Die sozialen Proteste in Frankreich gegen die geplante Reform des Arbeitsgesetzes brechen nicht ab. Im Gegenteil weiten sich die dauerhaften Platzbesetzungen und zahlreichen Streiks auf immer mehr Städte aus. Die grosse Herausforderung dieser Bewegung liegt jedoch darin, eine Brücke zwischen den verschiedenen am Protest beteiligten Gruppen wie etwa den Beschäftigten, GewerkschafterInnen, prekären Kulturschaffenden (intermittents du spectacle), Studierenden und Arbeitslosen zu schaffen.(Red.)
von Bernard Schmid; aus SoZ
Wer hätte damit gerechnet! Vor zwei Monaten noch klagten französische Aktivisten über die Lähmung der sozialen Bewegungen – doch die Riesendemonstration am 31.März hat alles verändert.
Nach der Nuit debout – der «wachen Nacht» – bringt die französische Sozialprotest- und Platzbesetzerbewegung nun neue Varianten hervor. In der nördlichen Pariser banlieue Saint-Ouen gibt es etwa mittlerweile einen Midi debout, einen aufgeweckten Mittag: Einwohner und Pendler, die in der Kommune an der Pariser Stadtgrenze arbeiten, treffen sich an einem S-Bahn-Ausgang zum gemeinsamen Mittagessen, tauschen sich aus und debattieren auf Vollversammlungen über soziale Themen. Die Platzbesetzerbewegung hat inzwischen über 60 französische Städte erreicht: Pariser Trabantenstädte, regionale Metropolen wie Toulouse, aber auch Kleinstädte in der Bretagne wie Saint-Aubin-du-Cormier mit 3000 Einwohnern.
Auf der Place de la République in Paris, wo am 31.März dieses Jahres alles anfing, gibt es inzwischen auch eine Bewegung Psychiatrie debout, oder auch Hôpital debout (aufrechtes Krankenhaus). Das sind Selbstorganisationen von Beschäftigten, die gegen die Kahlschlagpolitik in diesen Bereichen und im Gesundheitswesen allgemein protestieren. Derzeit plant die französische Regierung gerade, 16000 Krankenhausbetten wegzusparen. In der Psychiatrie geht es auch um Versuche, die Einrichtungen dafür zu nutzen, dass sie gefängnisähnliche Funktionen übernehmen. Neben den dort Beschäftigten kamen z.B. bei der Pariser Vollversammlung vom 18.April auch Psychiatriepatienten dazu zu Wort.
Und nun gibt es auch noch ein Orchestre debout. Am 20.April spielte ein Amateurorchester, dessen Mitglieder sich zum Teil zuvor noch nie gesehen hatte, vor 5000 faszinierten und dichtgedrängten Menschen – es war die bis dahin stärkste Teilnahme auf dem verkehrsberuhigten Pariser Platz – Antonin Dvoráks Symphonie «Aus der Neuen Welt», um später zu «Bella Ciao» und Liedern aus der Arbeiterbewegung überzugehen. An anderen Abenden kamen auch Liebhaber von Rap oder Hiphop auf ihre Kosten.
Der Auslöser
Die «aufrechte» oder «durchwachte Nacht» ist nur ein Ausdruck der derzeitigen sozialen Protestbewegung in Frankreich. Die Platzbesetzung war und ist es, die es ihr erlaubt, permanent im öffentlichen Raum präsent zu bleiben. Die Proteste haben sich am Versuch der Regierung entzündet, das französische Arbeitsrecht auf breiter Front anzugreifen (vgl. SoZ 4/2016). Am 3.Mai beginnt die Debatte über die geplante «Reform» des Arbeitsgesetzes in der französischen Nationalversammlung, am 11.Juni wird sie im Senat geführt, dem «Oberhaus» des französischen Parlaments.
Unterdessen übt sich der MEDEF, der stärkste der drei Unternehmerverbände in Frankreich, in Erpressung für den Fall, dass das von ihm heiß ersehnte Gesetz doch nicht verabschiedet oder aber aus seiner Sicht «verwässert» wird. Seit dem 19.April droht der MEDEF für diesen Fall, die derzeit laufenden und alle zwei Jahre stattfindenden Verhandlungen der sogenannten Sozialpartner über die Neuregelung der Arbeitslosenversicherung zu verlassen. In diesem Falle könnte die Arbeitslosenkasse, deren Leitung zu gleichen Teilen mit Vertretern der Gewerkschaften und der Unternehmerverbände besetzt ist, kein Geld mehr auszahlen, der Staat müsste mit Steuermitteln für ihre Leistungen einspringen.
Wie vor zwei Jahren laufen außerdem Verhandlungen zwischen MEDEF und der rechtssozialdemokratischen Gewerkschaft CFDT über eine Verringerung der Ansprüche der intermittents du spectacle, der Kulturschaffenden mit zeitlich für die Dauer der Produktion befristeten Anstellung; viele andere Gewerkschaften opponieren dagegen.
Die Beschäftigten im Kulturbetrieb sind in Frankreich in aller Regel nicht fest angestellt, sondern werden während ihrer auftraglosen Zeit aus der Arbeitslosenkasse alimentiert. Die Kulturschaffenden zählen mit zu den tragenden Kräften der Protest- und Platzbesetzerbewegung.
Eine Brücke zu den Gewerkschaftsprotesten
Vor dem Beginn der Parlamentsdebatte findet am 28.April der nächste, von der Mehrzahl der Gewerkschaftsverbände – ohne die CFDT und den christlichen Gewerkschaftsbund – unterstützte Aktionstag statt. Mehrere Gewerkschaften rufen zudem zwei Tage davor zu einem Streik bei der Bahngesellschaft SNCF auf. Dabei geht es zunächst um bahninterne Probleme wie Arbeitsbedingungen und Löhne, doch es wäre vorstellbar, dass der Streik eine «Brücke» zwischen beiden Terminen – dem 26. und dem 28.April – schafft und dadurch vielleicht auch in anderen Sektoren Arbeitsniederlegungen nach sich zieht. Gelingt dies, würde eine erfolgreiche Streikbewegung den derzeitigen Sozialprotest aus dem Dilemma herausbringen, zwischen folgenlosen Latschdemonstrationen der Gewerkschaftsführungen und einer irren Scherbendemo-Strategie, wie sie in einem Teil der Platzbesetzerbewegung Anhänger gewinnt (möglichst viel Glasbruch als politisches Programm!) wählen zu müssen.
Die Gewerkschaft SUD Rail, eine linke Basisgewerkschaft bei der Eisenbahn, orientiert auf diese Option. Angemeldet hat die Arbeitniederlegung bei der SNCF am 26.April allerdings die CGT, die stärkste Einzelgewerkschaft unter den Eisenbahnern. Ihren Aufruf unterstützen mittlerweile auch die CFDT und die «unpolitisch» auftretende Gewerkschaft UNSA (der Nationale Verband der Autonomen Gewerkschaften) hinzu, denen an einer Radikalisierung der Sozialproteste und einer «Konvergenz der Kämpfe» – wie sie etwa die Platzbesetzerbewegung fordert – nicht gelegen ist.
Gleichzeitig hat eine turbulente Versammlung im Pariser Gewerkschaftshaus am Abend des 20.April einen Vorschlag des linken Journalisten und Dokumentarfilmers François Ruffin für den 1.Mai angenommen – auf ihn geht der Vorschlag der Platzbesetzung ursprünglich zurück. Er hat vorgeschlagen, dass die Maidemonstration der Gewerkschaftsverbände (ohne die rechteren Verbände CFDT, Christlicher Gewerkschaftsbund und die Angestelltengewerkschaften, die sich an dem Tag in einem geschlossenen Saal im Pariser Süden versammeln) bis zum besetzten Platz verlängert wird und mit der Platzbesetzerbewegung zusammentrifft.
Noch ist unsicher, ob die an der Maidemonstration beteiligten Gewerkschaftsverbände darauf eingehen. Auf dem Gewerkschaftstag der CGT (dem stärksten gewerkschaftlichen Dachverband), der vom 18. bis 22.April in Marseille stattfand, wurde nach einigem Hin und Her jedoch ein Antrag angenommen, der die einzelnen Mitgliedsgewerkschaften für die Tage nach dem 28.April zu unbefristeten Streiks in der Form von grèves reconductibles aufruft – also in Gestalt von Arbeitsniederlegungen, über deren Fortführung oder Beendigung alle 24 Stunden auf Belegschaftsversammlungen entschieden wird. Möglicherweise erhöht sich dadurch der Druck von unten auf entscheidende Weise.
Die letzten April- und ersten Maitage stellen auf jeden Fall einen entscheidenden Moment dar. Dann stellt sich heraus, ob die aktuellen Bewegungen das Potenzial haben, den zentralen Angriff auf die Lohnabhängigen – das geplante «Arbeitsgesetz» – in Gänze oder teilweise zu verhindern. Gelingt dies nicht, droht hinterher möglicherweise Katzenjammer.
Die soziale Zusammensetzung
Auf dem besetzten Platz in Paris war die Forderung nach Rücknahme des Gesetzentwurfs zur «Reform» des Arbeitsrechts zeitweilig etwas aus dem Fokus gerückt, bevor sich die Redebeiträge am 20.April wieder stärker darauf konzentrierten.
Diese zeitweilige Entwicklung weg vom zentralen Anliegen hängt auch mit der sozialen Zusammensetzung der Platzbesetzungen zusammen. Zwar trifft nicht zu, was manche bürgerlichen Medien herbeischreiben um der Protestbewegung zu schaden, dass die Platzbesetzungen eine Angelegenheit von Mittelklasse-Angehörigen, Yuppies und Intellektuellen sei, die im Vergleich zur lohnabhängigen Bevölkerung einer Art Luxushobby nachgingen.
Die Zusammenführung der Kämpfe aus den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen wird von vielen Rednerinnen und Rednern am offenen Mikrofon auf dem Platz der Republik immer wieder beschworen. Viele Redebeiträge betonen immer wieder, zu den Gewerkschaften und Lohnabhängigen sei ein stärkerer Brückenschlag als bislang nötig.
Für viele abhängig Beschäftigte ist es praktisch relativ schwer, an allen Ereignissen der Platzbesetzerbewegung teilzunehmen. Denn die von ihr eingerichteten Kommissionen – «Aktion», «Kommunikation», «internationale Kontakte», «Logistik» und andere – beginnen oft schon mitten am Nachmittag zu arbeiten und die Vollversammlungen danach dauern bis Mitternacht. Die Mehrzahl der Teilnehmenden setzt sich deshalb tatsächlich aus Studierenden, prekär Beschäftigten und Intellektuellen zusammen; ihre Erfahrungshintergründe bringen sie oft aus der Ökologie- und Anti-Atomkraft-Bewegung mit oder aus der Migrantensolidarität und dem antirassistischen Spektrum. Zu ihnen haben sich nun auch Hunderte der oben erwähnten Kulturschaffenden gesellt.
Rein in die Banlieue!
Doch jenseits des Boulevard périphérique – der Ringbauautobahn, die um das 1860 definierte Pariser Stadtgebiet herumführt und das «eigentliche» Paris von den Vor- oder Trabantenstädten trennt – beginnt nochmals eine andere Welt. So sehen es jedenfalls viele Einwohner der Pariser Kernstadt, vor allem aus bürgerlichen Milieus. Umso wichtiger ist es zu fragen, ob eine in Paris entstandene soziale Bewegung auch den Sprung in die darum herum gelegenen Banlieues schafft.
Von Anfang an war in den Redebeiträgen auf dem Pariser Platz der Republik immer wieder gefordert worden, in andere Städte und insbesondere in die Banlieues auszustrahlen. Am 13.April wurde der Sprung dorthin unternommen. Am Vormittag dieses Tages besetzten in Saint-Denis, der alten Königsstadt in der nördlichen Pariser Vorstadtzone, erzürnte Eltern insgesamt 200 Schulen. Sie protestieren gegen Einsparungen in ihrem krisengeprägten Département, gegen zahllose Unterrichtsausfälle mangels Ersetzung fehlender Lehrkräfte, und allgemein gegen die systematische Vernachlässigung des ärmsten Verwaltungsbezirks Frankreichs (ohne Überseegebiete). Am Spätnachmittag riefen sie dann zu einem öffentlichen Sit-in auf. 400 Menschen kamen zum Debattieren bei einer Vollversammlung unter freiem Himmel, was kein schlechter Anfang war.
Auch anderswo hat es Anläufe zur Organisierung von Vollversammlungen in den Vorstädten gegeben, so am 8.April in Montreuil östlich von Paris. Diese Stadt befindet sich bereits voll im Prozess der Gentrifizierung. Andernorts bleibt es jedoch schwierig. Aus Noisy-les-Champs berichteten Teilnehmende und die bürgerliche Presse, nur 30–40 Menschen seien gekommen, und die linksliberale Zeitung Le Monde zitierte einen schwarzen Passanten: «Wen wollt ihr denn repräsentieren, es sind gar keine Afrikaner, Araber oder Asiaten unter euch?»
Die von der Zeitung selbst veröffentlichten oder im Internet kursierenden Bilder von dem Ereignis widerlegen diese Aussage zwar. Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass viele Einwohner aus den sozialen Unterschichten und solche mit Migrationshintergrund aufgrund ihrer bisherigen gesellschaftlichen Erfahrungen politischer Repräsentation grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen. Bislang schlägt dieses Misstrauen in den Trabantenstädten teilweise auch der Platzbesetzerbewegung entgegen.
In Paris hingegen ist es eher die Staatsmacht, die ihr zu schaffen macht. Seit Wochen häufen sich Polizeiprovokationen, am 11.April etwa schüttete die Bereitschaftspolizei CRS einen Riesentopf Suppe aus der Essenausgabestelle einfach in die Gosse. Am folgenden Abend fiel auch die Straßenbeleuchtung rund um den Platz zeitweilig völlig aus; das Pariser Rathaus behauptete, die Verdunkelung gehe auf eine Panne zurück.
Die Staatsmacht möchte vor allem festere Aufbauten auf dem Platz wie die «Kantine», die Krankenstation oder die Lautsprecheranlage verhindern oder vertreiben. Der Parteichef der regierenden Sozialdemokratie Jean-Christophe Cambadélis erklärte, «um einen Rahmen zu wahren», brauche es «CRS debout», also wachende Bereitschaftspolizisten.
Eine Fortsetzung folgt garantiert…
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