Wie überall auf der Welt dominiert auch in Chile die sich rasch ausbreitende Corona-Pandemie die Schlagzeilen. Die Ausbreitung des Virus in dem Land kommt allerdings zu einem besonderen Zeitpunkt. Erst im Oktober letzten Jahres wurde die neoliberale Ordnung Chiles durch einen Volksaufstand in ihrem Kern erschüttert. Nirgendwo auf der Welt scheinen Klassenkampf und der Kampf gegen Covid-19 daher in einer so engen Beziehung zu stehen wie in Chile.
Interview mit Xavier Pineda; aus nobordersnews.org
Im vergangenen Herbst gehörten Generalstreik, Besetzungen und Massenmobilisierungen zur Tagesordnung. Dadurch in die Ecke gedrängt, sahen sich die etablierten Parteien gezwungen, einem für April 2020 geplanten nationalen Verfassungsreferendum zuzustimmen. Denn die aktuelle Verfassung ist ein Überbleibsel aus der Pinochet-Diktatur. Und erst vor kurzem, am 8. und am 9. März 2020 ging eine Million Frauen auf die Strasse, um soziale und wirtschaftliche Gleichheit zu fordern. Nun hat das Coronavirus diesen Kampf in Quarantäne gezwungen. Die Regierung verschob aufgrund der Pandemie auch das Referendum – ansonsten blieb sie aber grösstenteils untätig.
No Border News: Wie verläuft die Ausbreitung der Corona-Pandemie in Chile?
Javier Pineda: Die Pandemie hat sich in Chile schnell ausgebreitet. Am 3. März hatten wir die erste Ansteckung, und das Virus hat schnell verschiedene Regionen des Landes erreicht. Inzwischen haben wir ähnliche Wachstumsraten wie in Spanien. Bis zum 22. März (19. Tag) gab es in Chile 632 bestätigte Covid-19-Fälle, während in Spanien nach der gleichen Zeit 589 Infektionen nachgewiesen waren. Am 21. März wurde der erste Todesfall aufgrund von Covid-19 in Chile bekannt gegeben. Das Opfer war eine 83-jährige Frau, die in einer Arbeiter*innenstadt auf dem Land lebte, und sie starb in einem öffentlichen Krankenhaus, obwohl in den wohlhabenderen Quartieren zu diesem Zeitpunkt die Infektionsraten eigentlich höher waren.
Auch in Chile gibt es – wie in vielen anderen Ländern – derzeit einen Streit über die amtlichen Zahlen, die die Ausbreitung der Krankheit belegen sollen. Die vom Gesundheitsministerium erfassten Zahlen wurden von Ärzten angefochten, da die Methode, mit der sie erfasst werden, nicht öffentlich bekannt ist. Angesichts der Art und Weise, wie die Infektionen verfolgt werden, sei davon auszugehen, dass die offiziellen Zahlen wahrscheinlich dem tatsächlichen Stand um einige Tage hinterherhinken. Ausserdem sind auch die offiziellen Zahlen recht hoch, wenn man bedenkt, dass die Bevölkerung Chiles nur 18 Millionen Menschen beträgt, gegenüber 46,6 Millionen in Spanien.
Bislang wurde trotzdem noch keine nationale Ausgangssperre verhängt. Und die Schliessung von Beizen, Kasinos und Clubs wurde erst am vergangenen Donnerstag, dem 19. März (Tag 17), verfügt. Die Bundesbehörden wollten keine Ausgangssperre anordnen, sodass die Suspendierung von Schul- und Universitätsklassen auf Druck der lokalen Bürgermeister*innen erfolgte. Ebenso haben die Unternehmen, die Quarantänen verhängt haben oder deren Beschäftigte Heimarbeit leisten, dies auf Druck der Beschäftigten und nicht der Behörden getan. Wenn keine umfassende Ausgangssperre verhängt wird, werden wir daher ähnliche Zahlen wie in Spanien oder Italien oder sogar noch schlimmere zu sehen bekommen. Einzig zu einer nächtlichen Ausgangssperre konnte sich die Regierung schliesslich durchringen – als ob sich das Virus nicht auch am Tag ausbreiten würde.
NBN: War die Regierung auf die Krise überhaupt vorbereitet?
JP: Nein. Sie hat ausserdem beim Ausbruch der Pandemie gezögert und sich in vielem selbst widersprochen. Als erste Massnahme wurde zwar der Schulunterricht ausgesetzt. Diese Initiative kam aber von Uni-Rektoren und – wie erwähnt – von Bürgermeistern. Der Präsident verkündete schliesslich erst aufgrund des Drucks des Volkes die Schulschliessung im nationalen Fernsehen.
In dieser Woche wurde von gesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Organisationen mit deutlichen Mitteln eine „nationale Quarantäne“ eingefordert, um die Infektionsrate zu mindern. Doch die Regierung räumt den Profiten der Unternehmen weiter Vorrang vor unserem Leben ein.
Am Mittwoch, dem 18. März, erklärte der Präsident schliesslich doch auf nationaler Ebene den Katastrophennotstand, was bedeutet, dass die Streitkräfte die Kontrolle über die öffentliche Ordnung auf nationaler Ebene übernehmen. Bis heute hat das Militär jedoch keine Massnahmen im Zusammenhang mit der Katastrophe ergriffen. Sie hat – wie sich auch der zuständige General für die Hauptstadt Santiago ausdrückte – nur die Aufgabe, „die öffentliche Ordnung zu schützen“. Es zeigt sich klar: Der Gesundheitsnotstand kann nicht durch das Militär gelöst werden.
NBN: Wie hat Ihr Gesundheitssystem auf die Krise reagiert?
JP: Unser öffentliches Gesundheitssystem wurde von der Regierung in den letzten Jahren abgebaut. Der Staat teilt seine Ausgaben zu gleichen Teilen zwischen öffentlichen Krankenhäusern – in denen mehr als 80 Prozent der Bevölkerung versorgt werden – und privaten Kliniken auf. Das ist tragisch, denn der Staat finanziert so die Gewinne der privaten Kliniken.
Das Gesundheitssystem ist auf diese Pandemie daher nicht vorbereitet. Die Zahl der verfügbaren Betten ist im Verhältnis zur Bevölkerung unzureichend. Das anhaltende Wachstum der Pandemie macht es dem öffentlichen und privaten Gesundheitssystem trotz aller Bemühungen unmöglich, adäquat darauf zu reagieren.
Die einzige Stärke des Systems sind die Menschen. Sie sind bereit, der Krise trotz der prekären Bedingungen, in denen sie sich befinden, zu begegnen. In einem Krankenhaus in der Stadt Talcahuano zum Beispiel begannen die Angestellten, aufgrund des Mangels an medizinischer Versorgung Masken zu dampfsterilisieren.
NBN: Wie war die offizielle politische Reaktion auf Covid-19 in Ihrem Land?
JP: Der rechte und konservative Sektor versuchte zunächst, Angst vor der Pandemie zu verbreiten. Als die Menschen begannen, das Thema ernst zu nehmen und die Schliessung von Arbeitsplätzen zu fordern, begann die Rechte jedoch, eine reaktionäre Haltung einzunehmen. Es gibt nur einige wenige rechte Bürgermeister, die sich auf Druck der Bevölkerung für eine totale Ausgangssperre ausgesprochen haben.
Die sozialdemokratische Seite hat wie immer gezögert. Sie fordert bestimmte Massnahmen, aber sie ist nicht bereit, eine totale Quarantäne zu unterstützen oder einen großen Teil der Wirtschaft lahmzulegen.
Die Parteien der linken Frente Amplio [zu Deutsch: breite Front] hingegen haben von Anfang an eine totale Ausgangssperre gefordert. Linke Organisationen haben sich hauptsächlich über soziale Bewegungen organisiert und einen präventiven Generalstreik vorgeschlagen, der auch „nationale Quarantäne“ und „nationaler humanitärer Streik“ genannt wurde. Ihr Motto: Die Gesundheit und das Leben der Familien sind wichtiger als die Profite der Firmen.
NBN: Wie haben die Gewerkschaften auf die Krise reagiert?
JP: Die Beschäftigten im Bildungswesen waren die ersten, die die Aussetzung des Unterrichts verlangten, und haben dieses Ziel am Sonntag, den 15. März, ja auch erreicht. Den Beschäftigten des öffentlichen Sektors gelang es immerhin, die Zahl der Schichten zu reduzieren, wodurch in den meisten Einrichtungen Personal freigestellt und die Arbeit auf die Erfüllung der wesentlichen Funktionen beschränkt wurde.
Die Beschäftigten im öffentlichen Gesundheitswesen stehen derweil an vorderster Front. Sie hielten und halten den Vormarsch des Coronavirus auf. Sie forderten daher eine stärkere Beteiligung an der Entscheidungsfindung darüber, wie der Pandemie begegnet werden soll, allerdings ohne grossen Erfolg, da die Regierung sich weigerte, auf sie zu hören.
Im Allgemeinen haben viele Gewerkschaften und Arbeitnehmer*innen Bedenken gegen die Pandemiemassnahmen geäussert und die Einstellung aller Aktivitäten gefordert, die nicht unbedingt notwendig sind. Es gab mehrere Streiks an Arbeitsplätzen, an denen es an Hygiene- und Sicherheitsmassnahmen mangelte. So streikten die Beschäftigten in öffentlichen Verkehrsmitteln und in mehreren Einkaufszentren.
NBN: Wie haben soziale Bewegungen auf die Krise reagiert?
JP: Soziale Bewegungen haben schnell die Initiative ergriffen. Wir hatten grosse Mobilisierungen, die im März begannen. Damals hatte die feministische Bewegung nach einem massiven Generalstreik am 8. und 9. März die Führung inne. Nach den ersten Ansteckungen beschlossen dieselben Volksorganisationen jedoch, zur Selbsthilfe aufzurufen, um der Pandemie zu begegnen, Menschenmassen zu vermeiden und den Schutz des Lebens an erste Stelle zu setzen.
So lancierte die feministische Koalition den “Streik für das Leben”. Unidad Social, ein Gremium, das unter anderem Gewerkschafts-, Studierende-, feministische, sozial-ökologische und Migrant*innenenorganisationen zusammenführt, rief ausserdem zu einem „humanitären Streik“ auf. Die indigenen Gemeinden wiederum haben einige Strassen blockiert, um Tourist*innen und Infizierte daran zu hindern, in Städte zu gelangen, in denen noch keine Fälle von Covid-19-Infizierten registriert wurden.
NBN: Gibt es Bestrebungen, Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, nationaler Gesundheitsversorgung, wirtschaftlichen Sofortmassnahmen für Arbeitslosengeld, Einstellung von Miet- und Schuldenzahlungen usw. zu stellen?
JP: Die Volksrevolte hat programmatische Forderungen zur Demontage des Neoliberalismus gestellt, wie z.B. die Gewährleistung sozialer Rechte für die gesamte Bevölkerung. Dies wäre umso wichtiger, werden doch die Auswirkungen der Zerschlagung des öffentlichen Gesundheitssystems durch die neoliberale Politik immer offensichtlicher. Die Krise offenbart die Prekarität derer, die nicht essen, wenn sie nicht arbeiten. Sie zeigt, wie der Staat den Firmen und nicht der Bevölkerung dient.
Die Notwendigkeit, das öffentliche Gesundheitssystem zu stärken, ist daher offensichtlich. Ebenso wichtig ist der Schutz der Arbeitsplätze. Entlassungen während der Quarantäne müssen verboten werden. Wir brauchen Subventionen für informelle und prekäre Arbeiterinnen und Arbeiter, und die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens beginnt sich langsam bei der Bevölkerung durchzusetzen. Wir müssen die Grundversorgung mit Strom und Wasser auch im Falle einer Nichtzahlung aufrechterhalten. Und es braucht ein Moratorium für die Zahlung von Schulden sowie ein Verbot von Verwaltungsgerichtsurteilen gegen die Verschuldeten während der Dauer der Pandemie. Schliesslich fordern wir eine staatliche Kontrolle des gesamten Gesundheitssystems und Massnahmen gegen das Horten von Nahrungsmitteln, Gesichtsmasken oder Desinfektionsgel.
NBN: Wie wird es nun in den nächsten Wochen weitergehen? Worauf kommt dies an?
JP: In Chile muss die Ansteckung mit Covid-19 vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Krise verstanden werden, die mit dem Volksaufstand im vergangenen Herbst begann – zwei Krisen, die durch eine jetzt unvermeidliche Wirtschaftskrise nur noch verschärft werden.
Die Regierung ist nicht in der Lage, dieser Krise zu begegnen. Wenn die Quarantäne vorbei ist, werden die Mobilisierungen wieder beginnen, da alle Probleme, die den Aufstand überhaupt erst ausgelöst haben, nicht gelöst sind. Darüber hinaus kann diese Frage, obwohl die Regierung das Verfassungsreferendum bis Mai 2021 verschoben hat, nicht unterdrückt werden.
Die kommenden Wochen werden entscheidend sein, um mit der Pandemie fertig zu werden und so viele Todesfälle wie möglich zu verhindern. Nachdem der Notstand vorbei ist, werden wir uns mit Entlassungen auseinandersetzen müssen, der Staat muss daran gehindert werden, die Kosten der Krise auf die Arbeiter*innenklasse abzuwälzen. Wir müssen dafür kämpfen, dass die Reichen für diese Krise zahlen. So müssen wir weiterhin für den Rauswurf des konservativen Präsidenten Sebastián Piñera kämpfen und gleichzeitig Forderungen wie die Erhöhung der Renten und des Mindestlohns erheben, um zu verhindern, dass die Bosse unser Leben noch prekärer machen. In den nächsten Wochen werden wir daher den Kampf gegen das Coronavirus mit dem Kampf gegen die inkompetente Regierung Piñera verbinden müssen.
Übersetzung und leichte Überarbeitung durch die Redaktion.
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