In den New Yorker Bezirken Bronx und Queens hat die 28-jährige Sozialistin Alexandria Ocasio-Cortez überraschend die Vorwahlen zur Bestimmung der Kandidat*in der Demokratischen Partei für den US-Kongress gewonnen. In den USA ist das System der politischen Parteien grundlegend anders geregelt als in Europa. Eine Partei ist keine geschlossene Einheit und hat weniger Einfluss auf ihre Kandidaten. Wer für eine Partei kandidieren darf, wird in Vorwahlen bestimmt und jede wählbare Person kann sich egal für welche Partei zur Wahl stellen. In so einer Vorwahl hat nun Ocasio-Cortez gewonnen und da der Distrikt mehrheitlich demokratisch wählt, geht man davon aus, dass sie wohl ihren republikanischen Gegner schlagen wird. Für die Linke stellt sich nun die strategische Frage, ob die Demokratische Partei und ihre Kandidant*innen ein Mittel darstellen, um der Rechtsentwicklung in den USA unter Trump Einhalt zu gebieten. (Red.)
von Dorian B.*; aus socialistworker.org
«Es gibt eine populäre sozialistische Bewegung in den USA», ist ein Satz, von dem ich nie dachte, dass ich ihn 2018 schreiben würde, als ich vor fünf Jahren als Sozialist aktiv wurde. Damals gab es zwar eine breite politische Radikalisierung, aber keine unmittelbaren Anzeichen einer massenhaften sozialistischen Organisation am Horizont.
Die Bernie Sanders-Kampagne in der Demokratischen Partei 2015/2016 änderte das alles. Sanders knüpfte an die seit über einem Jahrzehnt wachsende politische Radikalisierung an und verhalf ihr zu einer kohärenten Vision: dem Sozialismus, einem immer noch ungenau definierten Projekt zur Transformation der Gesellschaft, welches aber die Arbeiter*innenklasse in den Mittelpunkt stellt und ihre gemeinsamen Kämpfe zu einem vereint.
Für bereits engagierte Sozialist*innen war dies ein großer Durchbruch. Ich erinnere mich an die Teilnahme an einer Sanders-Kampagne in der Bronx und den Verkauf der Printausgabe der Zeitung „Socialist Worker“. Nur verkauften sich die Exemplare an diesem Tag im Grunde selbst. „Sozialistischer Arbeiter! Hey, ich bin ein sozialistischer Arbeiter“, sprach mich eine Person auf die Zeitung an.
In einem Land, dessen rechter Populismus eine einzigartig feindliche Kultur gegenüber der sozialistischen Politik aufgebaut hat, waren und sind diese Veränderungen schwindelerregend.
Anfänge einer neuen Bewegung
Damals war mir nicht bewusst, dass sich hier die Anfänge einer neuen Bewegung abzeichneten. Nach Sanders außerordentlichem Erfolg in den Vorwahlen [zur Präsidentschaftskandidatur der Demokratischen Partei] blühte eine sozialistische Organisation – die Democratic Socialists of America (DSA) – auf.
Tausende und Abertausende von sich radikalisierenden Menschen wollten ihre neu entdeckten sozialistischen Ideen in die Tat umsetzen. Sie schlossen sich einer Organisation an, die sich eng mit Sanders‘ Projekt identifizierte, und kamen in noch größerer Zahl, als die Trump-Katastrophe das Land traf.
Seitdem ist die DSA weiter gewachsen – vor kurzem hat sie die 40’000er-Marke überschritten – und erzielte in mehreren Bundesstaaten Erfolge bei der Wahl von Sozialist*innen. Zuletzt im hochkarätigen demokratischen Primärwettbewerb für New Yorks 14. Kongressbezirk in der Bronx und Queens, in dem Alexandria Ocasio-Cortez den Amtsinhaber Joe Crowley, einen der mächtigsten Demokraten im Kongress, besiegte.
Dramatische Veränderungen
Diese dramatischen Veränderungen können schwer zu verarbeiten sein. Seit Jahrzehnten sind die Sozialist*innen nicht in der Lage, ein Massenpublikum zu erreichen und eine wahrnehmbare Organisation aufzubauen. Und jetzt, plötzlich, haben sie genau das getan. Ein Teil des Grundes, warum es für mich schwierig war, sich mit dieser Veränderung auseinanderzusetzen, ist, dass ich für mich selbst immer davon ausgegangen bin, dass die Demokratische Partei so monolithisch ist, dass sie niemals als Mittel zur Förderung eines neuen politischen Projekts, geschweige denn eines sozialistischen, eingesetzt werden könnte.
Die Demokratische Partei ist ein „Friedhof der sozialen Bewegungen“, schloss ich zu Recht aus der Geschichte der populistischen Arbeiter- und Bürgerrechtsbewegungen der letzten zwei Jahrhunderte. Aber von 2016 bis 2018 hat der kleine linke Flügel der Demokratischen Partei tatsächlich als Brutkasten gedient, als Wiege einer neuen sozialistischen Bewegung.
„Friedhof der sozialen Bewegungen“
Das soll nicht heißen, dass die Partei nicht wieder zum Friedhof wird (hoffentlich nicht!), sondern dass die Widersprüche in ihr und zwischen der Parteiführung und ihrer Basis zu einem sozialistischen Aufschwung in dieser Zeit beigetragen haben.
Um es so einfach wie möglich auszudrücken: Bernie Sanders hat entscheidend dazu beigetragen, den Sozialismus wieder populär zu machen, indem er als Demokrat kandidierte, mehrere andere haben das gleiche auf anderen Regierungsebenen getan, und eine politische Einheit, die DSA hat diesem neuen Bewusstsein einen organisatorischen Ausdruck gegeben.
Dies alles wäre zwar nicht möglich gewesen ohne die längerfristige politische Radikalisierung, die Millionen zu alternativen Formen der Politik und des Protestes gedrängt hat. Aber ebenso wahr ist, dass es in den USA keine grössere sozialistische Organisation geben würde, wenn Bernie Sanders nicht als Demokrat kandidiert hätte.
Seitdem Crowley von der kämpferischen Aktivistin Ocasio-Cortez als Kandidatin verdrängt wurde, bereitet sich die Führung der Demokratischen Partei darauf vor, die sozialistische Bedrohung mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen. Und die Parteimaschine ist mächtig – so mächtig, dass diese neue sozialistische Bewegung entweder zerstört oder stark zurückgeworfen wird, wenn sie nicht in der Lage ist, aus dem Gefüge der Demokratischen Partei auszubrechen und eine unabhängige Kraft zu schaffen.
Die Arbeiter*innenklasse braucht ihre eigene Partei
Ein Grundprinzip der sozialistischen Organisation ist, dass die Arbeiter*innenklasse eine eigene politische Partei braucht, um dieses System erfolgreich zu bekämpfen. Dieses Prinzip gilt auch heute noch genauso wie in den Jahren 1968, 1918 und 1868.
Die Frage, die sich uns derzeit stellt, ist: Wie können wir uns als Sozialist*innen organisieren, um sicherzustellen, dass sich die neue sozialistische Bewegung – die heute durch und in Verbindung mit den Kandidat*innen der Demokratischen Partei wächst – zu einer neuen Partei entwickelt, die von Arbeiter*innen statt von Kapitalist*innen kontrolliert wird? Mit welchen Strategien und Taktiken können wir dazu beitragen, dass dies geschieht?
Vieles davon wird durch einen Kampf außerhalb der Wahlarena, durch eine Ausweitung der Streikbewegung, die von den Lehrer*innen in diesem Frühjahr so brillant initiiert wurde, und durch eine Intensivierung verschiedener Proteste geschehen müssen. Ebenso wird es Anstrengungen brauchen, um Organisationen wie die International Socialist Organization (ISO) zu entwickeln, die eine langfristige Vision und Methoden für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft vorlegen können. All diese Arbeit muss eine Verknüpfung mit Wahlkomponenten haben.
Niemals als Demokrat kandidieren
Eine Antwort auf die Frage der Parteipolitik in unserer Wahlstrategie ist: „Niemals als Demokrat kandidieren und niemals für demokratische Kandidaten stimmen oder diese unterstützen, weil keine sozialistische Bewegung so aufgebaut werden kann.“ Das Problem bei dieser Antwort ist, dass sie auf einer Prämisse beruht, die sich in den letzten zwei Jahren eindeutig als falsch erwiesen hat. So entsteht vor unseren Augen eine sozialistische Bewegung.
Eine zweite Antwort ist, alle sozialistischen und werktätigen Kämpfer*innen zu unterstützen, unabhängig davon, für welche Partei sie kandidieren, und gleichzeitig hartnäckig in unserer Bewegung zu argumentieren, dass unser Ziel sein muss, eine neue eigene Partei zu gründen – indem wir Aktivist*innen gewinnen, die heute als Unabhängige kandidieren, und indem wir Sozialist*innen innerhalb der Demokratischen Partei für unsere Perspektive gewinnen.
Mit anderen Worten, wir streiten weiterhin über die Notwendigkeit der Unabhängigkeit, und wir versuchen, Menschen zu gewinnen und zu unterstützen, um bei jeder Gelegenheit unabhängig zu laufen, aber wir halten unsere Unterstützung nicht zurück, wenn sich Sozialist*innen als Demokraten aufstellen lassen. Weil wir erkennen, dass sie heute eine wichtige Rolle beim Aufbau sozialistischer Organisationen spielen (was möglicherweise dazu beitragen kann, die Bedingungen für eine neue Partei in der Zukunft zu fördern).
Natürlich birgt diese zweite Antwort das Risiko, dass unsere Bemühungen nicht erfolgreich sein werden und dass die Demokratische Partei einen Weg finden wird, unser Wachstum auszumerzen, zu teilen und zu neutralisieren, bevor wir in der Lage sind, den Grad an Stärke zu erlangen, den wir brauchen – in Verbindung mit ausserelektoralen Kämpfen – um eine unabhängige Partei zu bilden.
Aber die erste Antwort birgt auch ein großes Risiko in sich: dass unser jetzt widerlegter Glaube, dass der Sozialismus niemals in irgendeiner Form durch die Demokratische Partei aufgebaut werden kann, uns dazu bringen wird, gegen einen Aufbau insgesamt zu sein.
Können wir gegen Sozialist*innen stimmen?
Wenn sich Tausende mobilisieren lassen, um Sozialist*innen zu wählen – und um Organisationen aufzubauen mit dem Einfluss, welchen sie sich durch diese Wahlen verschaffen – können wir dann mit gutem Gewissen gegen sie stimmen? Können wir unsere Unterstützung verweigern, wenn sie als Demokraten kandidieren, sogar, wenn sie sich positiv auf unseren gemeinsamen Kampf auswirken? Wenn sie zum Aufbau einer sozialistischen Organisation beitragen, welche wir seit fast drei Generationen erfolglos versuchen auf die Beine zu stellen?
Das ist eine schwierige Frage, die wir so schnell wie möglich beantworten müssen, da die politische Entwicklung der sozialistischen Bewegung weitergeht.
Es ist keine Frage des Prinzips oder unseres politischen Grundprogramms. Für diejenigen, die glauben, dass wir eine neue Partei aufbauen müssen – und dass dieses gesamte System durch die Massenorganisation der Arbeiter*innenklasse überwunden werden muss – nichts, was diesen Prinzipien innewohnt, wird uns eine Antwort auf dieses konkrete Problem geben.
Die taktische Frage, vor der wir stehen, ist, was wir heute tun müssen, um das unabhängige Wachstum der neuen sozialistischen und Arbeiter*innenbewegung in den USA zu fördern. Die Taktik, die wir wählen, muss auf den Verlauf der Ereignisse reagieren, die sich von hier ergeben.
Allein die Behauptung, die Sozialist*innen müssten eine unabhängige Partei bilden, ein Argument, das absolut richtig ist, gibt uns keine vollständige Antwort auf diese Frage. Diese Behauptung legt das Problem offen und identifiziert das richtige Ziel, lässt aber den Weg zu diesem Ziel unter unseren gegenwärtigen Bedingungen undefiniert.
Ich freue mich darauf diesen Weg gemeinsam mit allen zu gehen, die das Projekt des „Socialist Worker“ teilen.
*Der Autor ist Aktivist der International Socialist Organization (ISO), welche die Zeitung „Socialist Worker“ herausgibt. In der ISO findet zur Zeit eine breite Debatte über die im Artikel aufgeworfenen Fragen statt. Der vorliegende Text wiederspiegelt also nicht die Meinung der gesamten Organisation.
Der Arikel erschien am 3. Juli 2018 auf socialistworker.org. Übersetzung und leichte Überarbeitung durch die Redaktion.
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