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Türkei: Ein Attentat auf Frieden und Demokratie

„Dieser Ort ist blutüberströmt…“ heisst es in einem Lied von Ruhi Su, welches als Hommage für die Maryrer*innen vom Massaker des 1. Mais 1977 auf dem Taksim Platz [1] geschrieben wurde. Eben dieses Lied sang eine Gruppe junger Demonstrant*innen , als sich am 10. Oktober 2015 eine erste Explosion ereignete, der einige Sekunden später eine zweite folgte. Ein weiteres Mal wurde der Wunsch nach Frieden und Demokratie in einem Blutbad ertränkt. Es ist ein Attentat wie kein vorheriges, welches am 10. Oktober 2015 in der Nähe des Bahnhofs von Ankara, der Hauptstadt der Türkei, verübt wurde.
Von Uraz Aydin

Die Regime-Opposition im Blut ertränkt

Tausende von Personen hatten sich an diesem Tag versammelt, um an einer grossen Demonstration für „Arbeit, Frieden und Demokratie“ teilzunehmen, welche von der KESK (Bund der Gewerkschaften der Beamt*innen), der DISK (Bund der revolutionären Gewerkschaften der Türkei), der Gewerkschaft der Ärzt*innen und der Gewerkschaft der Ingenieur*innen und Architekt*innen organisiert wurde. Ziel der Demonstration war es, gegen die kriegerische Politik der AKP gegenüber der kurdischen Bevölkerung und gegen den autoritären Rutsch des Präsidenten der Republik, Recep Tayyip Erdogan, zu protestieren.
Laut den letzten Zahlen, welche vom Krisenbüro der HDP (Demokratische Partei der Völker, linksreformistisch an die kurdische Bewegung angelehnt) veröffentlicht wurden, forderte das Selbstmordattentat mindestens 128 Opfer. Die Zahl der Verletzten stieg auf 400, während mehr als 30 Personen unauffindbar sind.

Die verfaulte Frucht der imperialistischen regionalen Politik der Türkei

Wie gross auch immer das Ausmass der Involvierung des türkischen Staates in diesem Massaker ist, und auch wenn dieser keine direkte Rolle in der Organisation gespielt haben mag, ist es unbestreitbar, dass er der Hauptverantwortliche ist. Zuallererst weil der Geheimdienst und die Polizei bislang immer bereit waren Personen zu verfolgen, welche auf der Strasse oder im Internet das Verbrechen „Erdogan zu beleidigen“ begehen, aber scheinbar nicht in der Lage waren, dieses Attentat zu verhindern. Wenn sie denn überhaupt den Willen dazu hatten.
Aber auf der anderen Seite ist dieses Attentat auch das Resultat der blinden, interventionistischen, „regionalimperialistischen“ Politik des Erdogan-Regimes gegenüber Syrien. Es ist die Konsequenz von mehreren Jahren der logistischen, finanziellen und militärischen Unterstützung von jihadistischen Organisationen, um das Assad-Regime zu stürzen. Es ist auch das Resultat des Beharrens von einem Teil der AKP, um mit allen Mitteln die Konsolidierung einer autonomen kurdischen Region (unter der Führung der PKK-PYD) zu verhindern und diese Gebiete noch eher dem IS zu überlassen.
Das Attentat vom 10.10 lässt sich auch in einen Zusammenhang mit den Explosionen vom 5. Juni in Diyarbakir während einer Demonstration der HDP, sowie mit derjenigen vom 20. Juli in Suruç setzen, wo 34 junge Revolutionär*innen umgekommen sind, während sie sich vorbereiteten nach Kobanê zu gehen, um ihre Hilfe und Solidarität praktisch umzusetzen. Alle diese Explosionen hatten zum Ziel, dass der kurdische Widerstand wieder zu den Waffen greift, nachdem dieser jahrelang einen Waffenstillstand respektierte.

Die unterdrückte kurdische Bewegung

Die kurdische Bevölkerung blieb geduldig, um nicht in das Spiel der AKP und in einen neuen Ausbruch der Gewalt zu geraten, obwohl mehrere Attacken gegen Vereinslokale, Veranstaltungen und einzelne Aktivist*innen der HDP während der Zeit vor den Wahlen in diesem Frühjahr verübt wurden. Das Massaker von Suruç jedoch war der Tropfen, der das Fass zum überlaufen gebracht hatte und der bewaffnete Konflikt wurde Mitte Juli wieder aufgenommen.
Erdogan hat dabei nicht gezögert das Land in den Bürgerkriegs- und Ausnahmezustand zu versetzen, um die kurdische Bewegung, sowie deren Partei, die HDP, einfacher unterdrücken zu können um somit seine Macht zu sichern. Er hat nicht gezögert, die Gesellschaft ethnisch und kulturell-religiös zu spalten, um seine Basis zu konsolidieren. Zusätzlich hat er nicht gezögert sich mit düsteren politischen Akteuren, wie der türkischen Hizbollah (eine islamistische Organisation, welche in den 1990er Jahren gefördert wurde, um Mitglieder der PKK zu attackieren) oder rechtsextremen, faschistischen Kräften zu verbünden. Zudem organisierte der in mafiös-faschistischen Kreisen verkehrende Sedat Peker, (der bei der extremen Rechten, insbesondere den „Grauen Wölfen“, sehr beliebt ist) in der Stadt Rize eine Veranstaltung „gegen den Terrorismus“ und zur Unterstützung Erdogans, an der er verkündete, dass „das Blut in einem Schwall fliessen wird“ und dies nur einen Tag vor der Demonstration in Ankara.
Und dies ist in der Tat das, was passierte. Das Blut, unser Blut, das Blut derer, welche für Frieden und Freiheit kämpften, ist in einem Schwall geflossen, „einem Bach“, wie sie es erhofft hatten. Es ist aber auch dieses Blut, in welchem alle ihre düsteren Hoffnungen ein diktatorisches Regime zu errichten, ertränkt werden.
(Istanbul, 15. Oktober 2015)
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[1] Der 1. Mai 1977 war, nach einem gescheiterten Anlauf 1976, ein weiterer Versuch der Rückeroberung des zentralen Istanbuler Taksim-Platz durch Gewerkschafter*innen. In dem Moment, als der Gründer und Präsident der DISK (Bund der revolutionären Gewerkschaften der Türkei) Kemal Türkler das Wort ergriff, erschallten Schüsse. Es folgten weitere Schüsse aus verschiedenen Orten (aus dem Gebäude der Wasserbehörde, aus dem Intercontinental Hotel, aus einem Auto, etc.) und töteten anwesende Arbeiter*innen. Der Taksim Platz war brechend voll. Ein Gedrängel folgte, welches weitere 32 Personen tötete. Die Polizei blockierte zusätzlich Fluchtwege. Diese Attacke wurde den „grauen Wölfen“, einer rechtsextremen Organisation, welche tief in den türkischen Staat integriert ist, zugeschrieben. Für viele Historiker*innen markiert dieser 1. Mai einen Umbruch, welcher sich im Staatsstreich vom 12. September 1980 zeigte. Zusätzlich wurden am 1. Mai 1980 alle Demonstrationen verboten und der Waffenstillstand wurde ausgerufen. Trotzdem wurde ein eifriger Streik der Arbeiter*innen von Istanbul organisiert. Auseinandersetzungen fanden in Aussenquartieren statt. Viele wurden verhaftet. Kemal Türkler wurde am 22. Juli 1980 umgebracht.
Publiziert von Alencontre.org am 15. Oktober 2015

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