Nach monatelangem Hin und Her hat die Regierung von Präsident Emanuel Macron und Premierminister Édouard Philippe letzte Woche ihre Pläne für die Rentenreform konkretisiert. Wie zu erwarten war, stellt die Rentenreform einen massiven Angriff gegen zahlreiche soziale Errungenschaften dar. Es wurde deutlich, dass die Regierung zu einem entscheidenden Schlag gegen die Gewerkschaften ansetzt. Doch der Rückhalt für die Reform ist gering. Nachdem sich herausstellte, dass der Hochkommissar für die Rentenreform, Jean-Paul Delevoye, seine Tätigkeit für die Versicherungslobby verschwiegen hatte, musste er am 16. Dezember 2019 seinen Posten räumen. Der heutige 17. Dezember 2019 und die folgenden Tage werden entscheidend sein für die Verbreiterung der Streikbewegung, die seit zehn Tagen versucht die Gegenreform der Regierung zu stoppen. (Red.)
von Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA); aus npa2009.org
Die Ankündigungen von Premierminister Édouard Philippe am vergangenen Mittwoch haben nur das bestätigt, was wir bereits wussten. Nun übt die Regierung Druck auf die Bewegung aus, um sie gegen Ende dieser Woche zu stoppen. Doch nach dem Rücktritt von Delevoye weiss die Regierung nicht, welchen Ausweg aus dem Konflikt sie nehmen soll. Das müssen wir ausnutzen!
Wer profitiert von der Rentenreform?
Bürgermeister, Parlamentarier, Minister unter Chirac, Mitglied des Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrates… Der Lebenslauf von Jean-Paul Delevoye, Hochkommissar für die Rentenreform, lässt sich sehen. Aber er hatte offensichtlich einige «Gedächtnislücken». Zunächst vergass er seine Funktion als Direktor am Institut de formation de la profession de l’assurance [ein Ausbildungsinstitut für Versicherungen, Anm. d. Red.], dann seinen Sitz im Verwaltungsrat der Fondation SNCF [Stiftung der Eisenbahngesellschaft, Anm. d. Red.] und schliesslich etwa zehn weitere Mandate, wie die Zeitung Le Monde berichtete.
Doch dieser Lebensweg eines kapitalistischen Gefolgsmannes, der zunächst in der RPR [konservative Partei, die 2002 in die UMP aufging, Amn. d. Red.] und der UMP war und nun ein überzeugter Macron-Anhänger ist, ist beispielhaft. Die Figur von Delevoye zeigt perfekt das Wesen der aktuellen Rentenreform: den Angriff auf das umlagefinanzierte Rentensystem und alle Formen der Solidarität. Ziel dieser Reform ist es, dass die grossen Versicherungsgesellschaften teure Zusatzrenten bereitstellen und so am Rentensystem Geld verdienen können. Delevoyes Rücktritt ändert nichts an dem Projekt, zu deren Ausarbeitung er wesentlich beigetragen hat. Schade nur, dass seine Reform nicht gleich mit ihm untergegangen ist.
Die Regierung will einen Showdown
Letzten Mittwoch bestätigten die Ankündigungen von Édouard Philippe, dass das sogenannte «universelle System» zu einer Kürzung der Renten, einer Verlängerung der Beitragszeit und einer «Harmonisierung» nach unten inkl. der Zerstörung von Tarifverträgen (das sogenannte Ende der „Sonderregelungen“[1]) führen wird.
Die Regierung hörte nicht auf die vor etwa zehn Tagen begonnene Streikbewegung. Nun fordert sie aber die Angestellten der SNCF und der RATP [Pariser ÖV, Anm. d. Red.] auf, den Streik bis zu den Weihnachtsfeiertagen einzustellen. Natürlich ist dieser Streik für alle schwierig, nicht zuletzt für die Streikenden, die Geld verlieren. Aber die alleinige Verantwortung für diesen Streik liegt bei der Regierung, die versucht, einen von der Mehrheit abgelehnten Gesetzentwurf durchzusetzen. Denn selbst Gewerkschaften, die am offensten für den sogenannten «sozialen Dialog» sind, lehnen die Reform ab [mittlerweile ruft sogar die grösste Gewerkschaft Frankreichs, die «reformistische» CFDT, zur Demonstration am 17. Dezember 2019 auf, Anm. d. Red.].[2]
Für den Rückzug der Rentenreform müssen wir den Streik intensivieren!
Bisher konnten die Streikenden die Spaltungsmanöver der Regierung vermeiden, die darauf abzielten, die Bewegung zu marginalisieren. Die Regierung spielte die Angestellten des allgemeinen Rentensystems gegen diejenigen der sogenannten Sonderregimes aus, Männer gegen Frauen und vor allem ältere Lohnabhängige, die nicht von der Reform betroffen sein werden, gegen junge Menschen. Wir müssen aber weiter machen, und zwar alle zusammen!
Der nationale Streiktag vom Dienstag, 17. Dezember 2019 verspricht massiv zu werden. Er muss es ermöglichen, einen Schritt in Richtung eines Generalstreiks zu machen. Wir müssen die Streikbewegungen im Verkehrssektor konsolidieren, die Streiks im Bildungsbereich (wo die wenigen Tage vor den Schulferien durch Streiks und Mobilisierung gekennzeichnet sein müssen) oder dem Gesundheitsbereich ausweiten und Streiks in neuen Sektoren organisieren. Mit Delevoyes Rücktritt ist die Regierung geschwächt. Wir haben die Möglichkeit, die Rentenreform und Macron zu stürzen.
Übersetzung durch die Redaktion.
[1] Das gesetzliche Renteneintrittsalter liegt in Frankreich bei 62 Jahren – allerdings nur, wenn man vorher 41,5 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hat. Das ist die Anzahl der Beitragsjahre, die für eine volle Rente erforderlich sind. Die Regelung gilt für Männer und Frauen gleichermaßen. Hat jemand nicht den gesamten Zeitraum in die Rentenkasse eingezahlt, kann er mit vollen Bezügen erst ab 67 in Rente gehen. Diese Regelung gilt ab 2023. Neben dieser allgemeinen Regelung gibt es nach wie vor Sonderregelungen für rund 100 Berufsgruppen. So können etwa Lokführer, Beschäftigte des staatlichen Stromriesen EDF und andere staatliche Bedienstete vielfach schon ab 55 Jahren in Rente gehen. 42 verschiedene staatliche Pflichtversicherungen will Macron nun in einer einzigen Rentenkasse «bündeln», d.h. die Sonderregelungen abschaffen. [Red.]
[2] Im Oktober beschossen die folgenden vier Gewerkschaften, am 5. Dezember 2019 einen «ersten berufsgruppenübergreifenden Streiktag» zu organisieren: 1. CGT – der historisch älteste der fünf staatlich anerkannten Gewerkschaftsdachverbände und noch immer relativ kämpferische Verband; 2. die Union syndicale Solidaires – ein nicht offiziell als Dachverband anerkannter Zusammenschluss linker und linksalternativer Basisgewerkschaften, die meist unter der Bezeichnung SUD firmieren; 3. die FSU – ein Zusammenschluss von Gewerkschaften im Bildungswesen; 4. Force Ouvrière (FO) – der drittstärkste Dachverband unter den französischen Gewerkschaften. [Red.]
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