Während der öffentliche Dienst in Deutschland seit Jahrzehnten ausgeblutet wird, haben Beschäftigte begonnen, sich zu wehren. Lange Warteschlangen sind Normalzustand vor allem in und vor öffentlichen Verwaltungsgebäuden – zum Beispiel für Arbeitssuchende oder Menschen, die auf Hartz IV oder Wohngeld angewiesen sind. Besonders dramatisch ist die Situation momentan für die geflüchteten Menschen. In Berlin stehen Menschen nach einer strapaziösen Reise tagelang in der Kälte Schlange, um sich registrieren zu lassen, um eine Unterkunft und Verpflegungsgeld zu bekommen. Über eine Falschmeldung eines wegen der langen Wartezeiten gestorbenen jungen Flüchtlings wunderte sich deshalb im Januar zunächst niemand, weil man es für möglich hielt.
von Angelika Teweleit*
Chronischer Personalmangel
Hier wird deutlich, welche dramatischen Ausmaße der jahrzehntelagen Stellenabbau im öffentlichen Dienst hatte. Die Gewerkschaftsnahe Hans-Böckler Stiftung hat Anfang 2012 eine Studie veröffentlicht, die besagt, dass von 1991 bis 2010 30 Prozent (1,6 Millionen) der in Bund, Ländern und Gemeinden Beschäftigten abgebaut wurden. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di stellte 2015 in einer Umfrage fest, dass in deutschen Krankenhäusern insgesamt 162.000 Stellen fehlen. Wie schlimm das für Patienten und Angehörige ist, können viele aus ihrer eigenen Erfahrung berichten. Der chronische Personalmangel in allen Bereichen des öffentlichen Dienstes hat zu einer Verschlechterung des Service für die Bevölkerung geführt, aber natürlich auch für die Beschäftigten. Der Arbeitsdruck hat so stark zugenommen, dass laut einer Befragung des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB im Jahr 2011 nur jedeR zweite Beschäftigte im öffentlichen Dienst davon aus, seine Tätigkeit unter den derzeitigen Arbeitsbedingungen bis zum Ruhestandsalter ausüben zu können! Gleichzeitig hinken die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, vor allem Frauen, hinter der allgemeinen Lohnentwicklung hinterher.
„Streikrepublik“
Im Mai letzten Jahres [2015] sprachen einige Zeitungen von der „Streikrepublik Deutschland“. Fast eine Million Streiktage wurden für das Jahr 2015 registriert – mehr als in den fünf Jahren davor zusammen. Das Institut der Deutschen Wirtschaft war besorgt, dass diese Entwicklung den Wirtschaftsstandort gefährden könne. Die Auseinandersetzungen, bei denen die meisten Streiktage zusammen kamen, war zum einen der einjährige Arbeitskampf des bei der GDL organisierten Zugpersonals mit insgesamt neun Streikrunden.
Weitere Streiks wurden vor allem von ver.di (2,1 Millionen mitgliederstarke Dienstleistungsgewekschaft) geführt, so der vierwöchige Streik der Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst (SuE) [Kitas 0-6 Jahre, Jugendämter, SozialarbeiterInnen] und der vierwöchige Streik bei der Post gegen die Drohung von Tarifflucht und Lohndumping für ZustellerInnen. Hinzu kommen wichtige Arbeitskämpfe, die noch nicht abgeschlossen sind wie bei Amazon und am Berliner Universitätsklinikum Charité.
Wie kam es dazu?
Seit Jahren gibt es im öffentlichen Dienst das Gefühl, abgehängt zu sein von allgemeinen Lohnentwicklung. Gleichzeitig entstand bei einigen Beschäftigtengruppen ein neues Selbstbewusstsein, zum Beispiel gibt es in Kitas (Kindertagesstätten) zu wenig Fachpersonal. ErzieherInnen fragen, warum ihre Arbeit mit Kindern weniger wert sein soll als die Produktion von Autos. Zum anderen ist die deutliche Zunahme der Arbeitsbelastung nahezu in allen Bereichen ein zunehmendes ein Problem.
Die Gewerkschaft ver.di hat letztes Jahr in Krankenhäusern eigene Studie gemacht und herausgefunden, dass bundesweit 162.000 Stellen fehlen. Die Folge ist die massive Verdichtung der Arbeit. Dies gilt fast überall: Nach einer Befragung des DGB-Index Gute Arbeit 2011 ging nur jeder zweite Beschäftigte im gesamten öffentlichen Dienst davon aus, dass sie oder er die Arbeit unter den gegenwärtigen bis zum Rentenalter durchstehen würde. Diese Zustände haben sich in 25 Jahren des Neoliberalismus entwickelt und teilweise unerträgliche Ausmaße angenommen.
Ein weiterer wichtiger Faktor für das Zusammen kommen von Streiks im letzten Frühjahr war die Einschränkung des Streikrechts durch die Bundesregierung (die große Koalition von CDU/CSU und auch der SPD, welcher sich immer noch viele Gewerkschaftsfuntkionäre verbunden fühlen). Diese Einschränkung fand durch die Einführung des Tarifeinheitsgesetzes statt, sogar mit Zustimmung einer Mehrheit der großen DGB Gewerkschaftsführungen. Denn mit diesem Gesetz werden zunächst kleinere Gewerkschaften getroffen.
So auch die GDL, die Gewerkschaft der Lokführer. Diese Gewerkschaft ging 2014 in einen langen Arbeitskampf, der dann 2015 erneut zu einem Höhepunkt kam. Diese Auseinandersetzung war von großer Bedeutung. Diese Gewerkschaft hat seit dem Jahr 2007 ein Beispiel von kämpferischer Gewerkschaftspolitik, Durchhaltevermögen und Erfolgen gegen alle widrigen Umstände gesetzt.
Auch 2015 muss man sagen, dass die GDL sich – im Gegensatz zur viel größeren DGB Gewerkschaft ver.di – durchgesetzt hat. Sie konnte sogar eine Arbeitszeitverkürzung von einer Stunde bei vollem Lohnausgleich erreichen. Dabei stand sie allein gegen eine Phalanx von Gegnern, der Deutschen Bahn, den Medien, der Regierung sowie auch gegen die öffentlicher Entsolidarisierung aller DGB-Gewerkschaftsführer, die den Streiks als egoistisch diffamierten. Insgesamt spielte dieser Streik eine Rolle, die Stimmung im Land zu beeinflussen, Streik als Möglichkeit mehr in Bewusstsein zu rücken.
Der Streik in den Sozial- und Erziehungsdiensten
Die Situation für die Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsdiensten (SuE) ist von immer mehr Aufgaben einerseits, aber gleichzeitig nicht mehr Personal, und auch keine entsprechende Erhöhung der Vergütungen, geprägt. Die Gewerkschaft ver.di forderte daher eine wirkliche Aufwertung des Berufs und forderte im Schnitt zehn Prozent mehr Gehalt für die verschiedenen Berufsgruppen des SuE.
Die erste größere Auseinandersetzung hatte es schon im Jahr 2009 gegeben. Schon damals war die Kampfbereitschaft sehr groß gewesen, ist aber von ver.di nicht ausreichend genutzt worden und das Ergebnis war eher mager. Doch die Kampferfahrungen vieler KollegInnen waren insgesamt positiv. Das wurde in die neue Auseinandersetzung 2014 hinein getragen. Anders als sonst fanden bereits Monate vorher Diskussionen über den Arbeitskampf statt. Dennoch war die Vorbereitung in vielen Punkten nicht ausreichend.
Beteiligung
Ein Novum war, dass von Anfang an eine bundesweite Streikdelegiertenkonferenz von etwa 300 KollegInnen einberufen wurde. Die ver.di Führung wollte einen Erfolg, auch um ihr Prestige zu verbessern.
Deshalb setzte die ver.di Führung auf Mobilisierung und Partizipation der Mitglieder. Der Streik wurde sehr gut befolgt, viele kreative Aktionen, in Versammlungen diskutierten die Streikenden. Gerade in großen Städten gab es massive Auswirkungen – fast alle öffentlichen Kitas waren geschlossen. Es gab nur ein paar Notdienste. Die Unterstützung und das Verständnis in der Bevölkerung waren groß. Die kommunalen Arbeitgeber waren aber entschlossen, den Streik auszusitzen. Klar war, dass es nach mehreren Wochen auch Probleme geben würde, weil die Eltern irgendwann am Ende ihrer Möglichkeiten sind.
Das Problem: mit dem Streik konnte kein wirtschaftlicher Schaden bei den Arbeitgebern erzeugt werden – im Gegenteil, die sparten sogar noch die Löhne für die Streikzeit ein. Frank Bsirske, der ver.di Vorsitzende, sicherte den Streikenden zu, dass der Streik nicht ohne Ergebnis beendet würde. Zudem betonte er, dass die Streikdelegiertenkonferenz das Sagen habe. Dies stellte sich allerdings als Mogelpackung heraus. Nach vier Wochen Streik riefen die Arbeitgeber und Bsirske die Schlichtung an. Mit der Schlichtung wurde der Streik abgebrochen. Der völlig unzureichende Schlichterspruch wurde als erster Erfolg verkauft, worüber es aber großen Unmut gab.
Das Ergebnis der 4 wöchigen Mitgliederbefragung war überwältigend. 70% sprachen sich gegen die Annahme des Schlichterspruchs aus. Bsirske musste zugeben, dass dies „ein klares Mandat für die Fortsetzung des Arbeitskampfes“ sei. Gleichzeitig wurde die Mitgliedschaft durch die Führung verunsichert, dass es eigentlich nicht möglich sei, den Streik zu eskalieren.
Wir, das „Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di“, versuchten, eine mögliche Strategie aufzuzeigen und schrieben:
„Zentral ist, die politische Unterstützung in der arbeitenden Bevölkerung weiter aufzubauen. Durch fachbereichs- und gewerkschaftsübergreifende Solidaritätskampagnen durch ver.di und DGB wäre genau das möglich. Dies sollte Diskussionen in Betriebs-, Personal- beziehungsweise Mitgliederversammlungen beinhalten. Werden diese einem Tag koordiniert, könnten auch große Demonstrationen vor Rathäusern organisiert werden. (…) Alle Möglichkeiten einer Koordination mit anderen laufenden Tarifkämpfen sollten genutzt werden.“
Entlang dieser Linien sammelten wir Unterschriften und brachten einen Antrag beim ver.di Bundeskongress im September ein, der auch angenommen wurde. Letztendlich aber wurde dennoch ein Verhandlungsergebnis vereinbart, welches nur leichte Verbesserungen gegenüber dem Schlichterspruch bedeutete. In der endgültigen Urabstimmung gab es auch nur eine Zustimmung von etwas mehr als der Hälfte – was ein historisch schlechtes Urabstimmungsergebnis ist.
Fazit und wie weiter?
Unser Netzwerk hat die Erfahrungen ausgewertet und einige wichtige Lehren für die Zukunft daraus formuliert. Das ist wichtig, um sich auf kommende Kämpfe vorzubereiten:
Es wäre möglich gewesen, die verschiedenen Kämpfe (SuE, Post, Einzelhandel, Charité, Bahn) zu ko-ordinieren, indem an gleichen Tagen zu Streiks aufgerufen und zu gemeinsamen Kundgebungen vor Ort oder auch bundesweit mobilisiert worden wäre.
Das wurde nicht gemacht, im Gegenteil. Sogar, wenn am gleichen Tag gestreikt wurde, fanden die Kundgebungen an verschiedenen Orten statt! So wurde die Chance verpasst, eine kämpferische Stimmung in der Republik zu nutzen, den Druck auf die Politik zu erhöhen und das Bewusstsein zu fördern, dass die Beschäftigten die gleichen Interessen haben und dass man gemeinsam stärker ist. Überall, wo wir diese Idee aber eingebracht hatten, stieß sie auf große Zustimmung. Vor Ort gelang es sogar, Solidaritätsbesuche und einzelne gemeinsame Protestkundgebungen zu organisieren. Daran können wir für die Zukunft anknüpfen.
Bedeutung Streikdemokratie
Die Ansätze zur Beteiligung der Streikenden im SuE Bereich waren im Vergleich zu anderen Arbeitskämpfen sehr gut. Aber unterm Strich hat es nicht ausgereicht, damit die Streikenden das Heft selbst in der Hand halten. Demokratie müsste heißen, Streikleitungen vor Ort und übergreifend von Streikenden zu wählen; dass es keinen Streikabbruch ohne vorherige Diskussionen in den Versammlungen und ohne Zustimmung der Streikdelegierten geben darf; dass über alle Schritte im Arbeitskampf demokratisch entschieden wird.
Vernetzung
Die Erfahrungen zeigen: es gibt gute und positive Ansätze, die Aktivität von KollegInnen steigt da, wo es Angebote gibt. Aber um das beste rauszuholen, müssen kämpferische Ansätze von unten durchgesetzt werden. Dazu ist aus unserer Sicht eine effektive Vernetzung von kämpferischen KollegInnen und Betriebsgruppen nötig. Diese sollte offen sein. In Deutschland gibt es verschiedene kleinere Ansätze. Uns ist wichtig, zusammen zu arbeiten, gemeinsam zu überlegen, auf welche gemeinsamen Forderungen und Vorgehen man sich einigen kann. Sicher wird es auch immer wichtiger, sich international auszutauschen und unter AktivistInnen Kontakte zu knüpfen.
*Der Text absiert auf einem Vortrag von Angelika Teweleit, Sprecherin des „Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di“ beim diesjährigen „Anderen Davos“ in Zürich.