Goldesel und Wahl-Vieh fungieren soll. Ihr Weg Politik zu betreiben, ist gefährdet und sie werden erbittert darum kämpfen, die Kontrolle zu behalten.
Trotz des überwältigenden Siegs Corbyns in alle Sektionen von Labour, hat die Lage etwas unglaublich fragiles. Sicherlich, das starke Resultat und das erbärmliche Abschneiden von Kendall bedeutet, dass es nicht möglich sein wird, Corbyn unverzüglich abzusetzen. Die Parteimaschinerie will Stabilität und Legitimität in den Abläufen und nicht eine chaotische Saalschlacht nach den Wahlen. Es scheint unwahrscheinlich, dass die Blairist*innen nach einer so jämmerlichen Wahlschlappe tatsächlich die Partei verlassen werden – wenn sie es tun würden, würden sie sich bloss von der Schiffsplanke stürzen.
Die Blairist*innen und ihre Verbündeten werden warten. Sie werden ihre Wunden pflegen und ihre Leute in Position bringen und auf den Moment warten, in dem sie handeln können. So haben Corbyn und seine Unterstützer*innen eine Frist, die jedoch nicht sehr lange dauern wird, in der sie sich in Position bringen und auf den bevorstehenden Grabenkampf vorbereiten können. Diese Frist gibt ihnen auch die Möglichkeit, ihre Unterstützer*innen zu nominieren und in die Parteigremien wählen zu lassen, zu beginnen, Konzepte für einen demokratischen Wandel in der Partei auszuarbeiten und sich auf die Auswahl der Kandidat*innen für die nationalen und lokalen Wahlen vorzubereiten.
Denn es wird ein Krieg in der Labour Partei ausbrechen. Das Projekt Angst war bloss ein panischer, klar unwirksamer Anfang davon. In diesem Krieg wird der rechte Flügel die Rückendeckung der Medien, der Spione, des Beamtentums und eines grossen Teils der Mitglieder erhalten.
Neben der offenen Schlacht wird es daneben noch eine andere, subtilere Angriffslinie geben. Diese wird versuchen, Corbyn unter Druck zu setzen und versuchen, ihn von seinen zentralen Programmen abzubringen, eines nach dem anderen, auf der Suche nach einem praktikablen Kompromiss bis zum Punkt, an dem seine breite Unterstützung dahin schwindet und er entscheidend geschwächt ist.
Sicherlich muss er Kompromisse in einigen Aspekten seiner Agenda eingehen, ganz einfach darum, weil er mit der Parlamentsfraktion der Labour Partei zusammen arbeiten muss, welche noch immer das Gleichgewicht der Kräfte von vor ein paar Jahren verkörpert und daher vom rechten Flügel dominiert wird. Aber wenn er bei Kernfragen wie Trident (dem britischen Nuklearwaffenprogramm) Kompromisse eingehen wird, wird er Unterstützer*innen verlieren und kann die Hoffnung aufgeben, jemals wieder breite Unterstützung für Labour in Schottland zurückzugewinnen. Corbyns Labour Partei wird also vom ersten Tag an ein Schlachtfeld sein.
Corbyn hat gesagt, dass es in seiner Kampagne darum geht, die Labour Partei in eine soziale Bewegung zu verwandeln. Dies ist die einzige Chance, die er und seine Unterstützer*innen haben. Die Ära der sippenhaften Partei-Loyalität, in welcher sich mächtige Bürokratien durch organisierte Massen artikulieren konnten, ist vorbei. Die soziale Basis der Sozialdemokratie, wenn sie wiedererlangt werden soll, wird mehrsprachig sein und seine Unterstützer*innen werden politisch polyamorös sein. Das ist das, was die puristischen Labours nicht verstanden haben.
In Zukunft werden Unterstützer*innen von Labour eine Vergangenheit vielfältiger und politischer Zugehörigkeiten aufweisen, sei es bei den Greens, den Nationalist*innen, den Trotzkist*innen oder anderen, unabhängige Kampagnen. Die Leute werden dort arbeiten, wo immer es nützlich ist und mit denjenigen zusammenarbeiten, mit denen es hilfreich sein wird. Das Konzept von der Partei als einbeziehende, ökumenische, soziale Bewegung impliziert ein Bewusstsein dessen.
Das wird das einzige mögliche Gegengewicht zur etablierten und institutionellen Macht der Rechten sein.
Übersetzt von BFS Jugend Zürich, Artikel 13.9.2015