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Fünf Dinge, die du über Katalonien wissen musst

Um was geht es eigentlich in Katalonien? Handelt es sich um einen Machtkampf zwischen den Herrschenden in Madrid und Barcelona oder um eine soziale Bewegung? Dürfen Linke die Unabhängigkeit der verhältnismässig reichen Region fordern? Und wieso ist das Thema aus den Medien verschwunden? Die wichtigsten Antworten.
 von Theo Vanzetti, BFS Zürich
Kürzlich fragte mich mein Vater, ob „die spanischen Politiker nicht Wichtigeres zu tun“ hätten, „als mit Schaukämpfen aus der Mottenkiste die Leute zu verarschen? Haben die europäischen Gesellschaften nicht dringendere Probleme?“
Ich musste zuerst schmunzeln. Ich konnte diese Frage zwar nicht einfach mit nein beantworten, doch ich hatte eine Rückfrage: Wird Politik ausschliesslich von Regierungschefs und Konsorten gemacht?
Gehen wir mal rein hypothetisch davon aus, dass Katalonien eine unabhängige Republik wird und vielleicht andere Teile des spanischen Staates ähnliche Wege einschlagen, was wiederum zu einer Art republikanischer Föderation auf der Iberischen Halbinsel führen könnte. Was würde das genau für Katalonien bedeuten? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, müssen erst andere Fragen zur aktuellen Situation in der widerständigen Region beantwortet werden. Dies versucht der hier vorliegende Artikel.
Als Betrachtungsrahmen soll hier Bertolt Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ dienen. Stellen wir uns doch vor, Brecht würde dieses Gedicht erst in 200 Jahren, nach dem erfolgreichen Aufbau einer katalanischen Republik, schreiben:
Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken
herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon –
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische
Mauer fertig war
Die Maurer? Das große Rom
Ist voll von Triumphbögen. Über
Wen
Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene
Byzanz
Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem
sagenhaften Atlantis
Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang
Die Ersaufenden nach ihren Sklaven.
Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg.
Wer
Siegte außer ihm?
Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlte die Spesen?
So viele Berichte.
So viele Fragen.
Was hätte Brecht wohl über Katalonien geschrieben?

1. Was ist die Vorgeschichte des Konflikts und welche Rolle spielten soziale Bewegungen darin?

Ich kann nachvollziehen, dass bei vielen Leuten das Bild entsteht, es würde in Katalonien derzeit um einen Machtkampf zwischen den Eliten aus Madrid und denjenigen in Barcelona gehen. Schliesslich berichten die meisten Medien nach dieser Erzählweise. Sie berichten detailliert darüber, was der entmachtete Präsident Puigdemont tut und unterbeleuchten die Massenproteste auf Kataloniens Strassen. Während Puigdemont derzeit in Brüssel ist, befindet sich die Hälfte seines Kabinetts in spanischer Haft. Ihnen drohen bis zu 25 Jahren Gefängnis.[1] Die Tatsache, dass Katalonien rund einen Viertel des spanischen Bruttoinlandprodukts produziert sowie die landesweit tiefste Arbeitslosenquote hat führt dazu, dass das Verhältnis Kataloniens zum Zentralstaat komplexer ist, als jenes einer klassischen Kolonie (wie früher Algerien) zur reicheren Kolonialmacht (Frankreich). Doch in den letzten Jahren hat sich die Situation in der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung zu Gunsten der Linken entwickelt, die sich von der gesellschaftlichen Basis aus organisiert. Bereits nach Francos Tod waren Massenproteste der Grund gewesen, weshalb die spanische Verfassung von 1978 – jenes undemokratische Gesetzeskonstrukt, welches der Zentralregierung nun die Absetzung der katalanischen Regierung erlaubte – durch ein Autonomiestatut für Katalonien ergänzt wurde. Es ging den (post-)franquistischen Eliten darum, in Katalonien den sozialen Frieden zu wahren. Es gab damals schon genug Unruhe im Baskenland, welche die Union des Königreiches gefährdete. Madrid behielt aber trotz des Autonomiestatuts die Hoheit über die katalanischen Finanzen und andere Schlüssel staatlicher Macht. 2006 einigte sich schliesslich die damalige katalanische Regierung mit der sozialdemokratischen Zentralregierung in Madrid auf eine Erweiterung des Autonomiestatuts. Diese scheiterte aber an einer Klage vor dem Verfassungsgericht, welche der heutige spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy vom Partido Popular einreichte. 2010 wurden daher die wichtigsten Artikel des neuen Autonomiestatuts aufgehoben.

2. Welche Rolle spielt Spaniens faschistische Vergangenheit?

Diese Tage wird Argentinien dafür gelobt, den Verbrecher*innen aus der Militärdiktatur von 1976-1983 aus eigenen Stücken den Prozess gemacht zu haben. Dass dies im spanischen Staat genauso nötig wäre, hört man leider selten. Denn der derzeit regierende Partido Popular ist die Nachfolgepartei des Franquismus und präsentiert teilweise sogar offen ihren Stolz auf diese Vergangenheit. Ein spanischer Minister warnte vor einigen Wochen Puigdemont, er solle aufpassen was er tue, sonst ende er so wie LLuis Companys, der katalanische Präsident, der 1934 ebenfalls die Unabhängigkeit von Spanien ausrief. Dieser wurde nach dem spanischen Bürgerkrieg in Frankreich von der Gestapo gefasst, ausgeliefert und vom Franco-Regime hingerichtet. Laut der WOZ stammen 80 Prozent aller Regierungsmitglieder aus Familien hoher Funktionär*innen des Franco-Regimes.[2]
Vor einiger Zeit interviewte ich einen Katalanen, der im Barcelona der 1970er Jahre aufwuchs. Er sagte mir: „Du wurdest damals nur schon verdächtigt, weil du Katalane warst. Wenn du auch noch jung warst, warst du definitiv verdächtig.“ Ähnliches hört man, wenn man mit baskischen Aktivist*innen spricht, denen es zeitweise nicht einmal gestattet war, sich mit mehr als 10 Leuten zu versammeln. Der spanische Staat hat am 1. Oktober 2017, dem Tag des Referendums gezeigt, dass er nach wie vor bereit ist, mit aller Brutalität gegen politische Gegner*innen vorzugehen. Es handelt sich somit nicht um einen ‚aufgewärmten’ Konflikt aus der Mottenkiste. Der Konflikt ist auch aufgrund von Spaniens faschistischer Vergangenheit brandheiss.

3. Wie setzt sich die jetzige Unabhängigkeitsbewegung zusammen?

Die jetzige Unabhängigkeitsbewegung setzt sich – vereinfacht gesagt – aus zwei Lagern zusammen. Einerseits Puigdemonts Wahlbündnis Junts pel Sí, bestehend aus der rechtsliberalen PDeCAT (früher Convergència) und der katalanischen Sozialdemokratie ERC, welche nicht mit der pro-spanischen sozialdemokratischen Partei (PSC in Katalonien, PSOE in Spanien) zu verwechseln ist. Die PDeCAT verfolgte bis 2015 einen Kurs, den man wie folgt skizzieren kann: Autonomie ja, Unabhängigkeit nein (wegen der Binnenmärkte, der EU und anderem), viel Brimborium um die katalanische Kultur, um sich als Nation zu legitimieren, und vor allem eines: Klientelismus und Korruption zugunsten der Reichsten. Insofern kann man sagen, dass der ehemalige katalanische Präsident Artur Mas (2012-2015) von der Convergència ungefähr gleich wenig der Freund der Lohnabhängigen ist wie Mariano Rajoy und sein Partido Popular.
Das zweite Lager wird angeführt von der Candidatura d’Unidad Popular (CUP), einem Wahlbündnis der radikalen Linken, welches seit den 1980er Jahren Kommunalpolitik betreibt und seit den katalanischen Parlamentswahlen 2015 rund 8% der Mandate hält. Soweit man es aus der Ferne beurteilen kann, hat die CUP das damit verbundene Wachstum ‚überlebt‘, hat sich keine Korruptionsskandale zu schulden kommen lassen und funktioniert basisdemokratisch. Die CUP stellt eine Verbindung dar zwischen dem Druck, der auf der Strasse ausgeübt wird und den Mandaten im Parlament. Mit Druck von der Strasse meine ich die seit einigen Jahren regelmässigen Demonstrationen mit hunderttausenden, wenn nicht über einer Million Teilnehmer*innen, die beiden Generalstreiks, die am 3.10. und 8.11. die katalanischen Fernstrassen lahmlegten und die Komitees zur Verteidigung des Referendums CDR (jetzt …zur Verteidigung der Republik). Die CDR haben das Unabhängigkeitsreferendum vom 1.10. de facto durchgeführt und die Wahllokale gegen die spanische Polizei verteidigt. Die Regierung Puigdemont gab lediglich ihren Segen dazu. Die CUP konnte seit den Wahlen 2015 das Zünglein an der Waage spielen, weil PDeCAT und ERC alleine kein absolutes Mehr hatten. So musste beispielsweise wegen der CUP der zutiefst korrupte Artur Mas abtreten. An seine Stelle rückte der etwas weniger rechte Carles Puigdemont.
Weiter gibt es in der katalanischen Linken noch Catalunya en Comú und PODEMOS (in Katalonien PODEM). CatComú ging aus Basisgruppen zur Verhinderung von Zwangsräumungen durch die Wirtschaftskrise hervor und stellt derzeit die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau. Jedoch scheint CatComú in dieser Rolle etwas gefangen, da Colau nicht die Kompetenz hat, um wirklich etwas auszurichten. Die Position von PODEM und PODEMOS ist hingegen sehr kompliziert. Viele in PODEM sind für die Unabhängigkeit, allen voran die Gruppe Anticapitalistas, welche PODEMOS mit aufgebaut hat. Doch die offizielle, spanienweite Parteilinie lautet Neutralität. Aber es ist ein offenes Geheimnis, dass der PODEMOS-Chef Pablo Iglesias es sich nicht mit der madrilenischen Elite verscherzen möchte. Deshalb hat Iglesias kurzerhand den kritischen Chef von PODEM in Katalonien, Albano Dante Fachín, abgesetzt.

4. Welche Rolle spielt die Basisbewegung? Treibt sie die PDeCAT und die ERC vor sich her?

Nun will ich auf die Frage meines Vaters zurückkommen, ob die Politiker*innen „nichts Besseres zu tun“ hätten. Rajoy, Santamaria, Mas und vielleicht auch Puigdemont könnte man das vorwerfen. Genauso den Herren und Damen Lindner, Merkel und Schulz mit ihrer Sondierungs-Tragikomödie in Deutschland. Für den Partido Popular geht es um den Kern seiner ideellen Berechtigung: die Union des spanischen Königreiches. Die PDeCAT hat ein Problem: Früher war sie eine wichtige Unternehmer*innenpartei in Katalonien. Durch den Aufschwung der sozialen Bewegungen (nicht zuletzt durch die Wirtschaftskrise) hatte die PDeCAT nach den Parlamentswahlen von 2015 zwei Möglichkeiten: Keine Regierungsbeteiligung, oder sich mit der Bündnispartnerin ERC auf eine Minderheitsregierung mit Zustimmung der CUP einzulassen. Man kann feststellen, dass Puigdemont mit dem Referendum und dem Ausrufen der Republik viel gemacht hat, was er, oder zumindest grosse Teile seiner Partei und seines Klientels gar nicht wollten. Denn sie werden von der Basisbewegung und der CUP vor sich hergetrieben. Ein Teil der Grossbourgeoisie hat sich längst von der PDeCAT abgewandt. Zum Beispiel sind zwei wichtige Banken aus Katalonien weggezogen, da sie Unsicherheit befürchteten. Was bleibt der PDeCAT in dieser Situation? Ihre kleinbürgerliche Basis. Doch wenn sich die PDeCAT gegen den Unabhängigkeitsprozess stellt, wandert diese Basis zur ERC ab.

5. Wie lange bleibt das „Window of opportunity“ noch offen?

Als Resumé bleibt zu sagen, dass eine katalanische Republik nicht a priori mehr soziale Gerechtigkeit bringt als die derzeitige parlamentarische Monarchie mit ihrem diktatorischen und faschistischen Erbe. Die Frage ist: Welche Republik wollen die Menschen in Katalonien? Viele sind für die Unabhängigkeit, weil die Erfahrung zeigt, dass mit dem spanischen Staat garantiert nicht mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu haben sind. Doch was käme nach der Ausrufung der Unabhängikgeit? Was ist mit allen Lohnabhängigen in Katalonien, die aus Andalusien, Madrid, Nigeria, Ecuador usw. stammen? Es liegt an der Basisbewegung, die katalanische Gesellschaft zu gestalten.
Manche sprechen momentan von einem „window of opportunity“. So wie es dies zum Beispiel in der ersten Jahreshälfte 2015 in Griechenland gab. Doch man weiss nicht so genau, wann sich das Fenster wieder schliessen wird, und ob es überhaupt noch offen ist. Am 21.12. wird auf Befehl von Madrid gewählt. Die Katalan*innen nehmen dies nur widerwillig hin, doch alle, auch die CUP, rufen zur Teilnahme an den Wahlen auf, da man befürchtet, dass sonst Madrid-hörige Kräfte das Rennen machen. Niemand weiss, was nach der Wahl passiert. Rajoy kann bei einer möglichen Wiederwahl der Unabhängigkeitsparteien keinen Rückzieher machen, wenn er seine politische Karriere fortzusetzen möchte.
Zur Frage des relativen Reichtums Kataloniens im Vergleich zu Südspanien bleibt zu sagen, dass riesige Summen im Sumpf der Korruption versinken, in welchen praktisch alle Parteien involviert sind. Allen voran natürlich der Partido Popular, gefolgt von der spanischen Sozialdemokratie PSOE. Auf jeden Fall ist es nicht das Motiv „starker Norden will überflüssigen Süden loswerden“, welches wir von der Lega in Italien kennen. Sondern man hört eher das Argument, dass man sich mit den Lohnabhängigen im ganzen spanischen Staat vereinen solle, um die korrupten Eliten loszuwerden, mit der Monarchie zu brechen und endlich mit der Aufarbeitung des Franquismus zu beginnen.
Fussnoten:
[1] Während dem Verfassen dieses Textes hat ein spanisches Gericht entschieden, dass sechs von acht Minister*innen auf Kaution freikommen. In Haft bleiben der Vize-Präsident Oriol Junqueras und der Innenminister Joaquim Forn sowie Jordi Sánchez und Jordi Cuixart, die beiden Vorsitzenden der zivilgesellschaflichen Organisationen ANC und Òmnium Cultural.
[2] https://www.woz.ch/-80c1

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