Das militärische Vorgehen gegen den sogenannten Islamischen Staat durch eine äusserst heterogene Koalition in Syrien wird von einer propagandistischen Neuschreibung und Uminterpretierung des „Arabischen Frühlings“ begleitet. Die breiten und friedlichen Aufstände der syrischen Bevölkerung, die im März 2011 begannen, sind völlig aus dem medialen und öffentlichen Bewusstsein verschwunden.
von BFS/MPS
Vergessen ist der Versuch Hunderttausender Menschen, mit friedlichen Mitteln gegen die Diktatur Assads zu demonstrieren. Ebenfalls in Vergessenheit geraten: Das äusserst brutale Vorgehen des Assad-Regimes gegenüber der Bevölkerung; die von Assads „Spezialeinheiten“, den sogenannten Schabiha-Milizen ausgehende Gewalt; die Enteignung der Besitztümer der Bewohner*innen innerhalb der vom Regime kontrollierten Gebiete; die TNT-Angriffe durch Kampfhelikopter; die Inhaftierung und Folter Duzendender Menschen, die unlängst durch zahlreiche Fotos und Dokumente mittels „Cesar“ bewiesen wurden; ganze Quartiere, die von Panzern zerstört werden, Krankenhäuser und Kliniken, die dem Erdboden gleichgemacht werden; der Einsatz chemischer Waffen im August 2013 sowie im Frühjahr dieses Jahres.
Es scheint so, als ob die Realität dieses „Staates der Barbarei“, wie er von Michel Seurat beschrieben wurde, nicht mehr die wirkliche Ursache der Tragödie sei, in der sich seit vier Jahren die syrische Bevölkerung befindet. Die an Goebbels erinnernde Propaganda der Assad-Diktatur, die seit dem ersten Tag des Aufstandes vertreten wird, erhält durch die Medien einen scheinbaren Wahrheitsgehalt. Tatsächlich wird ISIS von den reaktionären Staaten der Region zum einzigen militärisch zu bekämpfenden Feind erklärt. Dadurch wird der diktatorische Diskurs von Assad bestätigt: „Ich führe einen Krieg gegen Terroristen, die von fremden Mächten manipuliert werden. Ihr müsst die legitime Selbstverteidigung des Regimes anerkennen und verstehen.“
Assad als Pfeiler eines „Übergangs zur Normalität“ darzustellen führt faktisch dazu, ihn gegenüber einer grossen Mehrheit von Syrer*Innen zu verteidigen, ganz gleich ob sie intern vertrieben oder in andere Staaten geflüchtet sind. Von Washington über Teheran bis nach Moskau wird, trotz unterschiedlicher Interessen, das Fortbestehen des Regimes unterstützt. Dies macht einen gerechten Frieden unmöglich und erlaubt es einem gemarterten Volk nicht, elementare soziale und demokratische Rechte zu erkämpfen.
Putin hat am 30. September begonnen, Syrien zu bombardieren. Die russischen Truppen unterstützen den Kern der repressiven Kräfte, die das Regime unterstützen. Das Ziel des Kremls ist klar: Die militärische Position eines Regimes, welches immer schwächer wurde, zu verstärken. Dazu zieht Putin Vsevolod Tchamplin hinzu, den Chef des Departements für öffentliche Angelegenheiten der russisch-orthodoxen Kirche. Dieser verkündete in Moskau: „Der Krieg gegen den Terrorismus ist ein heiliger Krieg, und in diesen Tagen ist unser Land dasjenige, welches den Terrorismus am aktivsten bekämpft.“ Seit 2012 stellt Tchamplin die Unterstützung von Präsident Bachar al-Assad unter Beweis und überträgt Russland die Rolle des „Verteidigers der Christ*innen im Mittleren Osten, welche einem Genozid gegenüberstehen“. Putin findet in der katholisch orthodoxen Hierarchie die nationalistische und religiöse Heiligsprechung seiner imperialistischen Interventionen. Der methodistische Protestant G.W. Bush – Anhänger von Jesus Zitaten – hat dasselbe getan, indem er nach den Attentaten des 11. Septembers 2001 und zwei Jahre vor der amerikanischen Intervention im Irak im Jahre 2003 „den Krieg des Guten gegen das Böse“ ausrief.
Diese Art von christlich-orthodoxen „heiligen Kriegen“ wird der Assad-Familie wohl nicht missfallen. Sie haben sich stets gleichzeitig als „Beschützer von religiösen Minderheiten“, als „Schutzmauer“ gegen den Islamismus sowie als Vertreter der Laizität präsentiert. Der ISIS weiss diesen „heiligen Krieg“ aus Moskau zu benutzen, um seinen eigenen Jihad zu bestätigen.
Die Geschichte der kolonialen und imperialistischen Barbarei in der Region kann nicht vom „Schock der Barbarei“ getrennt werden, welcher fälschlicherweise als irrationaler Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten dargestellt wird. Es ist eine Illusion zu glauben, dass dieser Konflikt beendet werden könnte, wenn „rationale“ Akteure – von Assad über Obama, Staffan de Mistura [italienisch-schwedischer UN-Gesandter in Syrien] bis hin zu Putin – einen politischen Übergang mit Assad oder im besten Fall einen „Assadismus“ ohne Assad verhandeln würden. Das syrische Volk würde dabei auf dem Altar der konkreten Interessen der imperialistischen Kräfte, des Assad-Clans und der reaktionären Kräfte der Region geopfert.
Der iranische Präsident Hassan Rohani hat anlässlich der UNO-Vollversammlung in New York am 28. September 2015 verkündet, dass das Assad-Regime „nicht geschwächt werden darf, wenn der Westen tatsächlich den Terrorismus bekämpfen will“. Rohani hat unterstrichen, dass der Rücktritt von Bachar al-Assad Syrien in einen sicheren Hafen für die „Terroristen“ verwandeln werde. Mit dem Begriff „Terroristen“ bezeichnet das syrische Regime die Rebellen und die gesamte Opposition. Seit Juni 2015 hat Quassem Soleimani, Anführer der Spezialeinheit der iranischen Revolutionsgarden, folgendes erklärt: „In den folgenden Tagen wird die Welt überrascht sein darüber, was wir in Zusammenarbeit mit den syrischen Militäroffizieren vorbereiten.“ Damit bezog er sich auf die Wiedereroberung der von den Regierungstruppen verlorenen Städte wie beispielsweise Idlib, Jisr al-Choughour sowie Palmyre. Gleichzeitig hat eine Quelle aus dem syrischen Geheimdienst den Grund für die verstärkte Präsenz iranischer Truppen, der Hisbollahs sowie irakischer Schiitenmilizen erklärt: „Einige 7000 iranische und irakische Kämpfer sind in den letzten Wochen in Syrien zur Verteidigung der Hauptstadt eingetroffen […] Das grösste Kontingent wird von iranischen Truppen gestellt. Ziel ist es, auf 10’000 Kämpfer zu gelangen, um die syrische Armee und die regierungstreuen Milizen zu unterstützen. Oberstes Ziel ist Damaskus, in einem zweiten Schritt soll Jisr al-Choughour erobert werden, weil es der Riegel zur Mittelmeerküste ist, sowie Hama im Zentrum des Landes.“
Mit der offenen Militärintervention der russischen Luftwaffe Ende September – ein Einsatz der seit Monaten vorbereitet wurde – wird die Strategie zur Stützung der syrischen Diktatur immer offenkundiger. Die Machthaber im Kreml ziehen Profit aus der Klemme, in welcher der amerikanische Imperialismus durch seine Interventionen im Irak und in Afghanistan steckt, um ihre eigene Präsenz in Syrien (Tartus) und in der ganzen Region auszubauen. Dies beinhaltet neben engen Verbindungen zum ägyptischen Diktator al-Sissi auch Waffenlieferungen an das sektiererische und korrupte irakische Regime von Haider al-Alabadi. Dadurch kann Putin seine nationalistische Kampagne in Russland verstärken, um teilweise dem Unmut in seinem Land aufgrund der Wirtschaftskrise entgegenzuwirken. Nicht zuletzt kann Putin damit auch die repressiven Massnahmen gegen die sogenannten Islamisten im Kaukasus rechtfertigen. Bisher ist noch kein Bumerangeffekt durch seine Politik im Kaukasus aufgetreten.
Die Obama-Administration, die seit einem Jahr mit Hilfe einer bunt zusammengewürfelten Koalition Bombenangriffe gegen ISIS in Syrien ausführt, kritisiert auf heuchlerische Weise die russischen Machthaber mit dem Argument, sie hätten es nicht auf den selben Feind abgesehen. Dieselbe amerikanische Regierung beschuldigte am 10. September 2013 einen „Diktator, der das internationale Recht durch seine Giftgasangriffe missachtet“. Die Obama-Administration hat sich aber wie alle anderen imperialistischen Mächte stets geweigert, den Rebellen effektive Waffen zu liefern, die es ihnen erlauben würden, sich gegen die Hubschrauber, die Fässer mit TNT abwerfen, sowie gegen die Panzer des Regimes zu wehren. Dies obwohl die Oppositionskräfte seit 2011 um solche Waffenlieferungen bitten. Angesichts dieser fehlenden Unterstützung haben Staaten aus der Region (Saudi-Arabien, Katar und die Türkei) ihr eigenes Spiel gespielt und jene dschihadistische Truppen mit Waffen beliefert, die heute von russischen Kampfflugzeugen ins Visier genommen werden. Auch das syrische Regime hatte eine ähnliche Praxis. Eine seriöse Studien des Jane’s Terrorisme & Insurgency Centre (IHS) hat gezeigt, dass im Jahr 2014 nur 6 % der 982 Militäroperationen des syrischen Regimes ISIS als Ziel hatten. ISIS hat in anderen Worten der Diplomatie Assads sowie seinen russischen und iranischen Beschützern in die Hände gespielt. Die US-amerikanische und französische Luftwaffe hingegen greifen ISIS an (mit wenig Erfolg), lassen aber die regimetreuen Truppen unbehelligt. Es bestehen Widersprüche zwischen den jeweiligen Interessen der imperialistischen Akteure, doch Assad wird durch diese Spannungen verschont.
Dass heute Assad wieder ins Zentrum einer möglichen „Lösung für Syrien“ gestellt wird, hängt direkt mit den Interessen der imperialistischen europäischen Staaten zusammen: Ein stabilisiertes Syrien soll die „Flüchtlingswellen“ versiegen lassen. Dass die europäische Politik völlig an der Realität vorbei schiesst, beweist auch die Tatsache, dass sämtliche Berichte humanitärer Organisationen zum Schluss kommen, dass die syrischen Flüchtlinge mehrheitlich aus Gebieten stammen, die nach wie vor oder wieder vom Assad-Regime kontrolliert werden. Sei es, um den kriminellen Aktivitäten der Schabiha-Milizen zu entkommen, sei es, um nicht in der regulären syrischen Armee kämpfen zu müssen: Millionen von Syrier*innen befinden sich als Flüchtlinge im Libanon, in Jordanien und in der Türkei. Das autoritäre Regime Tayyip Erdogans nutzt die „Flüchtlingskrise“, um mit der EU zu verhandeln. Die Flüchtlinge werden in der Türkei zurückgehalten, im Gegenzug stellt die türkische Regierung keine Visa für Türk*innen mehr aus und erhält eine Milliarde Finanzhilfe. Auch der Krieg der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung wird von der EU genau so akzeptiert, wie die Pufferzone an der türkisch-syrischen Grenze (die sich ebenfalls gegen die Kurd*innen richtet).
So lange die Assad-Diktatur, die immer noch weit mehr Opfer auf dem Gewissen hat als der „Islamische Staat“, an der Macht bleibt, wird für die syrische Bevölkerung kein nachhaltiger und gerechter Frieden möglich sein. Die imperialistischen Interventionen und die damit verbundene faktische Rettung Assads verlängern einen Bürgerkrieg mit schrecklichen humanitären Folgen. Eine grossangelegte Hilfe für alle Flüchtlinge und ein sofortiger Frieden, unterstützt durch Truppen der UNO, wären heute sicher im Sinne einer grossen Mehrheit der syrischen Bevölkerung, die sich nichts mehr wünscht, als sich am Wiederaufbau ihres Landes und einer demokratischen Gesellschaft zu beteiligen. Eine Gesellschaft, welche die individuellen, politischen und sozialen Rechte aller respektiert.
Der vorliegende Text der BFS/MPS wurde am 16. Oktober anlässlich einer Kundgebung in Genf verteilt.
Syrien: Weder ISIS noch Assad! Für einen gerechten Frieden!
